19. Juni 2017

Herausforderung Mobbing

Jedes zehnte Kind wird in der Schule ausgeschlossen, ausgelacht und fertiggemacht. Für die Basler Lehrerinnen und Lehrer ist das eine grosse Herausforderung. Doch es gibt Programme, um Mobbing zu stoppen. Man muss es nur wollen. 

Mobbingopfer erkranken häufiger an Depressionen, Bild: Hans-Jörg Walter
Gefangen in der Auslachklasse, Tageswoche, 19.6. von Andrea Fopp




Eine Primarschule im Baselbiet: Die Drittklässlerin Marisa ist am Mittag zu einem Geburtstagsfest eingeladen. Am Morgen bringt sie deshalb ein Geschenk für ihre Freundin mit. Als ihre Mitschülerinnen und Mitschüler das sehen, sagen sie zum Geburtstagskind: «Wenn Marisa kommt, kommen wir alle nicht.» 

Das Geburtstagskind lädt Marisa wieder aus. Die beiden Mädchen sind Nachbarinnen, sie spielen oft zusammen. Am Nachmittag sieht Marisa von daheim aus die anderen Kinder am Fest. Sie rufen: «Marisa, komm doch einmal rüber.» Als Marisa dort ist, sagen sie: «Aätschbätsch, mit dir wollen wir nicht spielen.» 

Marisas Kindheit ist voller Tränen. «Warum will niemand meine Freundin sein, was stimmt nicht mit mir?» fragt sie sich, wenn die Kinder wieder «blöde Kuh» rufen oder sie nicht beachten.

Schweizer gegen Ausländer ist nicht Mobbing

Was Marisa erlebt, ist Mobbing. Mobbing ist ein Modewort, heute nimmt man es schnell in den Mund: Basler Eltern vergleichen oft Schulhäuser, zählen die Quartiere auf, in denen es mehr Mobbing gibt. Eine oft gehörte These: je mehr Ausländerkinder, desto mehr Mobbing. 
Konflikte zwischen Nationen gibt es tatsächlich. «Die Schweizer fühlen sich als etwas Besseres, weil sie bessere Noten haben», erzählt ein Sekschüler. «Deswegen gab's auch schon Schlägereien.» Doch ein Streit zwischen Schweizern und, sagen wir, Kurden, ist kein Mobbing. Das ist ein Konflikt, einer gegen einen oder Gruppe gegen Gruppe. Früher gab es ähnliche Streitereien zwischen Realschülern und Gymnasiasten – die mit Bildungshintergrund gegen die ohne. Doch das sind «normale» Konflikte. 

Alle gegen einen, das ist Mobbing

Mobbing ist etwas anders: alle gegen eine, eine Clique, eine Klasse gegen ein Kind. Es wird von allen ausgelacht, angespuckt oder rumgeschubst. Und das nicht nur einmal, sondern systematisch, jede Woche und das über mehrere Wochen bis Monate. 

Gemäss einer Übersichtsstudie aus Deutschland wird jedes zehnte bis zwanzigste Kind gemobbt. Und sogar jedes fünfte Kind soll gemäss einer Schweizer Umfrage von letztem Jahr schon mal in den sozialen Netzwerken fertig gemacht worden sein. Ein Basler Seklehrer sagt: «Mobbing ist für mich eine grosse Herausforderung. Es passiert unter meiner Nase, ständig.» Und auch eine Sozialarbeiterin sagt: «Ich hatte so viele Fälle, ich kann sie gar nicht zählen.»

Es kann jedes Kind treffen. Lehrer und Schüler sagen zwar oft, das Opfer trage Mitschuld, es habe sich sonderlich oder besonders nervig verhalten. Die Entwicklungspsychologin Françoise Alsaker sagt etwas anderes. Sie hat Jahre lang Mobbing in Kindergarten und Schule erforscht und kam zum Schluss: «Jedes Kind kann Opfer werden.» Kinder, die gemobbt werden, unterscheiden sich häufig nicht von solchen, die nicht gemobbt werden.
Beim Opfer hinterlässt das Spuren. Gemäss einer britischen Studie erkranken Kinder, die gemobbt wurden, dreimal häufiger an Depressionen. Andere Studien bestätigen das Fazit. Und es hört mit der Kindheit nicht auf, auch als Erwachsene haben ehemalige Mobbingopfer häufiger Suizidgedanken und Angststörungen.

«Niemand mag mich»

Auch Marisa hat lange an ihrer Mobbingkindheit genagt. Sie ist jetzt Mitte 40, verheiratet und Mutter von drei Kindern. Jahrelang litt sie unter Selbstzweifeln und Depressionen. «Wenn du dauernd hörst, dass du nichts wert bist, glaubst du, dass du nichts wert bist.» Heute hat sie Freundinnen, nicht viele, aber gute. Doch wenn eine Freundin mal keine Zeit hat, fürchtet Marisa immer noch: «Die will sicher nicht mehr meine Freundin sein.»
Marisas Geschichte ist aber noch nicht zu Ende. Als ihre jüngere Tochter in den Kindergarten kommt, passiert es. Eines Nachmittags kommt sie weinend nach Hause gerannt: «Niemand mag mich, alle lachen mich aus und ich habe keine Freundin.» Am nächsten Morgen möchte Sandra nicht mehr in den Kindergarten. So geht es weiter, tagein, tagaus. Sandra wird ausgeschlossen, Sandra ist traurig. Während der ganzen Primarschulzeit.

Marisa sucht das Gespräch mit den Lehrern. Diese glauben, Sandra wäre ein bisschen dumm. Sie stellt so viele Fragen, sie fragt lieber fünf Mal nach, statt etwas falsch zu machen. Die Kinder sagen: «Warum tust du immer so blöd, du bist doch dumm», die Lehrer schicken sie in den Förderunterricht – trotz guter Noten.

Marisa versucht, ihrer Tochter Hoffnung zu geben, sie sagt: «Sandra, wenn du aus der Schule raus bist, wirst du Freundinnen haben. Es gibt auf dieser Welt Menschen, die nur darauf warten, eine Person wie dich kennenzulernen.»

Es gibt Lösungen

Wenn ein Kind jahrelang gemobbt wird, ist das eine Katastrophe. Doch heute gibt es Konzepte, wie man Mobbing in der Schule stoppen kann. Sie haben verschiedene Namen, funktionieren aber alle nach ähnlichem Prinzip: Schulleitungen und Lehrpersonen müssen das Mobbing ansprechen und klarmachen, dass sie es nicht tolerieren.

Klingt simpel?
Ist es nicht. Es geht darum, die Dynamik in der Klasse aufzubrechen. Mobbing funktioniert meist nach demselben System: Ein Anführer oder eine Anführerin hetzt gegen ein Kind, die anderen ziehen mit. Um das zu stoppen, muss man die Mitläufer dazu bringen, nicht mehr mitzumachen. Wenn es keine Mitläufer gibt, gibt es auch kein Mobbing.

Das funktioniert, wie Evaluationen zeigen. Schulen, die aktiv etwas gegen Mobbing tun, reduzieren es um 20 Prozent; je intensiver sie dran sind, desto besser die Resultate. Das deckt sich mit der Erfahrung von Lara Springer. Als Sozialarbeiterin an Basler Schulen unterstützt sie Kinder und Lehrpersonen in Mobbingsituationen. Aus Gründen der Schweigepflicht hat sie die Namen geändert, auch ihren eigenen.

Es liegt an der Klassenführung

In Basel gibt es zwar kein fest installiertes Antimobbingprogramm, das für alle Schulzimmer gälte, doch viele Lehrerinnen und Lehrer sind sensibilisiert und können sich bei Bedarf individuell Unterstützung von Fachpersonen holen. In jeder Primar- und Sekundarschule hat es Sozialarbeiter, ausserdem gibt es die Krisenintervention, den Schulpsychologischen Dienst oder die Präventionsstelle der Polizei.

Im Baselbiet ist es ähnlich. Lehrpersonen können sich bei Bedarf an den Schulpsychologischen Dienst wenden, er bietet Beratungen und Interventionen in betroffenen Klassen an. Ausserdem führt er Weiterbildungen für Schulleitungen und Lehrpersonen durch. «Wir unterstützen sie darin, ihre Klassenführung so anzupassen, dass Mobbing verhindert wird», sagt der Leiter des Schulpsychologischen Dienstes, Thomas Blatter.

Das setzt natürlich voraus, dass Lehrer oder Eltern realisieren, was vor sich geht, und dass sie handeln wollen. Wie man von Lehrerinnen und Lehrern hört, gibt es Kolleginnen und Kollegen, die das besser können als andere. Solche, die einen provozierenden Blick oder eine Stimmung in der Klasse richtig einschätzen und darauf zu reagieren wissen. Und solche, die wegen Plagereien nicht Deutsch ausfallen lassen möchten, um stattdessen die Schüler ins Gebet zu nehmen. Nicht jeder hat dieselben Fähigkeiten und setzt dieselben Schwerpunkte, das ist menschlich. Die meisten Lehrpersonen sind aber engagiert, und wenn etwas passiert, finden sie häufig eine Lösung.

«Du stinkst»

Schulsozialarbeiterin Springer weiss nicht mehr, wie viele Mobbingfälle sie begleitet hat, es waren viele. Zusammen mit den Lehrpersonen konnte sie die meisten lösen.
Da war zum Beispiel der Fall des zehnjährigen Leo. Er werde geplagt, sagte sein Lehrer der Schulsozialarbeiterin, ein typischer Fall von «Auslachklasse». Wenn Springer «Auslachklasse» hört, weiss sie, es herrscht Handlungsbedarf. Dann ist die Dynamik schon ziemlich eingespielt, alle warten nur darauf, andere hochzunehmen. Das Problem in dieser Klasse: Leo ist schlau, sehr schlau. Die anderen Schüler nehmen das zum Anlass, ihm zu sagen: «Du stinkst.»

Bei einer Schulaufführung artet es aus, niemand will mit Leo zusammen eine Szene spielen. Das Kind, das verdonnert wird, bricht in Tränen aus. Der Lehrer bespricht sich mit der Schulsozialarbeiterin, zusammen planen sie eine Intervention. Der Klassenlehrer sagt zu den Kindern: «Ich weiss, dass in dieser Klasse Kinder geplagt werden, und das hört jetzt sofort auf, sonst muss ich mit euren Eltern reden. Ich habe deshalb Frau Springer eingeladen, sie wird euch dabei helfen, euer Verhalten zu ändern.»

Leo findet Freunde

Springer hält einen kurzen Input zum Thema Mobbing, die Kinder beteiligen sich hochmotiviert – keines möchte, dass die Eltern informiert werden. Danach führt Springer jede Woche Gespräche mit verschiedenen Schülerinnen und Schülern, fragt nach ihrem Wohlergehen und gibt dem Lehrer Rückmeldungen.

Ausserdem arbeitet sie mit Leo Strategien aus, wie er seine Position verbessern könnte. Er hat die Idee: «Ich könnte anderen bei den Hausaufgaben helfen.» Das geht auf, das Mobbing hört auf und Leo findet Freunde in der Klasse. Seine Eltern werden auch einbezogen.

Andere Sozialarbeiter formulieren mit den Schülern Verträge, in denen sie Regeln des gemeinsamen Umgangs aufstellen. Auch das funktioniert. Die wichtigste Botschaft lautet: «Wir tolerieren Mobbing nicht.»

Brutaler Katalysator Internet

Anspruchsvoller wird es, wenn es um Cybermobbing geht, also Mobbing in den sozialen Netzwerken. Das liegt an der ungemeinen Menge von Nachrichten. Die Kinder tauschen sich über Klassenchats aus, das sind Foren, in denen Kinder der ganzen Klasse oder sogar noch grösserer Gruppen Mitglied sind. Wenn ein Kind sein Handy um 21 Uhr weglegt, hat es morgens um sieben Uhr unter Umständen Hunderte von Nachrichten.
Wenn ein Kind auf Facebook schreibt: «Guckt mal, wie Barbaras T-Shirt ihre Speckfalten zusammendrückt», haben das innert Minuten unter Umständen 200 Kinder gesehen. Und zwei schreiben vielleicht noch darunter: «Die kriegt sowieso nie einen ab» oder «hast du ihre fettigen Haare gesehen?»

Inhaltlich ist Cybermobbing ähnlich wie das Plagen auf dem Schulhof. Aber die Wirkung ist viel grösser, da viel mehr Kinder mitmachen oder es zumindest passiv mitkriegen. Und was im Internet anfängt, geht oft auf dem Pausenplatz weiter. «Manchmal fühle ich mich einfach machtlos dagegen», sagt eine Lehrerin.

Erster Schritt: Anzeige

Die Stiftung Elternsein hat soeben eine Kampagne mit dem Titel «Wenn Worte weh tun» lanciert. In einem Video will sie darauf aufmerksam machen, wie schmerzhaft Cybermobbing für die Betroffenen ist.
Bei Cybermobbing kann der erste Schritt eine Anzeige gegen die Täter sein. «Man muss den Kindern manchmal einfach Konsequenzen aufzeigen», sagt Schulsozialarbeiterin Springer. «Sie wollen wissen, was passieren könnte.»

Wie im Fall einer dritten Klasse. Ein Schüler fordert alle im Klassenchat auf, einen anderen nach der Schule abzupassen und zusammenzuschlagen. Ein zweiter filmt die Prügelei und stellt den Film in den Chat. Die Schulleitung droht den Tätern mit Schulausschluss, sollte sich das Verhalten nicht ändern. Die Schulsozialarbeiterin berät die Eltern der Täter und begleitet die Klasse wiederum mit wöchentlichen Gesprächen, um sicherzugehen, dass das Mobbing aufgehört hat. Auch hier ist das Ende ein Gutes: Opfer und Täter kommen heute wieder gut miteinander aus.

Schulwechsel: Mobber finden neues Opfer

Auch für Marisa und Sandra gibt es ein Happy End. Eines Tages reisst bei Marisa der Faden, sie merkt, dass sie in der Dorfschule nicht weiterkommt. Also schickt sie ihre Tochter in die Privatschule für offenes Lernen (SOL) in Liestal. Und tatsächlich: Dort findet Sandra Anschluss. Häufig ruft sie nach der Schule daheim an und fragt, ob sie noch mit ihren Freundinnen abmachen darf.

Doch für Sandras alte Klasse änderte sich nichts. Als Sandra weg ist, suchen sich die Mobber einfach ein anderes Opfer. Auch dieses wechselt die Schule. Das ist typisch für Mobbingklassen und zeigt: Oft geht es den Mobbern nicht um die Person, es geht ihnen ums Plagen. 

Woher kommt dieser Wunsch, andere zu quälen?
Georg Römmelt hat viele Erfahrungen mit Mobbing an Schulen gemacht, er arbeitet seit Jahren an der Sekundarschule Bäumlihof als Lehrer für Gestaltung und Projekte. Aus seiner persönlichen Sicht ist es ganz natürlich, dass Kinder sich aggressiv verhalten. Dazu kann das Notensystem beitragen. «Es bewertet die Schülerinnen und Schüler und schafft eine Konkurrenzsituation mit Gewinnern und Verlierern.» In der Schule fängt an, was im Arbeitsleben nachher weitergeht: der Kampf darum, der Stärkste und Beste zu sein. Da gibt es zwangsläufig Kinder, deren Leistung als ungenügend bewertet wird. «Jugendliche, die neun Jahre lang hören, was sie alles nicht können, haben ein angegriffenes Selbstbewusstsein.» Mobbing kann eine vermeintliche Strategie sein, um das Selbstbewusstsein zu stärken. 

Befriedigender Unterricht

Georg Römmelt hat deshalb eine Art von Unterricht entwickelt, die seinen Schülern besser entspricht: «Wenn Schüler nur für die Note lernen, sind sie frustriert.» Er ermöglicht seinen Schülern deshalb, selber Projekte auszusuchen und zu bearbeiten. So bastelt ein Schüler einen Papierkorb für sein Schlafzimmer, der andere baut ein Schuhgestell für den Eingangsbereich zu Hause. Ausserdem pflanzt Römmelt mit ihnen auf einem Acker vor dem Schulhaus Gemüse und Blumen an. Die Schüler haben den Acker mitgeplant, gebaut und alte Werkzeuge restauriert. Sie entwerfen ihre Projekte selber, Römmelt unterstützt sie, wo sie ihn brauchen. Für ihn ist klar: «Schüler erfahren so Sinn und Befriedigung. Wer zufrieden ist, ist friedlich. Da bleibt wenig Energie für Mobbing.»

Ausserdem benotet Römmelt seine Schüler transparent. Statt ihnen zu sagen, wo ihre Mankos liegen, fragt er: «Was brauchst du, damit du einen Lernschritt weiter kommst?» Er möchte ihnen die Botschaft mitgeben: Es geht nicht um die Beurteilung, sondern darum, etwas zu lernen, das euch sinnvoll erscheint. So können sie die Erfahrung machen: Fehler sind Teil des Lebens. Man darf Fehler machen, um weiterzukommen, und muss nicht Angst vor ihnen haben. «Angst ist der grösste Lernhemmer, deshalb setze ich auf Zusammenarbeit statt auf Konkurrenz.»

Es ist eine alte These: Man geht davon aus, dass die Menschen grundsätzlich gut zueinander sind. Doch wenn man sie in einen Zwinger mit Kampfhunden steckt, werden sie selber zu Kampfhunden, um nicht zerfleischt zu werden. Wenn man ihnen allerdings Wege aufzeigt, Aggressionen auf gesunde Weise abzubauen und zusammenzuarbeiten, werden aus potenziellen Kampfhunden Partner.

Auch Mobber leiden

Allerdings gibt es Kinder, bei denen das schwieriger ist. Françoise Alsakers Forschung zeigt, dass Mobbinganführer weniger Mitgefühl haben als andere Kinder. «Warum das so ist, wissen wir nicht», sagt die Wissenschaftlerin. Doch auch sie profitieren davon, wenn man sie stoppt. US-Wissenschaftler untersuchten mehr als 1400 junge Erwachsene, die im Alter zwischen 11 und 16 Jahren geplagt wurden oder selber plagten. Das Fazit: Auch Kinder, die selber gemobbt haben, haben ein erhöhtes Risiko, psychisch krank zu werden.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen