1. Juni 2017

Hinterwäldlerisch, engstirnig, provinziell

Frühfranzösisch · In der ganzen Schweiz wird kritisiert, dass ein kleiner Kanton im Sprachenstreit nicht nachgeben will. Wie gehen die Thurgauer Parlamentarier im Bundeshaus mit dieser Situation um?
Der Thurgau unter Beobachtung, Thurgauer Zeitung, 31.5. von Christian Kamm 


Hinterwäldlerisch, engstirnig, provinziell: Der Sprachenstreit scheint alle Vorurteile zu bestätigen, die man jenseits von Winterthur schon immer über den Thurgau gehegt hat. Einzig, dass er langweilig sei, kann dem Kanton für einmal niemand vorwerfen. Noch nie wurde so viel über den Thurgau geschrieben und diskutiert, wie nachdem bekannt geworden ist, dass der Grosse Rat das Frühfranzösisch abschaffen will. Am 14. Juni steht der definitive Entscheid an.

Auch im Bundeshaus in Bern, wo die Sommersession begonnen hat, ist das Thema präsent. «Ich werde immer wieder angesprochen», bestätigt SP-Nationalrätin Edith Graf-Litscher. Dabei stosse sie auf grosses Unverständnis. Die Leute fühlten sich vor den Kopf gestossen und werteten das Vorgehen des Thurgaus als Entscheid gegen Minderheiten. «Man fragt sich, was denn bei uns los ist.» Als erklärte Befürworterin des Frühfranzösisch hofft die SP-Nationalrätin deshalb auf eine Wende im Kantonsparlament.

«Noch keinen Drohfinger gesehen»
In der Wandelhalle hat SVP-Nationalrätin und Frühfranzösisch-Gegnerin Verena Herzog das Thema noch nicht eingeholt. «Ich habe noch keinen Drohfinger gesehen.» Wohl aber wurde schon in der Bildungskommission darüber diskutiert, der Herzog angehört. Dort argumentiere die Gegenseite rein emotional, kritisiert sie, und meint damit SP-Vertreter. Diese sprächen immer von Abschaffung und nähmen nicht zur Kenntnis, dass es um eine Verschiebung des Französischunterrichts zu Gunsten eines besseren Deutsch und eines besseren Französisch am Ende der Volksschulzeit gehe. Auch werde vergessen, dass die Schweiz ein viersprachiges Land sei. «Was sollen denn die Tessiner sagen? Die hätten doch den gleichen Anspruch», argumentiert Herzog.

Wenn der Thurgau alle Klischees, die über ihn im Umlauf sind, zu bestätigen scheint, muss das nicht zuletzt die beiden Standesvertreter beschäftigen. Ständerätin Brigitte Häberli-Koller (CVP), die auch Präsidentin der Bildungskommission ist, hat sich Erklären und Aufklären auf die Fahne geschrieben. Es müsse verhindert werden, dass sich eine Front aufbaue. «Als Thurgauerin weise ich immer wieder darauf hin, dass der französischsprachige Teil der Schweiz auch für uns wichtig ist.» Und im zwischenmenschlichen Bereich sei es wichtig, sich offen gegenüber den anderen Landessprachen zu zeigen. Ganz Föderalistin, zählt Häberli auf eine gemeinsame Lösung unter den Kantonen. «Ich hoffe nicht, dass wir uns in Bern damit befassen müssen.» Zumal Häberli überzeugt ist, dass eine Bundeslösung im Ständerat nicht weit kommen würde.
«Klar wird ab und zu ‹gezüselt›», sagt SVP-Ständerat Roland Eberle, «aber nicht über Gebühr.» Polemische Bemerkungen einiger weniger Exponenten aus der Westschweiz kämen vor, «die sich mit dem Thema profilieren wollen». Weil er als Bilingue perfekt Französisch könne, sei er in der Regel nicht das Ziel, so Eberle. Wie Häberli setzt er auf den Föderalismus: Die Kantone sollen sich beim Französischunterricht pragmatisch einigen. Und es gelte, die Experten an der Front ernst zu nehmen: «Wenn die Lehrerschaft für Französisch erst auf der Sekundarstufe plädiert, sehe ich keinen Grund, dagegen zu halten.» Gegen eine Einmischung des Bundes wehre er sich.


FDP-Nationalrat Hermann Hess räumt zwar ein, dass sich der Thurgau in Bundesbern ein gewisses Imageproblem eingebrockt hat. Die Verpolitisierung des Frühfranzösisch lehnt er jedoch ab. Nicht, welche Sprache in der Schule ab wann gelernt werde, sei entscheidend, «sondern dass man die Sprachen später viel anwendet». Hess, der sehr gut Französisch, Englisch und Italienisch spricht, geht selber mit gutem Beispiel voran. Etwa als er kürzlich im Anschluss an eine Sitzung der Geschäftsprüfungskommission noch mit Bundesrat Alain Berset parlierte akzentfrei, notabene. Der habe sich sichtlich beeindruckt gezeigt, berichtet Hess. Kann ein Thurgauer eigentlich mehr wollen? 

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