Der
Sexualkundeunterricht hat in letzter Zeit viel Kritik einstecken müssen. Nicht
nur in der Schweiz, auch in Deutschland haben
sich besorgte Eltern in grosser Zahl heftig dagegen verwahrt, dass man ihren
Nachwuchs zu früh mit Details über Sexualität, Geschlechtsidentität, Begehren
oder auch dem Umgang mit Pornografie konfrontiert. Wenn man es vorsichtig
formuliert, lässt sich festhalten, dass dabei aus Sorge, die kindliche
Vorstellungswelt zu überfordern und irreparabel zu beschädigen, die Idee einer
möglichen Frühsexualisierung gegen
eine umfassende Sexualaufklärung ins Feld geführt wird.
Let's talk about Sexualkunde, Baby, Mamablog, Bund, 14.6. von Nils Pickert
Weniger
nett könnte man sagen, dass sich hinter diesem irrigen Kampfbegriff auch
Menschen versammeln, die etwas «gegen die Verschwulung ihrer Kinder»
unternehmen und sich nicht von «schrillen Minderheiten» bevormunden lassen
wollen. Menschen also, die überzeugt davon sind, dass man ihre Kinder im
schulischen Sexualkundeunterricht zu früh auf irgendwie falsche, ziemlich
promiske und durchaus verwerfliche Gedanken bringen könnte und dieses Thema
darum so spät wie möglich angehen sollte. Ich bin da aus persönlichen und
beruflichen Gründen anderer Meinung.
Ich weiss nicht, wie es Ihnen geht, aber der Sexualkundeunterricht, den man mir in den 90er-Jahren als Schüler angedeihen liess, war einfach grauenhaft. Stundenlang klärte uns eine Lehrkraft mit weitschweifigen Details zu der Bedeutung von T-Helferzellen bei einer HIV-Erkrankung auf und vermied damit alles, was auch nur ansatzweise ins tatsächlich Zwischenmenschliche hätte gehen können.
Ich weiss nicht, wie es Ihnen geht, aber der Sexualkundeunterricht, den man mir in den 90er-Jahren als Schüler angedeihen liess, war einfach grauenhaft. Stundenlang klärte uns eine Lehrkraft mit weitschweifigen Details zu der Bedeutung von T-Helferzellen bei einer HIV-Erkrankung auf und vermied damit alles, was auch nur ansatzweise ins tatsächlich Zwischenmenschliche hätte gehen können.
Sexualisierte Särge
So
notwendig die Präventionsarbeit hinsichtlich sexuell übertragbarer Krankheiten
auch ist, so sehr versteckte mein damaliger Lehrer sein Unbehagen über die
Situation hinter technischen Einzelheiten. Lust, Begehren, Verzweiflung,
Ablehnung, Gruppendruck, Glücksgefühle, Scheitern, sexuelle Identität, Liebe –
über genau die Dinge, die seine Schülerinnen und Schüler brennend
interessierten, verlor er kein Wort. Die sollte uns stattdessen ein zum
Schreien langweiliger Film erklären, den wir im Anschluss nicht einmal
besprachen. Wir wurden in beredter Sprachlosigkeit scheinaufgeklärt – was mich
zu den beruflichen Gründen bringt.
Wenn ich
nicht gerade journalistisch tätig bin, engagiere ich mich für den Verein Pinkstinks gegen
Sexismus – und versuche in diesem Zusammenhang auch immer wieder auf den
Unterschied zwischen Sexualität und Sexualisierung hinzuweisen. Sexualisierung
bedeutet, dass Themen mit Sexualität aufgeladen werden, die damit im Grunde
nichts zu tun haben. Wenn Fussböden, Hundefutter, Särge, Düngemittel und
Gebrauchtwagen (alles reale Beispiele) mit (semi)nackten, lasziven Körpern
beworben werden, dann ist das Sexualisierung. Dann wird etwas sexuell gemacht,
was an und für sich nicht sexuell ist.
Wenn
hingegen ein Kind, das immer schon über eine eigene Sexualität verfügt,
altersgemäss und konsequent aufgeklärt wird, hat das mit Sexualisierung nichts
zu tun. Aber diese Aufklärung findet zu wenig statt. Wir haben aus Scham und
Bequemlichkeit nicht nur längst aufgegeben und das Feld mehr oder weniger der
Internetpornografie überlassen, sondern beargwöhnen auch noch die Expertinnen
und Experten, die heutzutage einen sehr viel besseren Job bei unseren Kindern
machen können als mein ehemaliger Lehrer bei mir. Gleichzeitig muss alles sexy
sein. Nur Sex eben nicht mehr.
Aufklärung bleibt notwendig
Wir
produzieren beständig Unmengen an lauwarmer Luft, weil uns die eigentliche
Sache zu heiss geworden ist. Wir ergehen uns in endlosen Anzüglichkeiten,
während uns, wenn es wirklich darauf ankommt, kaum Vokabular zur Verfügung
steht. «Untenrum» wird schon reichen.
Tut es
aber nicht, und deshalb ist und bleibt Sexualaufklärung eine Notwendigkeit. Die
Antwort auf die gegenwärtig so omnipräsente Sexualisierung ist nicht etwa
weniger, sondern mehr Beschäftigung mit menschlicher Sexualität. Dazu gehört,
die Dinge beim Namen zu nennen. Und dazu gehört auch, Kindern Stück für Stück
und Schritt für Schritt zu sagen, was Sache ist.
Nils Pickert arbeitet als freier Journalist. Er hat
eine monatliche Kolumne auf Standard.at, in der er sich mit den
männlichen Seiten der weiblichen Emanzipation beschäftigt.
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