14. Mai 2017

Wolters Behauptungen

Bildungsökonom Stefan Wolter mischt sich in die Zürcher Fremdsprachen-Initiative ein. Er tut dies mit einigen manipulativen Aussagen. So sagt er, die Wissenschaft liefere klare Aussagen, wonach Schüler beim Fremdsprachenlernen nicht überfordert seien. Ausserdem behauptet er, die Studie von Simone Pfenninger sei bereits widerlegt. (uk)
"Man kann nicht in einem halben Jahr drei Jahre Unterricht aufholen", NZZ, 9.5. von Marc Tribelhorn

Herr Wolter, das Thema Fremdsprachenunterricht sorgt seit Jahren für heftige Debatten. Wieso eigentlich?
Die Diskussion begann schon vor Jahrzehnten, als neue Studien nahelegten, dass nur frühes Sprachenlernen erfolgversprechend sei. Die Studien beschäftigten sich aber mit dem Spracherwerb im ganz jungen Vorschulalter und nicht mit einer Vorverlegung während der Volksschulzeit. Zusätzlichen Auftrieb bekam das Thema, weil neben den Landessprachen vor allem die Wirtschafts- und Wissenschaftssprache Englisch an Gewicht gewann, was schliesslich zum nationalen Streit führte.

... den der damalige Zürcher Bildungsdirektor Ernst Buschor mit der Einführung von Frühenglisch provoziert hatte …
Genau. Aber man vergisst gerne, dass Buschor reagieren musste. Immer mehr Eltern hatten in den 1990er Jahren der öffentlichen Schule den Rücken gekehrt und ihre Kinder in internationale Schulen geschickt, wo sie früher Englisch lernen konnten; die Chancengleichheit stand auf dem Spiel. Seit dem nationalen Sprachenkompromiss von 2004, der das Lernen von zwei Fremdsprachen auf Primarstufe vorsieht, hat sich die Debatte verändert: Dann wurde kritisiert, die Kinder seien überfordert mit dem parallelen Lernen von Französisch und Englisch, wie es für die Deutschschweiz gilt.

Was sagt die Forschung dazu?
Wir haben alle relevanten internationalen Studien genau angeschaut. Die Befunde sind klar: Es gibt keine Anzeichen für eine Überforderung der Kinder durch frühes multiples Sprachenlernen. Im Gegenteil: Kenntnisse in einer Fremdsprache erleichtern den Erwerb einer weiteren Sprache. Schweizer Untersuchungen kommen zum gleichen Schluss.

Die Überforderung der Kinder ist demnach nur ein subjektiver Eindruck von Lehrpersonen und Eltern?
Das ist so, auch wenn er in Einzelfällen zutrifft. Es ist am Schluss eine Frage der Prioritätensetzung. Wenn Umfragen zum Beispiel ergeben, dass 25 Prozent der Schüler überfordert seien, soll man den Unterricht nach ihnen ausrichten und die restlichen 75 Prozent in ihrem Lernfortschritt bremsen?

Spielt nicht auch die Unbeliebtheit von Französisch eine Rolle, wenn wir von Überforderung sprechen?
Natürlich. Es ist für Deutschschweizer schwieriger, eine lateinische Sprache zu lernen und umgekehrt, und der tägliche Bezug zu anderen Landessprachen fehlt in der Regel. Das ist schlecht für die Motivation, was für den Lernerfolg verheerend ist. Mit dem politischen Argument des nationalen Zusammenhalts können Sie die 12-Jährigen nicht motivieren. Da hat es das Englische einfacher, weil es auch hier praktisch schon Alltagssprache geworden ist.

Es wäre die Aufgabe der Lehrpersonen, den Nutzen der anderen Landessprachen deutlich zu machen.
Grundsätzlich schon, aber da müsste man wahrscheinlich schon vorher bei der Ausbildung und Motivation der Lehrpersonen selbst ansetzen. Im Bildungsbericht haben wir auf eine Studie aus dem Kanton Genf verwiesen, wo die Mehrheit der Lehrpersonen, die Deutsch unterrichteten, ihre eigenen Kompetenzen in der deutschen Sprache als ungenügend bezeichnet hatten. Über die Tauglichkeit von Lehrmitteln wird öffentlich ständig diskutiert, über die Kompetenzen und die Motivationslage der Lehrpersonen hingegen kaum.

Mit welcher Fremdsprache sollte im Unterricht idealerweise begonnen werden, um den grössten Lernerfolg zu erzielen?
Dazu gibt es aus Sicht der Wissenschaft nicht wirklich eine Antwort. Wir wissen nur, dass sich die Sprachen gegenseitig ergänzen und den Lernprozess begünstigen.

Gegner des frühen Fremdsprachenunterrichts stützen sich gerne auf die Arbeiten der Zürcher Linguistin Simone Pfenninger, die zeigen, dass Spätlerner bereits nach einem halben Jahr Oberstufe auf dem Englisch-Wissensstand der Frühlerner sind.
Kinder lernen schneller, wenn sie älter sind. Das ist aber nicht auf den Fremdsprachenunterricht beschränkt, sondern hat mit dem höheren Wissensstand zu tun, auf dem aufgebaut werden kann. Die Arbeiten Pfenningers sind punkto Effizienz von Frühenglisch indes bereits widerlegt. Man kann nicht in einem halben Jahr drei Jahre Unterricht aufholen! Die jüngsten Untersuchungen zu diesem Thema kommen zum Schluss, dass der Unterricht über mehrere Schuljahre zu signifikant höheren Leistungen führt. So wurden in einer Studie zur Nordwestschweiz bei Aargauer Schülern nach sieben Jahren Englischunterricht in allen Kompetenzbereichen höhere Werte gemessen als bei Solothurner Schülern, die erst ab der Oberstufe Englisch gelernt hatten.

Wenn man eine Fremdsprache in die Oberstufe verfrachtet, wie es diverse Initiativen fordern, werden die Leistungsziele also nicht erreicht?
Es besteht zumindest ein grosses Risiko, dass ein beträchtlicher Teil der Schüler die Lernziele nicht erreicht, obwohl aufgrund des höheren Alters ein schnelleres Lernen möglich ist.

Aber man könnte zum Beispiel den Unterricht intensivieren und alle Lektionen in einer Fremdsprache auf die Oberstufe verlegen: eine Art komprimierter Unterricht.
Eine Intensivierung des Unterrichts führt insbesondere bei schwächeren Schülern zu sehr schlechten Lernfortschritten, wie unsere jüngsten Forschungsarbeiten zeigen. Es wird lediglich ihre Überforderung multipliziert. Nur bei den besten Schülern bringt eine Komprimierung des Unterrichts noch etwas. Erfolgversprechender, gerade für die Landessprachen, wäre eine Intensivierung der Austauschprogramme.


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