Bildungsökonom Stefan Wolter mischt sich in die Zürcher Fremdsprachen-Initiative ein. Er tut dies mit einigen manipulativen Aussagen. So sagt er, die Wissenschaft liefere klare Aussagen, wonach Schüler beim Fremdsprachenlernen nicht überfordert seien. Ausserdem behauptet er, die Studie von Simone Pfenninger sei bereits widerlegt. (uk)
"Man kann nicht in einem halben Jahr drei Jahre Unterricht aufholen", NZZ, 9.5. von Marc Tribelhorn
Herr Wolter, das Thema
Fremdsprachenunterricht sorgt seit Jahren für heftige Debatten. Wieso
eigentlich?
Die Diskussion begann
schon vor Jahrzehnten, als neue Studien nahelegten, dass nur frühes
Sprachenlernen erfolgversprechend sei. Die Studien beschäftigten sich aber mit
dem Spracherwerb im ganz jungen Vorschulalter und nicht mit einer Vorverlegung
während der Volksschulzeit. Zusätzlichen Auftrieb bekam das Thema, weil neben
den Landessprachen vor allem die Wirtschafts- und Wissenschaftssprache Englisch
an Gewicht gewann, was schliesslich zum nationalen Streit führte.
... den der damalige
Zürcher Bildungsdirektor Ernst Buschor mit der Einführung von Frühenglisch
provoziert hatte …
Genau. Aber man vergisst
gerne, dass Buschor reagieren musste. Immer mehr Eltern hatten in den 1990er
Jahren der öffentlichen Schule den Rücken gekehrt und ihre Kinder in
internationale Schulen geschickt, wo sie früher Englisch lernen konnten; die
Chancengleichheit stand auf dem Spiel. Seit dem nationalen Sprachenkompromiss
von 2004, der das Lernen von zwei Fremdsprachen auf Primarstufe vorsieht, hat
sich die Debatte verändert: Dann wurde kritisiert, die Kinder seien überfordert
mit dem parallelen Lernen von Französisch und Englisch, wie es für die
Deutschschweiz gilt.
Was sagt die Forschung
dazu?
Wir haben alle
relevanten internationalen Studien genau angeschaut. Die Befunde sind klar: Es
gibt keine Anzeichen für eine Überforderung der Kinder durch frühes multiples
Sprachenlernen. Im Gegenteil: Kenntnisse in einer Fremdsprache erleichtern den
Erwerb einer weiteren Sprache. Schweizer Untersuchungen kommen zum gleichen
Schluss.
Die Überforderung der
Kinder ist demnach nur ein subjektiver Eindruck von Lehrpersonen und Eltern?
Das ist so, auch wenn er
in Einzelfällen zutrifft. Es ist am Schluss eine Frage der Prioritätensetzung.
Wenn Umfragen zum Beispiel ergeben, dass 25 Prozent der Schüler überfordert
seien, soll man den Unterricht nach ihnen ausrichten und die restlichen 75
Prozent in ihrem Lernfortschritt bremsen?
Spielt nicht auch die Unbeliebtheit von Französisch eine Rolle,
wenn wir von Überforderung sprechen?
Natürlich. Es ist für
Deutschschweizer schwieriger, eine lateinische Sprache zu lernen und umgekehrt,
und der tägliche Bezug zu anderen Landessprachen fehlt in der Regel. Das ist
schlecht für die Motivation, was für den Lernerfolg verheerend ist. Mit dem
politischen Argument des nationalen Zusammenhalts können Sie die 12-Jährigen
nicht motivieren. Da hat es das Englische einfacher, weil es auch hier
praktisch schon Alltagssprache geworden ist.
Es wäre die Aufgabe der
Lehrpersonen, den Nutzen der anderen Landessprachen deutlich zu machen.
Grundsätzlich schon,
aber da müsste man wahrscheinlich schon vorher bei der Ausbildung und
Motivation der Lehrpersonen selbst ansetzen. Im Bildungsbericht haben wir auf
eine Studie aus dem Kanton Genf verwiesen, wo die Mehrheit der Lehrpersonen,
die Deutsch unterrichteten, ihre eigenen Kompetenzen in der deutschen Sprache
als ungenügend bezeichnet hatten. Über die Tauglichkeit
von Lehrmitteln wird
öffentlich ständig diskutiert, über die Kompetenzen und die Motivationslage der
Lehrpersonen hingegen kaum.
Mit welcher Fremdsprache
sollte im Unterricht idealerweise begonnen werden, um den grössten Lernerfolg
zu erzielen?
Dazu gibt es aus Sicht
der Wissenschaft nicht wirklich eine Antwort. Wir wissen nur, dass sich die
Sprachen gegenseitig ergänzen und den Lernprozess begünstigen.
Gegner des frühen
Fremdsprachenunterrichts stützen sich gerne auf die Arbeiten der Zürcher
Linguistin Simone Pfenninger, die zeigen, dass Spätlerner bereits nach einem
halben Jahr Oberstufe auf dem Englisch-Wissensstand der Frühlerner sind.
Kinder lernen schneller,
wenn sie älter sind. Das ist aber nicht auf den Fremdsprachenunterricht
beschränkt, sondern hat mit dem höheren Wissensstand zu tun, auf dem aufgebaut
werden kann. Die Arbeiten Pfenningers sind punkto Effizienz von Frühenglisch
indes bereits widerlegt. Man kann nicht in einem halben Jahr drei Jahre
Unterricht aufholen! Die jüngsten Untersuchungen zu diesem Thema kommen zum
Schluss, dass der Unterricht über mehrere Schuljahre zu signifikant höheren
Leistungen führt. So wurden in einer Studie zur Nordwestschweiz bei Aargauer
Schülern nach sieben Jahren Englischunterricht in allen Kompetenzbereichen
höhere Werte gemessen als bei Solothurner Schülern, die erst ab der Oberstufe
Englisch gelernt hatten.
Wenn man eine Fremdsprache in die Oberstufe verfrachtet, wie es
diverse Initiativen fordern, werden die Leistungsziele also nicht erreicht?
Es besteht zumindest ein
grosses Risiko, dass ein beträchtlicher Teil der Schüler die Lernziele nicht
erreicht, obwohl aufgrund des höheren Alters ein schnelleres Lernen möglich
ist.
Aber man könnte zum
Beispiel den Unterricht intensivieren und alle Lektionen in einer Fremdsprache
auf die Oberstufe verlegen: eine Art komprimierter Unterricht.
Eine Intensivierung des
Unterrichts führt insbesondere bei schwächeren Schülern zu sehr schlechten
Lernfortschritten, wie unsere jüngsten Forschungsarbeiten zeigen. Es wird
lediglich ihre Überforderung multipliziert. Nur bei den besten Schülern bringt
eine Komprimierung des Unterrichts noch etwas. Erfolgversprechender, gerade für
die Landessprachen, wäre eine Intensivierung der Austauschprogramme.
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