23. Mai 2017

Schüleraustausch gefordert

Die grünen Kantonsräte haben in der ersten Lesung einstimmig gegen Frühfranzösisch entschieden. Ihr Sprecher, der Sekundarlehrer Joe Brägger, fordert ein nationales Programm für den Schüleraustausch mit dem Welschland.
Brägger unterrichtet Französisch an einer Sekundarschule, Bild: Donato Caspari
Französischlehrer gegen Frühfranzösisch, Thurgauer Zeitung, 23.5. von Thomas Wunderlin

Ausserhalb des Thurgaus gilt vor allem die SVP als treibende Kraft hinter der Abschaffung des Frühfranzösischs. Für eine Mehrheit im 130-köpfigen Grossen Rat reichen die 44 SVP-Kantonsräte aber nicht aus – abgesehen davon, dass die SVP-Fraktion in der ersten Lesung am 3. Mai nicht geschlossen für Eintreten auf die Abschaffungsvorlage stimmte. Einstimmig dafür votierten hingegen die 9 Grünen; ihr Sprecher Joe Brägger argumentierte damit, dass das Frühfranzösisch bei weitem nicht die Resultate bringe, die man sich bei der Einführung erhofft hatte. Die 68 Ja-Stimmen kamen ferner von der EVP und einer Mehrheit der CVP.

Inzwischen ist die Diskussion ausserhalb des Thurgauer Kantonsparlaments weitergegangen. Vor allem das klare Nein des Kantons Zürich gegen eine Initiative für nur eine Fremdsprache an der Primarschule muss den Frühfranzösisch-Abschaffern zu denken geben. Auch im Thurgau werden die Stimmbürger voraussichtlich mitreden, wenn der Grosse Rat in der zweiten Lesung am 14. Juni Kurs hält. Der Grünen-Sprecher Brägger hat seine Meinung noch nicht gemacht.

Joe Brägger, machen Sie sich für Kuschelpädagogik stark?
Weshalb?

Weil einige Kinder Mühe mit Frühfranzösisch haben, sind Sie dagegen.
Ich bin nicht generell dagegen. Frühfranzösisch mit zwei Wochenstunden in der fünften und der sechsten Klasse hat gravierende Nachteile. Man kann es in der Anfangsphase wenig vertieften. Es ist zu wenig.

Die angebliche Überforderung der Schüler lässt sich nicht belegen.
Für manche Schüler, insbesondere mit Migrationshintergrund, stellen zwei zusätzliche Fremdsprachen eine Überforderung dar, längst nicht bei allen. Manchmal ist Französisch für sie die dritte oder vierte Sprache. Das bedeutet, dass sie in keiner Sprache richtig daheim sind.

Grad Einwandererkinder haben oft keine Mühe mit Frühfranzösisch.
Das ist Wunschdenken. Man sagt, sie hätten Erfahrung mit Fremdsprachenlernen. Aber sie können nicht auf einer Sprache aufbauen, die sie nicht richtig kennen.

Regierungsrätin Monika Knill hat letzte Woche darüber informiert, wie sie den Frühfranzösischunterricht verbessern will. Bleiben Sie bei Ihrem Nein zum Frühfranzösisch in der zweiten Lesung am 14. Juni?
Ihre Vorschläge enthalten leider nichts wirklich Neues. Sie hat es nur etwas konkreter aufgezeigt. Man sieht, dass die Erziehungsdirektion sich wirklich bemüht. Das anerkenne ich ausdrücklich. Ich habe meine Meinung noch nicht gemacht. Es kann sein, dass in meiner Fraktion der eine oder andere die Meinung ändert. Das Modell 3/5 hat Mängel. Aber das Modell 3/7 auch.

Also der Beginn des Englisch- und Französischunterrichts im dritten und fünften Schuljahr, respektive im dritten und siebten.
In der ersten Lesung habe ich gesagt, die Verschiebung des Französischunterrichts in die Oberstufe sei die zweitbeste Lösung. Am besten wären bessere Bedingungen in der Primarschule. Wir stehen in einem klassischem Zielkonflikt.

Die Regierungsrätin will den Halbklassenunterricht verstärken – damit entspricht sie einer Forderung der Frühfranzösischkritiker.
Das geht aber auf Kosten des bestehenden Lektionen-Pools für Halbklassenunterricht, Teamteaching und Projekte. Das ist schade.

Wieso setzen Sie sich als Sekundarlehrer nicht gegen die Überlastung der Oberstufen-Stundentafel ein?
Als Kantonsrat und Bildungspolitiker vertrete ich auch die Interessen der Primarlehrer. Es ist nicht von der Hand zu weisen, dass die Stundentafel der Oberstufe sprachlastiger wird. Das heisst immer auch: eher zu Ungunsten der Buben. Durch den Ausbau des Französischunterrichts in der Sekundarschule fehlen einige Lektionen für Freifächer und Wahlpflichtfächer. Das ist eigentlich nicht richtig. Wir möchten den Schülern die Gelegenheit geben, je nach Neigung im Hinblick auf die Berufswahl ein geeignetes Fach zu wählen, zum Beispiel Technisches Zeichnen.

Dass diese Möglichkeit beschränkt wird, wollen Sie in Kauf nehmen?
Ja, das muss man allenfalls in Kauf nehmen. Man könnte dafür Französisch intensiver unterrichten, wenn man in der ersten Sekundarklasse bei Null anfangen könnte.

Der Genfer Regierungsrat Antonio Hodgers fragt sich, weshalb der Kanton Genf über den Finanzausgleich Kantone wie den Thurgau unterstützen soll, der kein Französisch mehr unterrichtet. Er gehört Ihrer Partei an.
Wir haben den Mahnfinger auch von den Grünen in Bern gezeigt bekommen. Ich habe verschiedene Mails bekommen, sie seien «not amused». Diese Leute handeln leider teilweise in Unkenntnis der Sachlage. Wir wollen Französisch nicht abschaffen. Wir wollen die französische Sprache und Kultur keinesfalls herabmindern. Da die Resultate des Modells 3/5 schlecht ausfallen, sagen wir, vielleicht muss man da mal etwas ändern. Das sage ich auch gegenüber den Kollegen von der SP, die das Frühfranzösisch vielleicht auch wegen ihres Chefs, Alain Berset, verteidigen – was ich übrigens verstehe.

Der Thurgau hat Frühfranzösisch in den 1990er-Jahren eingeführt. Diese Investition wäre verloren.
Das ist teilweise richtig. Ein gewisses Know-how würde brach liegen. Doch auch so wählen immer weniger angehende Primarlehrer das Fach Französisch in ihrer Ausbildung an der Pädagogischen Hochschule. Um mich richtig zu verstehen: Ich habe überhaupt kein Interesse, den Französischunterricht abzuschaffen. Wir müssen daran arbeiten, ihn wieder attraktiver zu machen. Das geht zum Beispiel, wenn man den Schülern zeigt, wofür sie lernen. Oft ist ihre Motivation sehr schlecht, wenn sie aus der Primarschule kommen. Französisch ist eine absolute Fremdsprache für sie, im Unterschied zum Englisch, das überall präsent ist.

Wie wollen Sie das erreichen?
Zum Beispiel mit einem Schüleraustausch, wie ihn unsere Schule seit drei Jahren betreibt. Ich bin jetzt zum ersten Mal als Klassenlehrer dabei. Meine Klasse trifft sich mit einer Klasse aus dem freiburgischen Domdidier. Es lohnt sich, Schülern den Horizont zu erweitern. Ich war auch im Rahmen der Expo 02 mit einer Klasse eine Woche lang im Welschland. Das war toll. Danach ist das nationale Projekt leider versandet. Das ist ein bisschen ein Vorwurf an Bern und die Erziehungsdirektorenkonferenz, die den Sprachenkonsens beschwören. Wenn man aber den Schüleraustausch innerhalb der Schweiz mit dem Austausch zwischen Frankreich und Deutschland vergleicht, sind wir Waisenknaben.

Wieso haben Sie selber den Austausch nicht weitergeführt?
Ein derartiges Projekt im Alleingang zu organisieren ist sehr aufwendig. Ich muss dafür die Leute in meiner Schule überzeugen. Ich brauche ein Budget. Ich muss einen Ersatz organisieren, wenn ich nicht da bin. Wenn es ein nationales Programm gäbe, wäre es viel einfacher. So etwas wie im Wallis, das einen gut dotierten Austausch zwischen den Sprachregionen hat. Es ist ein Armutszeugnis, dass es das auf eidgenössischer Ebene nicht gibt.

Bleibt der Grosse Rat bei der Abschaffung des Frühfranzösisch, wird es darüber voraussichtlich eine kantonale Volksabstimmung geben. Wie beurteilen Sie die Situation nach dem Zürcher Nein vom vergangenen Wochenende?
Eine Volksabstimmung ist immer mit viel Aufwand verbunden. Dass das ­Resultat im Kanton Zürich so klar zu ­Ungunsten der dortigen Initiative ausgefallen ist, ist für die Thurgauer Bestrebungen, Französisch auf die Sek zu verschieben, natürlich ungünstig. Was mir aber – bei allem Respekt vor dem Entscheid des Zürcher Stimmvolks – sehr zu denken gibt, ist, dass man offenbar wenig bereit ist, auf die Fachleute, also die Lehrpersonen, zu hören – mindestens im Kanton Zürich.

Joe Brägger

Der Amriswiler GP-Kantonsrat Joe Brägger ist seit 2010 Mitglied des Grossen Rats. Er ist Sekundarlehrer phil. I und unterrichtet an der Sekundarschule Grenzstrasse in Amriswil. Brägger hat Jahrgang 1958 und ist verheiratet.


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