Bildung
hat sich gewaltig verändert: Wussten Sie, dass man heute mit einer Woche
Zeitung lesen mehr erfährt und lernt als im 18. Jahrhundert in einem ganzen
Leben? Oder dass der Englischwortschatz sich seit Shakespeare verfünffacht hat?
Dass bei Google monatlich 31 Milliarden Suchanfragen eingehen? Alle wollen
etwas wissen oder lernen.
Keine
Woche vergeht, in der nicht irgendwo in unserem Land das Bildungswesen im Fokus
von Politik und Medien steht. Letzte Woche im Thurgau das Frühfranzösisch, nächstes
Wochenende bei uns im Baselbiet an der Urne die Lehrerausbildung. So geht das
schon seit Jahren.
Lasst die Schule wieder in Frieden, Basellandschaftliche Zeitung, 18.5. von Matthias Plattner
Heute
muss ich meinem Ärger darüber ein wenig Luft verschaffen. Bildung und
Schulwesen sind zum Themenlieferanten und Selbstbedienungsladen für Politikerinnen
und Politiker geworden. Klar, da geht es um unsere Kinder und Enkel, unser
Liebstes. Da geht es um die Zukunft unseres Landes. Bildung ist bekanntlich der
einzige Rohstoff in der sonst ärmlichen Schweiz. Mit Bildungsthemen lässt sich
punkten. Damit kann man Emotionen abholen und ungeliebten Politikern,
Lehrpersonen, Fachgremien endlich eins auswischen. Jeder war mal in irgendeiner
Schule und fühlt sich deshalb als kompetent.
In der
Schweiz sind in den letzten 17 Jahren allein zum Thema Frühförderung und
Fremdsprachen 700 (teure) Studien entstanden, die über Sinn oder Unsinn
derselben Auskunft geben sollen. Im Zusammenhang der Bildungsharmonisierung im
Land sind in kantonalen Parlamenten Hunderte von Vorstössen eingereicht worden.
Reformschritte hier und Marschhalte dort gehen Hand in Hand. Der eine zieht aus
und der andere bremst. Das politische Gezerre und Gewürge kostet die Kantone
Millionen und bringt den Schulen wenig bis nichts. Im Gegenteil. Mit diesen
Batzen hätte man zum Beispiel im Baselbiet unsere maroden Sekundarschulbauten
endlich richtig sanieren können.
Nicht
Reformen oder deren Tempo richten den ganz grossen Schaden an, sondern das an
die Öffentlichkeit-Zerren wohl bald jedes Schulfachs, von Lehrmitteln und
Schulordnungen. Das verunsichert und demotiviert brutal: Begabte, junge
Menschen, die vielleicht willens wären, das pädagogische Handwerk zu erlernen
und segensreich für unsere Kinder zu wirken; bereits tätige Lehrpersonen und
Schulleitungen aller Stufen; und vor allem all die Eltern und Grosseltern von
Schülerinnen und Schülern, und von Kleinkindern, die bald dazu werden.
Bei
ihnen wurde und wird der ganz grosse Schaden angerichtet und unsere seit 150
Jahren einvernehmlich und erfolgreich betriebene Volksschule politisch und
medial zu Tode geschnorrt und verhandelt. Denn jede Schule, Bildungs- und
Ausbildungsstätte lebt vom Vertrauen nicht nur der Kinder und Jugendlichen,
sondern vor allem ihrer Eltern und Grosseltern. Die Schule ist ein Nest für
unseren Nachwuchs. Ein Nest benötigt einen stillen, sicheren, trockenen Ort,
benötigt Verlässlichkeit. OMG – um Himmels Willen! Bitte lasst die Schule
wieder in Frieden.
Der Autor ist reformierter Pfarrer in Sissach
Der grosse Schaden wird angerichtet, wenn still, heimlich und von oben, radikale Schulreformen durchgezogen werden sollen, mit der die bewährte und seit 150 Jahren weiterentwickelte Volksschule an die Wand gefahren wird. Wenn das Nest unseres Nachwuchses heimlich demontiert und umgebaut werden soll, dann müssen wir vor die Türe treten, um zu sehen, was ist. Wenn die demokratische Mitbestimmung durch die Exekutive ausgehebelt wird, müssen wir Öffentlichkeit schaffen und dürfen die direktdemokratische Auseinandersetzung nicht fürchten. In den Anfängen der Volksschule hat sich der Pfarrer und Schulinspektor Jeremias Gotthelf nicht gescheut, die Dinge beim Namen zu nennen, auch wenn er dadurch bei der Obrigkeit einen Sturm entfacht hat!
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