Überlebende der Shoah werden oft an Schulen eingeladen. Was können sie
jungen Menschen vermitteln, was Lehrer nicht können?
Sie können vom Grauen erzählen, wie dies ein Lehrer nie könnte: persönlich,
unmittelbar, eindringlich. Die Wissenschaft liefert «nur» die Hintergründe und
die Statistik. Gerade für Schüler liegt die Geschichte aber weit zurück und ist
abstrakt. Zeitzeugen authentifizieren, was im Holocaust geschah.
Es gibt viele Bücher und Filmdokus mit authentischen Zeugnissen.
Das stimmt, aber damit an Schulen zu arbeiten, bleibt eine didaktische
Herausforderung und erreicht nie die Eindringlichkeit, die der Auftritt eines
Zeitzeugen hat. Ich halte in diesem Semester eine Vorlesung zur Massengewalt in
Europa von 1914 bis 1948. Dabei erlebe ich gerade wieder, wie begrenzt die
wissenschaftlichen Möglichkeiten sind, wenn es um die Vergegenwärtigung dessen
geht, was bei Gräueltaten wirklich geschah. Ein Mensch aus Fleisch und Blut,
der davon erzählt, hat da ganz andere Möglichkeiten.
Ist es mehr der Zeuge, der Eindruck hinterlässt, als das Zeugnis?
Beides. Nur schon die schiere Präsenz eines Zeugen ist wichtig. Ein
Holocaust-Leugner dürfte grosse Mühe haben, vor ein Opfer der Shoah hinzustehen
und zu sagen, sein Zeugnis sei erlogen.
Was heisst es, dass Überlebende des Holocaust in absehbarer Zeit sterben
werden? Sie sind heute in der Regel über 80 Jahre alt.
Es besteht schon die Gefahr, dass es in öffentlichen Debatten einfacher wird,
den Holocaust zu leugnen. Das betrifft aber nicht den wissenschaftlichen
Diskurs: Die Forschung wird immer genügend stichhaltige Argumente und Beweise
haben, um Holocaust-Leugnern entgegenzutreten.
Was passiert mit einem historischen Ereignis, wenn seine letzten Zeugen
gestorben sind?
Es tritt aus der Phase der Zeitgeschichte aus, die als die Epoche der
Mitlebenden definiert ist – und tritt unwiderruflich in die Phase der
Geschichte ein. Das ist eine Zäsur, weil damit das lebende Band zum Ereignis
gekappt wird.
Vor sechs Jahren starb der letzte Veteran des Ersten Weltkrieges. Was
änderte das?
Für die Geschichtsforschung ändert sich mit dem Tod der letzten Zeitzeugen
nicht viel. Über die Weltkriege wie auch den Holocaust gibt es unzählige
Quellen, die zur Verfügung stehen. Dass der Erste Weltkrieg mit dem Tod des
letzten Veteranen definitiv Geschichte geworden ist, ist jedoch wichtig für
unsere Erinnerungskultur. Es gibt niemanden mehr, der direkt davon erzählen
kann, das Ereignis wird damit abstrakt. Und wie gesagt, es gibt keine Zeugen
mehr, die an Schulen oder Podien auftreten können – was zum Beispiel für die
Menschenrechtserziehung sehr wohl von Bedeutung ist.
Wie meinen Sie das?
Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte vom 10. Dezember 1948 war eine
direkte Reaktion auf die Verbrechen gegen die Menschlichkeit im Zweiten
Weltkrieg. Doch so unverzichtbar die Menschenrechte für unsere Kultur sind, so
haben sie doch auch eine abstrakte Dimension. Wenn man einen Zeugen vor sich
hat, von dem man weiss, dass er diese Verbrechen am eigenen Leib erlitten hat, dann
ist das ein starkes Argument für die Notwendigkeit der Menschenrechte. Es
fehlt, wenn es diese Zeugen nicht mehr gibt.
Umso mehr in einer Gesellschaft wie in Westeuropa, die Krieg und Genozid
schon seit Generationen nicht mehr erlebt hat?
Ja. Man vergisst leicht, wie brüchig der Boden unserer Zivilisation ist oder
warum man als Lehre aus dem Zweiten Weltkrieg die Idee eines geeinten Europa
proklamiert hat – nämlich, um für die Zukunft auszuschliessen, dass der
Kontinent nochmals einen Höllensturz durchmacht, wie Ian Kershaw das in seinem
neuen Buch nennt. Jetzt bewegen wir uns weg von diesen Ereignissen, die
Zeitzeugen sterben. Und immer mehr Leute halten ein geeintes Europa für
unwichtig. Damit wird eine Lehre der Geschichte schleichend dementiert.
Warum reichen die geschriebenen Zeitzeugnisse nicht aus, um die
Erinnerung wachzuhalten?
Man muss das auch wollen. Unsere Zeit tendiert zur Geschichtsvergessenheit. An
den Schulen hat das Fach an Präsenz in den Stundenplänen verloren, und es ist
auch nicht mehr so, dass eine historische Bildung als Voraussetzung für
bestimmte Berufe gilt. Vielen Menschen, gerade in Wohlstandsgesellschaften, die
lange keine Krise mehr durchlebt haben, genügt es, im Hier und Jetzt zu leben.
Sie verstehen nicht, dass Gegenwart geronnene Geschichte ist und nicht ein
voraussetzungsloser Zustand.
Zeigt sich das auch bei Ihren Studentinnen und Studenten?
Gut, das sind junge Leute, die sich offensichtlich für Geschichte
interessieren. Aber, ehrlich gesagt, ist es schon so, dass ihr Wissen zu Beginn
des Studiums sehr begrenzt ist. Ich staune manchmal, welches Wissen sie nicht
mitbringen.
Zum Beispiel?
In einem Seminar diskutierten wir über die deutsche Wiedervereinigung von 1990.
Ich fragte, warum im Herbst 1989, nach dem Fall der Mauer, noch völlig offen
war, ob die beiden Deutschland überhaupt wieder zusammenkommen würden. Das hat
die Studierenden ziemlich überrascht. Sie wussten so gut wie nichts über die
historisch begründeten Widerstände in Frankreich, England und der Sowjetunion. Da
wurde mir erst richtig bewusst: Diesen jungen Leuten fehlte die prägende
Erfahrung des Kalten Kriegs.
Was ja wieder zeigt, wie weit weg und abstrakt Geschichte ist, die man
nicht selber erlebt hat.
Genau. Das macht das allmähliche Verschwinden der Zeitzeugen zum Beispiel der
Shoah auch zu einem so grossen Problem.
Kann man nicht auch unbelasteter über Geschichte reden und arbeiten,
wenn niemand mehr lebt, der davon betroffen ist?
Das glaube ich nicht. Denn das Ereignis wird dadurch ja nicht verändert. Und gerade
wenn wir über Menschheitsverbrechen wie die Shoah nachdenken, darf es meiner
Meinung nach kein «unbelastetes Reden» geben.
Wie wichtig sind Zeugenberichte der Täter?
Das Zeugnis der Täter ist für die Öffentlichkeit weit weniger bedeutend als das
der Opfer. Denn man muss ja davon ausgehen, dass ihre Berichte verfälscht,
geschönt oder irreführend sind. Auch das Zeugnis eines reumütigen Täters muss
nicht zuverlässig sein, wie man etwa bei Albert Speer gesehen hat. Die Reue
kann auch eine Strategie sein, von eigenen Verstrickungen in politische
Verbrechen abzulenken.
Opfer sind zuverlässigere Zeugen?
Ja, sie sind weit zuverlässiger. Aber natürlich ist auch ihre Erinnerung
selektiv, und sie verändert sich mit den Jahren. Ein Zeitzeugenbericht ist kein
unberührter Rohstoff, den man nur zu heben braucht, um dann die authentische
Geschichte vor sich zu haben.
Die Zeugnisse werden erst in der Masse zuverlässig?
Ein einzelner Bericht kann durchaus zuverlässig sein. Aber ihre
wissenschaftliche Bedeutung erhalten die Berichte tatsächlich erst, indem man
sie mit anderen Quellen abgleicht. Die Shoah Foundation hat über 50 000 solche
Zeugnisse gesammelt. Diese hohe Zahl gleicher oder ähnlicher Schilderungen
bezeugt ihre Glaubwürdigkeit.
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