Die Idee, schwierige Schüler in normale Klassen zu integrieren, ist
schön. Doch in vielen Schulen funktioniert sie nicht. Die anderen Kinder kommen
zu kurz, die Lehrer sind überfordert. Der nächste grosse Bildungsstreit bahnt
sich an.
Störenfriede raus, NZZaS, 21.5. von Anja Burri
Die Lehrerinnen nennen Tobias das «Schüttelkind»: Es vergeht keine
Schulstunde, wo der Primarschüler nicht stört. Er bewegt seinen Stuhl permanent
von einem Bein aufs andere. Rüttelt nervös an seinem Pult. Wenn er etwas sagen
möchte, ruft er es ins Klassenzimmer. Und er steht immer wieder auf, um am
Wasserhahn zu trinken. Ein anderes Kind, nennen wir es Sebastian, verzögert den
Unterrichtsbeginn nach jeder Pause um mindestens zehn Minuten. Er zettelt
Streit mit anderen Schülern an oder kommentiert laut die Anweisungen seines
Lehrers. Mia bringt die Ordnung ihrer Klasse durcheinander, indem sie permanent
lügt. Mit erfundenen Geschichten schwärzt sie andere Kinder und die Lehrerin
an. Silas beisst seine Lehrerin. Thomas wirft sich regelmässig auf den Boden,
wenn die Klasse im Kreis sitzt. Regt sich Andreas auf, schlägt er wild um sich.
Niemand, nicht einmal seine herbeigerufene Mutter, kann ihn dann beruhigen.
Diese Fälle gibt es alle, nur die Namen wurden geändert. Die Kinder
werden von Fachleuten als «verhaltensauffällig» eingestuft. Dennoch besuchen
sie den normalen Unterricht in Regelklassen in Kindergärten und Primarschulen
im Kanton Zürich. Werner Heiniger unterrichtet in Winterthur eine vierte
Klasse. Er kennt ähnliche Situationen aus eigener Erfahrung. «Solche Kinder
können den Unterricht kaputtmachen», sagt er.
Tobias, Sebastian oder Mia hätte man bis vor ein paar Jahren noch in
eine Kleinklasse oder eine Sonderschule geschickt. Diese Zeiten sind vorbei. Es
ist ein gesetzlicher Auftrag, Schüler mit Lern- und Verhaltensschwierigkeiten
oder einer Behinderung wenn immer möglich in Regelklassen zu integrieren. Der
Fachbegriff dafür heisst schulische Integration. Seit 2004 verpflichtet das
Behindertengleichstellungsgesetz des Bundes die Schulen dazu; vielerorts haben
die Kantone ihre Volksschulgesetze entsprechend angepasst. Im Gegenzug erhalten
die Lehrer Verstärkung durch Heilpädagogen oder andere Fachpersonen.
Die Folge: Kinder, die Probleme machen, werden vermehrt abgeklärt.
Erhalten sie den Status Sonderschüler, bekommen ihre Lehrer pädagogische
Unterstützung. Experten gehen davon aus, dass heute 10 bis 15 Prozent der
Schüler so verhaltensauffällig sind, dass sie behandelt werden müssen. «Es ist
tatsächlich so, dass immer mehr Kindern und Jugendlichen ein spezieller
Förderbedarf zugesprochen wird», bestätigt Peter Lienhard, Professor an der
Interkantonalen Hochschule für Heilpädagogik in Zürich.
Am Rand der Belastbarkeit
Die verhaltensauffälligen Kinder sind nicht die einzigen in den
Klassenzimmern, die besondere Aufmerksamkeit benötigen. Auch Kinder mit Lern-
und Konzentrationsproblemen sowie fremdsprachige, kriegstraumatisierte und
geistig oder körperlich behinderte Schüler sollen gemäss dem
Integrationsgedanken Regelklassen besuchen. Hinzu kommt der Anspruch vieler
Eltern, dass die Schule sämtliche Defizite ihrer Kinder therapieren soll. Doch
laute Störenfriede beanspruchen ihre Lehrer und Heilpädagogen häufig so stark,
dass sich diese kaum mehr um Schüler mit anderen Schwächen kümmern können – und
schon gar nicht um jene Kinder, denen keine besonderen Bedürfnisse
zugeschrieben werden. Am Ende kommen alle zu kurz. Das gilt ganz besonders für
Quartiere, in denen viele Migranten und sozial benachteiligte Familien leben
und überdurchschnittlich viele Kinder Hilfe beim Lernen benötigen. Dort geraten
die Lehrer und Lehrerinnen an den Rand ihrer Belastbarkeit.
In Werner Heinigers vierter Klasse in Winterthur ist das Lerntempo für
sechs Kinder zu hoch. Eine Heilpädagogin kommt jede Woche für vier Lektionen
und arbeitet mit diesen Schülern. «Das reicht nirgendwo hin», sagt Heiniger.
Die meisten dieser Kinder seien nämlich in mehreren Fächern überfordert. Er
müsse sich dauernd entscheiden, welche Kinder er vernachlässige. Er wünsche
sich Kleinklassen, die früheren Sonderklassen, zurück.
Marion Heidelberger ist Vizepräsidentin des Verbands Schweizer
Lehrerinnen und Lehrer. Aussagen wie die des Winterthurer Lehrers Heiniger hört
sie oft. Im Moment beherrsche noch der Streit um den Fremdsprachenunterricht
und den Lehrplan 21 die Schlagzeilen, doch Heidelberger sagt: «Die Integration
wird das nächste bildungspolitische Erdbeben auslösen.» Sie war jahrelang
Lehrerin für integrative Förderung und ist eine Verfechterin der
Integrationsidee. Doch so, wie die Integration in vielen Schulgemeinden
umgesetzt werde, könne sie nicht funktionieren. Insbesondere die Integration
von Sonderschülern sei aufwendig. Es fehlten gute Konzepte, und oft stünden die
Ressourcen dafür nicht zur Verfügung, im Gegenteil: Bei der Bildung werde
gespart. «Das bedeutet grössere Klassen und immer mehr schwierige Schüler, die
integriert werden müssen.» Statt Heilpädagogen engagierten die Schulen in
gewissen Kantonen zudem Klassenassistenzen ohne spezifische Ausbildung.
Aufstand der Lehrer
In verschiedenen Kantonen haben die Lehrer begonnen, sich zu
organisieren. «Wir haben genug!», schrieben Annemarie Müllener und ihre
Kolleginnen aus der Berner Agglomerationsgemeinde Ostermundigen vor einigen
Wochen an Bernhard Pulver, den kantonalen Bildungsdirektor. Die Mehrheit der
Kinder leide, da auffällige Schüler zu viel Aufmerksamkeit in Anspruch nähmen.
10 bis 15 Prozent der Schulabgänger beendeten ihre Schulzeit mit einem
Misserfolg und fänden oft nur mit zusätzlicher Betreuung einen Platz in der
Gesellschaft. «Zu viele Lehrpersonen werden krank oder geben ihren Traumberuf
frustriert auf.» 806 Lehrer unterschrieben den Brief. Sie fordern eine Erhöhung
des sogenannten Betreuungsfaktors: Vom Kindergarten bis und mit der zweiten
Klasse brauche es so viele Mittel, dass in Klassen mit schwierigen und
lernschwachen Kindern zwei Lehrer unterrichten könnten. Derzeit finden
Gespräche mit Regierungsrat Pulver und seinen Mitarbeitern statt. Ob die teuren
Wünsche der Lehrer in Erfüllung gehen, ist fraglich. Der Kanton Bern muss
sparen. Nach den Sommerferien wird das nächste Sparpaket erwartet. Angesichts
solcher Verhältnisse ist es kühn, auf Zusatzausgaben in Millionenhöhe zu hoffen.
Auch in anderen Kantonen wehren sich die Lehrer. Der Verband der Zürcher
Mittelstufen-Lehrer traf sich gestern zu einer Klausur. «Für schwierige Fälle
wünschen wir uns wieder vermehrt Kleinklassen», sagt Verbandspräsident Harry
Huwyler. Zwischen dem gesamten Zürcher Lehrerverband und der kantonalen
Bildungsdirektion finden derzeit Gespräche statt, um Lösungen zu finden. In
Solothurn oder Graubünden haben die Berufsverbände Umfragen und
Forderungskataloge veröffentlicht. Im Grundsatz zweifeln die Lehrer die Idee
nicht an, auch schwache oder behinderte Kinder in die Regelklassen zu
integrieren. Doch die Art und Weise, wie das geschehe, müsse dringend
verbessert werden. In Solothurn will die Regierung mit Vorschlägen reagieren.
Es zeichnet sich ab, dass man schwierige Kinder für bestimmte Stunden aus der
Klasse nehmen will: Das System der Integration soll nicht abgeschafft, aber
doch abgeschwächt werden.
Wie immer, wenn es in den Schulen brodelt, schaltet sich die Politik
ein. Nicht nur die reformkritische SVP, auch FDP, BDP oder Grüne versuchen,
Einfluss zu nehmen. In mehreren Kantonen fordern die Politiker, dass bei der
Integration teilweise zurückbuchstabiert wird. In Basel-Stadt zwingt das
Parlament die Regierung, Einführungsklassen, in denen die erste Klasse während
zwei Jahren absolviert wird, zu prüfen. Im Aargau muss die Regierung
evaluieren, wie schwierige Schüler vorübergehend separat unterrichtet werden
könnten. In Zürich verlangt das Parlament eine Überprüfung des integrativen
Systems. In Graubünden hat der Grosse Rat beschlossen, Kleinklassen wieder zu
ermöglichen. Dieser Streit könnte vor Gericht enden. Die
Behindertenorganisation Procap Grischun hat angekündigt, das Recht
beeinträchtigter Kinder auf Integration notfalls einzuklagen.
Im Widerspruch zur Wissenschaft
Die Kritik der Lehrerschaft steht im Widerspruch zu den Befunden der
Wissenschaft. Forscher geben der Integration viel bessere Noten. «Die
bisherigen Befunde weisen alle in eine Richtung: Für Schüler mit
Lernschwierigkeiten bringt die integrierte Schulung in einer Regelklasse
Vorteile», schreiben die Experten der Interkantonalen Hochschule für
Heilpädagogik (HfH) in einer Übersicht. Und Schüler ohne besondere Defizite
würden in einer integrativen Klasse keineswegs gebremst. In einer Studie aus
Bern wurden die Bildungskarrieren von 450 Schülern bis ins Erwerbsleben
analysiert. Dabei zeigte sich, dass Kinder mit Lern- und Verhaltensproblemen,
die eine Regelklasse besuchten, signifikant höhere Chancen haben, im
Arbeitsleben Fuss zu fassen, als ehemalige «Kleinklässler».
Wie kommt es, dass die Wahrnehmung der Lehrer und der Forscher derart
auseinandergeht? HfH-Professor Peter Lienhard sieht die Probleme im
Schulalltag: «Wenn ich die politischen Gegebenheiten anschaue, dann bin ich
teilweise ernüchtert: Vielerorts integrieren Schulen engagiert und erfolgreich.
Aber: Eine angemessene Förderung dieser Kinder und Jugendlichen in der
Regelschule kostet Geld und braucht Fachwissen. Werden die Bedingungen
verschlechtert, zermürbt das die Lehrpersonen und senkt die Förderqualität.»
In diesem Punkt sind sich Wissenschaft und Lehrer also einig: Die
Integration ist eine hehre Idee, doch sie wird infrage gestellt durch die
Probleme, die sich nun im Schulalltag zeigen. Silvia Pool Maag verfolgt die
Debatte deshalb beunruhigt. Als Professorin für Inklusion und Diversität der
Pädagogischen Hochschule Zürich vertritt sie die Integration mit voller
Überzeugung. Die Integration aller Kinder sei ein grosses und wichtiges
Entwicklungsprojekt im Bildungssystem. «Am Ende geht es um die Frage, wie wir
als Gesellschaft mit Menschen mit Beeinträchtigungen umgehen.» Das dürfe nicht
die Aufgabe einer einzelnen Lehrperson sein. Integration sei ein Projekt, um
das sich Schulhäuser, Gemeinden, Kantone und der Bund gemeinsam kümmern
müssten. Nur so gelinge sie.
Die Debatte über die schulische Integration erinnert an den Anfang des
Sprachenstreits. Auch diese Idee, alle Kinder möglichst früh eine zweite
Landessprache zu lehren, ist im Grundsatz unbestritten. Der Streit entzündete sich
an der Umsetzung in den Klassenzimmern. Die Sorgen der Lehrer und Eltern gärten
so lange, bis sich die Politik einschaltete. Das Ergebnis: Volksinitiativen und
Abstimmungskämpfe sorgen derzeit für verhärtete Fronten. Die Forderungen der
Lehrer und politische Vorstösse zur Integration deuten darauf hin, dass der
nächste grosse Streit droht.
Die Zürcher Regierungsrätin und Bildungsdirektorin Silvia Steiner will
allerdings von einer solchen Lesart nichts wissen. Die Integration sei ein
«Dauerthema», keine Revolution. Pauschale Kritik weist Steiner aber zurück:
«Eine Lehrperson mit schwierigen Kindern in einer Klasse nimmt immer eine
Einzelfallbeurteilung vor. Doch wenn wir das ganze System analysieren, kommen
wir zum Schluss, dass sich die Integration gesamtheitlich lohnt», sagt sie. Sie
nehme die Lehrer ernst, sie wolle jedoch nicht das System auf den Kopf stellen.
«Es gibt Verbesserungsmöglichkeiten, aber es gibt keinen Weg zurück zur
Separation. Wir müssen die Schwachstellen verbessern.»
Keine Separation, das gilt auch für Tobias aus Zürich. Sein lärmiges
Verhalten war für die Lehrerinnen und die anderen Kinder untragbar geworden. Um
ihn in der Klasse zu halten, wählte man eine medizinische Lösung. Tobias nimmt
heute Ritalin.
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