Der
Schweizer Föderalismus blutet, womöglich stärker als jedes andere Merkmal des
Landes. Das scheint die Bürger kaum zu beunruhigen. In Gefahr sind so aber auch
populärere helvetische Eigenheiten wie die direkte Demokratie. Von Marcel
Amrein
«Wie
kurzweilig ist es, dass es nicht einen eintönigen Schlag Schweizer, sondern
dass es Zürcher und Berner, Unterwaldner und Neuenburger, Graubündner und
Basler gibt, und sogar zweierlei Basler!»
Föderalismus auf der Schlachtbank, NZZ, 18.5. von Marcel Amrein
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Kantone bilden die Schweiz. Aber nur selten ist heute eine Begeisterung über
die föderale Buntheit des Landes zu hören, wie sie der junge Karl in Gottfried
Kellers «Fähnlein der sieben Aufrechten» von sich gibt. Zwar spielen die
Schweizer unvermindert gerne auf die Eigentümlichkeiten der einzelnen Kantone
an, auf Dialekte und Mentalitäten, etikettieren Jurassier als aufmüpfig,
Aargauer als provinziell oder Walliser als trinkfest. Die staatsrechtliche Idee
des Föderalismus dagegen hat es deutlich schwerer. Sie erscheint vielen
gleichbedeutend mit Kantönligeist und Kirchturmpolitik.
Wie weit
weg der Föderalismus für einen grossen Teil der Bevölkerung ist, hat letzte
Woche eine von der Konferenz der Kantonsregierungen in Auftrag gegebene Studie
gezeigt. Für einen Drittel ist der Föderalismus ein «eher vages» Konzept, so
das Resultat der Umfrage, die eine Grundlage für die im Herbst anstehende 5.
Nationale Föderalismuskonferenz bilden soll. Die Hälfte der Befragten fühlt
sich nicht oder überhaupt nicht mit dem Föderalismus verbunden – je jünger,
desto weniger: Von den unter 30-Jährigen verspüren lediglich 37 Prozent
Verbundenheit, von den über 60-Jährigen allerdings auch nicht mehr als 57
Prozent.
Das
zeitigt Folgen in der Politik. Die Schweiz wird zusehends zentralistischer. Von
den Kinderkrippen über Bereiche wie Verkehr, Gesundheit, Bildung oder
Raumordnung bis zur Kulturförderung verstösst der Bund regelmässig gegen das
Subsidiaritätsprinzip, gemäss dem er eigentlich die Finger lassen sollte von
Aufgaben, die auch Kantone oder Gemeinden zu erledigen vermögen. Bundespolitiker
reden zwar gerne der Subsidiarität das Wort, doch im Einzelfall ist die
Verlockung der zentralen Regelung oft zu stark. Kantonale und lokale Politiker
wiederum lassen sich das durchaus gefallen, solange bei den Subventionen der
Rubel rollt.
Gegenüber
dem Föderalismus herrscht gewiss keine Feindseligkeit – aber weitverbreitete
Gleichgültigkeit. Ihm ergeht es ganz anders als anderen Spezialitäten des
Schweizer Staatswesens. Die Neutralität etwa erhält gemäss der jüngsten
ETH-Sicherheitsstudie den Beifall von nicht weniger als 95 Prozent der
Bevölkerung. Besonders ins Auge sticht aber der Unterschied zur direkten
Demokratie: Dieser wird seit Jahren eine gleichsam religiöse Verehrung zuteil.
Denkt die Bundeskanzlei ein bisschen zu laut über die Volksrechte nach, wittern
Hitzköpfe sofort eine Verschwörung zu deren Abschaffung. Dagegen warnt kaum
jemand vor einer Abschaffung des Föderalismus. Und wovor erst recht niemand
warnt: Es ist gerade das Schwinden des Föderalismus, das mit Abstand die
grösste Gefahr für die direkte Demokratie darstellt.
Horte der
Demokratie
Wenn
heute von der direkten Demokratie die Rede ist, meint man gewöhnlich diejenige
auf der Bundesebene. Meist nur diese erhält die wirklich starke
Medienbeachtung, zumal in der jüngsten Vergangenheit einige markante
Volksentscheide vorkamen, etwa das Nein zur Unternehmenssteuerreform III im
Februar oder das Ja zur Masseneinwanderungsinitiative drei Jahre zuvor. Doch
muss sich der Bürger eingestehen: Sein direkter Einfluss auf die Bundespolitik
ist eigentlich bescheiden. Referendumsvorlagen wie derzeit das komplexe
Energiegesetz muss er entweder ganz annehmen oder ganz ablehnen, obschon ihm
vielleicht Teile davon passen und andere nicht. Daneben wird er mit häufigen
Initiativen (nur für Verfassungsänderungen) bedient, die oft durch nachlässige
Detailarbeit der Urheber auffallen. Das ist es schon.
Wie viel
reicher sind die Mitwirkungsrechte auf den tieferen Staatsebenen! Da finden
sich im direktdemokratischen Werkzeugkasten auch Gesetzesinitiativen, Finanzreferenden,
Volksmotionen, Einzelinitiativen, konstruktive Referenden und anderes mehr. Die
einzelne Stimme ist bei kantonalen und vor allem kommunalen Abstimmungen viel
wertvoller als bei nationalen. Statt nur Ja oder Nein zu sagen, kann eine
Bürgerin selber die politischen Feinheiten mitgestalten, indem sie an
Gemeindeversammlungen teilnimmt oder eines der zahlreichen Milizämter
übernimmt. Ein Sitz in einem Gremium von Gemeinde oder Kanton ist ungleich
leichter zu erlangen, als in den exklusiven Kreis der 246 Bundesparlamentarier
aufgenommen zu werden. Doch ist das erstrebenswert, wenn bedeutende
Weichenstellungen nurmehr in Bern geschehen?
In
vermutlich keinem Staat ist die Staatsmacht so zersplittert wie in der Schweiz.
Erstens herrscht kein mächtiger Regierungs- oder Staatschef, sondern sieben
gleichberechtigte Bundesräte teilen sich die Exekutivgewalt. Gegenüber dem
Parlament haben diese, zweitens, deutlich weniger zu melden als Kabinette im
Ausland. Drittens sieht sich das Parlament seinerseits durch die Volksrechte
eingeschränkt. Hinzu kommt viertens der Föderalismus. Gerade der Föderalismus
ist wohl der stärkste Hebel bei der Verteilung der Staatsmacht, finden sich
doch die anderen drei Vorkehrungen analog auch in den tieferen föderalen
Einheiten wieder. Seine Schwächung ist umso ernster.
Sprachgrenzen
kaschieren
Es mag
also widersprüchlich erscheinen, wenn die Schweizerinnen und Schweizer die
direkte Demokratie hochjubeln und gleichzeitig den Föderalismus einigermassen
ignorieren. Neben direkter Demokratie und Milizsystem hängen aber noch andere
zentrale Dimensionen des Schweizer Staatsgedankens vom Föderalismus ab – etwa
die Viersprachigkeit, die in der weiten Welt draussen nicht selten als das
auffälligste Merkmal der Eidgenossenschaft wahrgenommen wird.
Wäre der
Mehrsprachigkeit mit einem zusätzlichen Schuss Zentralismus nicht besser
gedient? Diesen Schluss ziehen einige aus dem Umgang der widerborstigen
Thurgauer mit dem Frühfranzösisch. Doch sonst dürften die meisten der Ansicht
beipflichten, dass der Föderalismus enorm zur Wahrung des Sprachfriedens
beiträgt. Die Sprachminderheiten können so nach ihrem Gusto schalten und
walten, mag dies auch, anders als etwa in Belgien, nicht der ursprüngliche
Zweck des Schweizer Föderalismus sein. Hinzu kommt ein weiterer, selten
genannter Vorteil des Föderalismus: Indem er lauter kantonale und lokale
Identitäten nährt, weichen die Unterschiede zwischen den Sprachgruppen zwar
nicht, aber sie stechen weniger eklatant hervor. Die Sprachgrenze wird zur
Grenze unter vielen.
Auf
ähnliche Weise half der Föderalismus lange einem weiteren hehren Grundsatz der
Schweiz, der Konkordanz. Der Konkordanzgedanke gilt als geschwächt. Die
Parteien sind weniger zu gütlichem Einvernehmen bereit als früher, beharren auf
Maximalforderungen und erinnern bisweilen an Blöcke mit einer
Fraktionsdisziplin, wie man sie aus ausländischen Parlamenten kennt. Ein Grund
dafür: Die Nationalräte (und sogar die Ständeräte) besitzen heute tendenziell
schwächeres kantonales Bewusstsein, vielleicht auch, weil sie vermehrt auf die
alte Ochsentour in ihrem Heimatkanton verzichten und direkt in die gewichtiger
gewordene Bundespolitik einsteigen. Damit verschwinden Bande über die Parteien
hinweg wie auch weltanschauliche Schattierungen innerhalb der Parteien. Die
Parteigrenzen erscheinen ausgeprägter.
Der
älteste Pfeiler
Wohlgemerkt:
Niemand will die Schweiz formell in einen Zentralstaat umbauen. Die Gefahr
liegt vielmehr darin, dass der Föderalismus laufend weiter ausgehöhlt wird und
die Kantone und Gemeinden zu Potemkinschen Dörfern verkommen – folkloristischen
Fassaden aus einer Zeit glanzvoller Autonomie, hinter denen nicht mehr viel
Eigenes steckt. Selbst wer in einer solchen Entwicklung wenig Bedrohliches
erkennt, muss zugeben: Wenn der Föderalismus zerfällt, verliert die Schweiz ihr
ältestes und über Jahrhunderte dominantes Staatsprinzip.
Die
föderale Idee im weitesten Sinn stand am Anfang der mittelalterlichen
Eidgenossenschaft. Neutralität, Demokratie, Viersprachigkeit, Miliz, Konkordanz
– all die anderen Prinzipien kamen erst später hinzu. Ihr Gedeihen hängt aber
bis heute teilweise massgeblich vom Föderalismus ab. Schwindet dieser, nehmen
auch sie argen Schaden.
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