18. Mai 2017

Bildung wird zusehends zentralistischer

Der Schweizer Föderalismus blutet, womöglich stärker als jedes andere Merkmal des Landes. Das scheint die Bürger kaum zu beunruhigen. In Gefahr sind so aber auch populärere helvetische Eigenheiten wie die direkte Demokratie. Von Marcel Amrein
«Wie kurzweilig ist es, dass es nicht einen eintönigen Schlag Schweizer, sondern dass es Zürcher und Berner, Unterwaldner und Neuenburger, Graubündner und Basler gibt, und sogar zweierlei Basler!»
Föderalismus auf der Schlachtbank, NZZ, 18.5. von Marcel Amrein


26 Kantone bilden die Schweiz. Aber nur selten ist heute eine Begeisterung über die föderale Buntheit des Landes zu hören, wie sie der junge Karl in Gottfried Kellers «Fähnlein der sieben Aufrechten» von sich gibt. Zwar spielen die Schweizer unvermindert gerne auf die Eigentümlichkeiten der einzelnen Kantone an, auf Dialekte und Mentalitäten, etikettieren Jurassier als aufmüpfig, Aargauer als provinziell oder Walliser als trinkfest. Die staatsrechtliche Idee des Föderalismus dagegen hat es deutlich schwerer. Sie erscheint vielen gleichbedeutend mit Kantönligeist und Kirchturmpolitik.

Wie weit weg der Föderalismus für einen grossen Teil der Bevölkerung ist, hat letzte Woche eine von der Konferenz der Kantonsregierungen in Auftrag gegebene Studie gezeigt. Für einen Drittel ist der Föderalismus ein «eher vages» Konzept, so das Resultat der Umfrage, die eine Grundlage für die im Herbst anstehende 5. Nationale Föderalismuskonferenz bilden soll. Die Hälfte der Befragten fühlt sich nicht oder überhaupt nicht mit dem Föderalismus verbunden – je jünger, desto weniger: Von den unter 30-Jährigen verspüren lediglich 37 Prozent Verbundenheit, von den über 60-Jährigen allerdings auch nicht mehr als 57 Prozent.

Das zeitigt Folgen in der Politik. Die Schweiz wird zusehends zentralistischer. Von den Kinderkrippen über Bereiche wie Verkehr, Gesundheit, Bildung oder Raumordnung bis zur Kulturförderung verstösst der Bund regelmässig gegen das Subsidiaritätsprinzip, gemäss dem er eigentlich die Finger lassen sollte von Aufgaben, die auch Kantone oder Gemeinden zu erledigen vermögen. Bundespolitiker reden zwar gerne der Subsidiarität das Wort, doch im Einzelfall ist die Verlockung der zentralen Regelung oft zu stark. Kantonale und lokale Politiker wiederum lassen sich das durchaus gefallen, solange bei den Subventionen der Rubel rollt.

Gegenüber dem Föderalismus herrscht gewiss keine Feindseligkeit – aber weitverbreitete Gleichgültigkeit. Ihm ergeht es ganz anders als anderen Spezialitäten des Schweizer Staatswesens. Die Neutralität etwa erhält gemäss der jüngsten ETH-Sicherheitsstudie den Beifall von nicht weniger als 95 Prozent der Bevölkerung. Besonders ins Auge sticht aber der Unterschied zur direkten Demokratie: Dieser wird seit Jahren eine gleichsam religiöse Verehrung zuteil. Denkt die Bundeskanzlei ein bisschen zu laut über die Volksrechte nach, wittern Hitzköpfe sofort eine Verschwörung zu deren Abschaffung. Dagegen warnt kaum jemand vor einer Abschaffung des Föderalismus. Und wovor erst recht niemand warnt: Es ist gerade das Schwinden des Föderalismus, das mit Abstand die grösste Gefahr für die direkte Demokratie darstellt.

Horte der Demokratie
Wenn heute von der direkten Demokratie die Rede ist, meint man gewöhnlich diejenige auf der Bundesebene. Meist nur diese erhält die wirklich starke Medienbeachtung, zumal in der jüngsten Vergangenheit einige markante Volksentscheide vorkamen, etwa das Nein zur Unternehmenssteuerreform III im Februar oder das Ja zur Masseneinwanderungsinitiative drei Jahre zuvor. Doch muss sich der Bürger eingestehen: Sein direkter Einfluss auf die Bundespolitik ist eigentlich bescheiden. Referendumsvorlagen wie derzeit das komplexe Energiegesetz muss er entweder ganz annehmen oder ganz ablehnen, obschon ihm vielleicht Teile davon passen und andere nicht. Daneben wird er mit häufigen Initiativen (nur für Verfassungsänderungen) bedient, die oft durch nachlässige Detailarbeit der Urheber auffallen. Das ist es schon.

Wie viel reicher sind die Mitwirkungsrechte auf den tieferen Staatsebenen! Da finden sich im direktdemokratischen Werkzeugkasten auch Gesetzesinitiativen, Finanzreferenden, Volksmotionen, Einzelinitiativen, konstruktive Referenden und anderes mehr. Die einzelne Stimme ist bei kantonalen und vor allem kommunalen Abstimmungen viel wertvoller als bei nationalen. Statt nur Ja oder Nein zu sagen, kann eine Bürgerin selber die politischen Feinheiten mitgestalten, indem sie an Gemeindeversammlungen teilnimmt oder eines der zahlreichen Milizämter übernimmt. Ein Sitz in einem Gremium von Gemeinde oder Kanton ist ungleich leichter zu erlangen, als in den exklusiven Kreis der 246 Bundesparlamentarier aufgenommen zu werden. Doch ist das erstrebenswert, wenn bedeutende Weichenstellungen nurmehr in Bern geschehen?

In vermutlich keinem Staat ist die Staatsmacht so zersplittert wie in der Schweiz. Erstens herrscht kein mächtiger Regierungs- oder Staatschef, sondern sieben gleichberechtigte Bundesräte teilen sich die Exekutivgewalt. Gegenüber dem Parlament haben diese, zweitens, deutlich weniger zu melden als Kabinette im Ausland. Drittens sieht sich das Parlament seinerseits durch die Volksrechte eingeschränkt. Hinzu kommt viertens der Föderalismus. Gerade der Föderalismus ist wohl der stärkste Hebel bei der Verteilung der Staatsmacht, finden sich doch die anderen drei Vorkehrungen analog auch in den tieferen föderalen Einheiten wieder. Seine Schwächung ist umso ernster.

Sprachgrenzen kaschieren
Es mag also widersprüchlich erscheinen, wenn die Schweizerinnen und Schweizer die direkte Demokratie hochjubeln und gleichzeitig den Föderalismus einigermassen ignorieren. Neben direkter Demokratie und Milizsystem hängen aber noch andere zentrale Dimensionen des Schweizer Staatsgedankens vom Föderalismus ab – etwa die Viersprachigkeit, die in der weiten Welt draussen nicht selten als das auffälligste Merkmal der Eidgenossenschaft wahrgenommen wird.

Wäre der Mehrsprachigkeit mit einem zusätzlichen Schuss Zentralismus nicht besser gedient? Diesen Schluss ziehen einige aus dem Umgang der widerborstigen Thurgauer mit dem Frühfranzösisch. Doch sonst dürften die meisten der Ansicht beipflichten, dass der Föderalismus enorm zur Wahrung des Sprachfriedens beiträgt. Die Sprachminderheiten können so nach ihrem Gusto schalten und walten, mag dies auch, anders als etwa in Belgien, nicht der ursprüngliche Zweck des Schweizer Föderalismus sein. Hinzu kommt ein weiterer, selten genannter Vorteil des Föderalismus: Indem er lauter kantonale und lokale Identitäten nährt, weichen die Unterschiede zwischen den Sprachgruppen zwar nicht, aber sie stechen weniger eklatant hervor. Die Sprachgrenze wird zur Grenze unter vielen.
Auf ähnliche Weise half der Föderalismus lange einem weiteren hehren Grundsatz der Schweiz, der Konkordanz. Der Konkordanzgedanke gilt als geschwächt. Die Parteien sind weniger zu gütlichem Einvernehmen bereit als früher, beharren auf Maximalforderungen und erinnern bisweilen an Blöcke mit einer Fraktionsdisziplin, wie man sie aus ausländischen Parlamenten kennt. Ein Grund dafür: Die Nationalräte (und sogar die Ständeräte) besitzen heute tendenziell schwächeres kantonales Bewusstsein, vielleicht auch, weil sie vermehrt auf die alte Ochsentour in ihrem Heimatkanton verzichten und direkt in die gewichtiger gewordene Bundespolitik einsteigen. Damit verschwinden Bande über die Parteien hinweg wie auch weltanschauliche Schattierungen innerhalb der Parteien. Die Parteigrenzen erscheinen ausgeprägter.

Der älteste Pfeiler
Wohlgemerkt: Niemand will die Schweiz formell in einen Zentralstaat umbauen. Die Gefahr liegt vielmehr darin, dass der Föderalismus laufend weiter ausgehöhlt wird und die Kantone und Gemeinden zu Potemkinschen Dörfern verkommen – folkloristischen Fassaden aus einer Zeit glanzvoller Autonomie, hinter denen nicht mehr viel Eigenes steckt. Selbst wer in einer solchen Entwicklung wenig Bedrohliches erkennt, muss zugeben: Wenn der Föderalismus zerfällt, verliert die Schweiz ihr ältestes und über Jahrhunderte dominantes Staatsprinzip.


Die föderale Idee im weitesten Sinn stand am Anfang der mittelalterlichen Eidgenossenschaft. Neutralität, Demokratie, Viersprachigkeit, Miliz, Konkordanz – all die anderen Prinzipien kamen erst später hinzu. Ihr Gedeihen hängt aber bis heute teilweise massgeblich vom Föderalismus ab. Schwindet dieser, nehmen auch sie argen Schaden. 

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen