Wenn die
Thurgauer nicht mehr gewillt sind, Französisch zu lernen, so könnten wir
Genfer uns auch fragen, weshalb wir diesen Kanton noch per
Finanzausgleich unterstützen sollten.
Angriff auf die Schweiz, Weltwoche, 18.5. von Antonio Hodgers
In einem
Land, das so föderalistisch und vielfältig ist wie das unsere, sind es
letztendlich nur wenige Aspekte, die das Nationalgefühl ausmachen. Ich würde
sagen, es gibt drei Grundlagen, die unsere Kantone zusammenhalten. Die erste
Grundlage bilden die Institutionen und die direkte Demokratie, verbunden mit
einer Kultur des pragmatischen Dialogs. Die zweite ist der Finanzausgleich
zwischen reichen und weniger vermögenden Kantonen, was bedeutet, dass zum
Beispiel Genf im Jahr 2016 245 Millionen Franken an Kantone wie den Thurgau
bezahlt hat, welcher 225 Millionen Franken erhalten hat. In einer Gemeinschaft
ist es normal, dass die Stärkeren den Schwächeren helfen. Die dritte besteht in
der aktiven Mehrsprachigkeit. Das heisst nicht bloss, dass es in unserem Land
vier Landessprachen gibt, sondern auch, dass jedes Mitglied der Gemeinschaft
sich bemüht, die anderen zu verstehen. Jeder soll sich in seiner Sprache
ausdrücken können, was bedeutet, dass jeder die Sprache des anderen zumindest
verstehen muss. So funktionieren etwa das eidgenössische Parlament und die
Bundesverwaltung. Ich würde dies als «Pakt der Sprachen» bezeichnen.
Symbolische
Aspekte
Die
Entscheidung des Kantons Thurgau, das Frühfranzösisch abzuschaffen, ist ganz
klar eine Verletzung dieses Pakts und demzufolge auch der nationalen Einheit.
Diese Entscheidung widerspricht nicht nur dem interkantonalen Konkordat zu
diesem Thema, sie könnte auch noch andere Kantone ermutigen, diesen Weg
einzuschlagen. Wenn einige ihre Bemühungen reduzieren, wieso sollten es andere
nicht auch tun? Und wenn jeder Kanton das Lernniveau für den Erwerb der
Landessprachen senkt, werden die Schweizer einander weniger gut verstehen. Und
wenn sie einander weniger gut verstehen, werden sie sich untereinander auch
weniger solidarisch zeigen. Der Angriff auf den Pakt der Sprachen wird deshalb
zu einem schwächeren nationalen Zusammenhalt führen, und Kantone wie Genf
werden sich fragen, wozu sie weiterhin jedes Jahr Kantone wie den Thurgau
unterstützen sollen.
Man kann
über die pädagogischen Argumente hinsichtlich des Lerntempos beim
Fremdsprachenerwerb natürlich diskutieren, aber die deutschsprachigen
Volksvertreter müssen sich bewusst sein, dass der symbolische Aspekt dieser
Auseinandersetzung von grösster Bedeutung ist. Denn was die Romands hier im
Grunde zu hören bekommen, ist, dass für gewisse Deutschsprachige die
französische Sprache weniger wichtig ist als die englische. Die Thurgauer
Behörden sagen den Kindern: «Es ist wichtiger, eine Fremdsprache zu lernen als
eine Landessprache; es ist wichtiger, dass du dich mit jemandem austauschen
kannst, der in einem weit entfernten Land wohnt, als mit deinen Nachbarn in der
Romandie.» In diesem Zusammenhang spricht die Tatsache Bände, dass im Text das
Französische als «zweite Fremdsprache» bezeichnet wird . . . Im
Gegensatz zu dem, was in der Schweizer Verfassung steht, in der das
Französische als Landessprache eingestuft wird, degradiert man es hier zur
Fremdsprache.
Sollte
sich dieser Wandel, den der Thurgau angestossen hat, landesweit durchsetzen,
könnte es in der Schweiz nach ein oder zwei Generationen so aussehen, dass de
facto das Englische die einzige Landessprache sein wird. Deutsch, Französisch,
Italienisch und Romanisch wären dann nur noch Regionalsprachen. Wenn die
englische Sprache die neue Lingua franca in den Diskussionen unter Schweizern
wird, wozu noch die anderen Landessprachen erlernen? Das Englische würde dann
zur nationalen und internationalen Verkehrssprache. Natürlich blieben durch die
Nachbarschaft von Deutschland, Frankreich und Italien diese Sprachen weiterhin
interessant, aber ihr Status als Symbol für eine bestimmte Vorstellung von
Schweizer Identität würde möglicherweise verlorengehen.
Es ist
sehr interessant, dass der Kampf gegen das Frühfranzösisch in dieser
Auseinandersetzung hauptsächlich von der SVP geführt wird, einer Partei, die
sich brüstet, die patriotischste von allen zu sein. Wie wir jedoch gesehen
haben, ist der Angriff auf die französische Sprache nichts anderes als die
Herabsetzung eines wichtigen Teils unserer nationalen Identität, also dessen,
was unser Land besonders und reich macht. Die SVP vermittelt so den Romands das
Gefühl, dass sie zweitklassige Schweizer seien – dass es nicht besonders
wichtig sei, sie zu verstehen. Es ist paradox, aber die SVP zieht es offenbar
vor, die Kinder so zu unterrichten, dass sie Fremde besser verstehen können als
die eigenen Mitbürger.
Abschliessend
darf man nicht vergessen, dass sprachliche Veränderungen in einer Gesellschaft
zwar langsam greifen, aber dafür nachhaltig. Wenn wir den Dingen jetzt ihren Lauf
lassen, wird es sehr schwierig werden, diese Entwicklung wieder rückgängig zu
machen. Das Englisch beherrscht als Sprache der Globalisierung unbestreitbar
die Welt, und es ist unerlässlich, unsere Jugend so auszubilden, dass sie sich
darin zurechtfindet. Aber der Aufbau unserer Nation über die Jahrhunderte
zeigt, dass wir vor allem eine Willensnation sind – wenn uns der Wille
abhandenkommt, einander zu verstehen, werden wir keine Nation mehr sein.
Antonio
Hodgers ist Regierungsrat des Kantons Genf. Er sass von 2007 bis 2013 für die
Grünen im Nationalrat.
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