14. Mai 2017

Abwertung des Geschichtsunterrichts bleibt nicht ohne Folgen

Reformation, Französische Revolution, Bolschewismus, Holocaust: Immer mehr Schüler wissen darüber – nichts. Das gilt selbst für das 20.Jahrhundert, dessen historische Katas­trophen mehr und mehr im Nebel des Vergessens in eine diffuse Vergangenheit verschwinden, die anscheinend mit dem Heute etwa so viel zu tun hat wie die Schlacht bei Bibracte mit dem Brexit. Es droht weit verbreitete historische Amnesie.
Der fatale Niedergang eines Schulfachs, Thurgauer Zeitung, 11.5. von Mario Andreotti


Daran ist unser Bildungssystem nicht unschuldig, kommt doch das Fach Geschichte, wenn es denn überhaupt noch unterrichtet wird, an den meisten Schulen zu kurz. Dies hat wie jeder schulische Prozess verschiedene Gründe: Da ist der schon länger anhaltende Abschied von der Faktenvermittlung im Unterricht, der durch die neuen, auf Kompetenzen basierenden Lehrpläne noch verschärft wird und der gerade einem Fach wie Geschichte, wo es vorwiegend um Fakten geht, besonders schadet. Dazu kommt, vor allem im Zusammenhang mit dem Mangel an Ingenieuren und Technikern, die zunehmende Ausrichtung unserer Bildungspolitik auf die sog. Mint-Fächer, d.h. auf Mathematik, Informatik, Naturwissenschaft und Technik. Und nicht zuletzt ist es der Lehrplan 21, mit dem in der Schweiz Geschichte als eigenständiges Fach auf der Sekundarstufe I verschwindet und durch das Sammelfach «Räume, Zeiten, Gesellschaften» ersetzt wird, wobei weniger Lektionen dafür zur Verfügung stehen. Schliesslich wird Geschichte in vielen Schulen nicht mehr chronologisch, sondern in «Längsschnitten» zu Themen wie etwa «Krieg und Frieden», «Handel im Wandel» oder «Migration» unterrichtet. Das dient angeblich dem tieferen Verständnis von Zusammenhängen, fördert in Wirklichkeit aber Unwissenheit und Oberflächlichkeit. Die Vorstellung vom zeitlichen Nacheinander weicht einem Durcheinander; da gibt es keine Epochen, keine geschichtlichen Zeitalter mehr.

Diese Abwertung des Geschichtsunterrichts an unseren Schulen bleibt nicht ohne Folgen. Das Geschichtswissen unserer Jugendlichen nimmt drastisch ab, so dass vielen unter ihnen wichtigste historische Ereignisse nur noch bruchstückhaft bekannt sind. Eine Studie hat vor einigen Jahren in Deutschland ergeben, dass nur jeder Dritte weiss, wer die Mauer in Berlin errichtet hat, und dass viele sich nicht schlüssig waren, ob es sich beim Nazi-Regime und bei der DDR um Diktaturen gehandelt hat. Es ist zu befürchten, dass die Ergebnisse in der Schweiz nicht besser wären.

Wer so abwertend mit der Geschichte umgeht, darf sich nicht wundern, wenn junge Leute, die nie etwas von der Entstehung und dem Wert der Demokratie in der Antike gehört haben, sich an Abstimmungen und Wahlen nicht beteiligen, wenn Schüler immer weniger in der Lage sind, Lehren aus der Geschichte, etwa aus sozialen und politischen Konflikten, zu ziehen, wenn rechts- und linksradikale Gewalt zunimmt, der Nationalismus, wie wir ihn zurzeit nicht nur in den USA, in Russland, Ungarn und der Türkei erleben, wieder als Lösung aller Probleme der Gegenwart gilt. Dabei ist es gerade dieser Nationalismus, der unsern Kontinent in der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts vergiftet und schliesslich zu zwei Weltkriegen und zum Holocaust mit unvorstellbaren Grausamkeiten und einer unvorstellbaren Zahl von Opfern geführt hat. Aber um das zu erkennen, bedarf es eben einer breiten geschichtspolitischen Bildung, für die es heute freilich düster aussieht.

Spannender und vor allem durchgehender Geschichtsunterricht dürfte das wirkungsvollste Mittel sein, um die rasch voranschreitende Geschichtsvergessenheit aufzuhalten. Und der Geschichtsunterricht muss von Fachlehrern erteilt werden und nicht von Lehrern, die das Fach nicht studiert haben oder es abdecken. Denn nimmt die Tendenz zur Vernachlässigung historischer Bildung weiterhin zu, dann wird sich das bewahrheiten, was der spanische Philosoph George Santayana vor über hundert Jahren gesagt hat: Wer die Vergangenheit nicht kennt, ist dazu verdammt, sie zu wiederholen. 

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