Reformation,
Französische Revolution, Bolschewismus, Holocaust: Immer mehr Schüler wissen
darüber – nichts. Das gilt selbst für das 20.Jahrhundert, dessen historische
Katastrophen mehr und mehr im Nebel des Vergessens in eine diffuse
Vergangenheit verschwinden, die anscheinend mit dem Heute etwa so viel zu tun
hat wie die Schlacht bei Bibracte mit dem Brexit. Es droht weit verbreitete
historische Amnesie.
Der fatale Niedergang eines Schulfachs, Thurgauer Zeitung, 11.5. von Mario Andreotti
Daran ist
unser Bildungssystem nicht unschuldig, kommt doch das Fach Geschichte, wenn es
denn überhaupt noch unterrichtet wird, an den meisten Schulen zu kurz. Dies hat
wie jeder schulische Prozess verschiedene Gründe: Da ist der schon länger
anhaltende Abschied von der Faktenvermittlung im Unterricht, der durch die
neuen, auf Kompetenzen basierenden Lehrpläne noch verschärft wird und der
gerade einem Fach wie Geschichte, wo es vorwiegend um Fakten geht, besonders
schadet. Dazu kommt, vor allem im Zusammenhang mit dem Mangel an Ingenieuren
und Technikern, die zunehmende Ausrichtung unserer Bildungspolitik auf die sog.
Mint-Fächer, d.h. auf Mathematik, Informatik, Naturwissenschaft und Technik.
Und nicht zuletzt ist es der Lehrplan 21, mit dem in der Schweiz Geschichte als
eigenständiges Fach auf der Sekundarstufe I verschwindet und durch das
Sammelfach «Räume, Zeiten, Gesellschaften» ersetzt wird, wobei weniger
Lektionen dafür zur Verfügung stehen. Schliesslich wird Geschichte in vielen
Schulen nicht mehr chronologisch, sondern in «Längsschnitten» zu Themen wie
etwa «Krieg und Frieden», «Handel im Wandel» oder «Migration» unterrichtet. Das
dient angeblich dem tieferen Verständnis von Zusammenhängen, fördert in
Wirklichkeit aber Unwissenheit und Oberflächlichkeit. Die Vorstellung vom
zeitlichen Nacheinander weicht einem Durcheinander; da gibt es keine Epochen,
keine geschichtlichen Zeitalter mehr.
Diese
Abwertung des Geschichtsunterrichts an unseren Schulen bleibt nicht ohne
Folgen. Das Geschichtswissen unserer Jugendlichen nimmt drastisch ab, so dass
vielen unter ihnen wichtigste historische Ereignisse nur noch bruchstückhaft
bekannt sind. Eine Studie hat vor einigen Jahren in Deutschland ergeben, dass
nur jeder Dritte weiss, wer die Mauer in Berlin errichtet hat, und dass viele
sich nicht schlüssig waren, ob es sich beim Nazi-Regime und bei der DDR um
Diktaturen gehandelt hat. Es ist zu befürchten, dass die Ergebnisse in der
Schweiz nicht besser wären.
Wer so
abwertend mit der Geschichte umgeht, darf sich nicht wundern, wenn junge Leute,
die nie etwas von der Entstehung und dem Wert der Demokratie in der Antike
gehört haben, sich an Abstimmungen und Wahlen nicht beteiligen, wenn Schüler
immer weniger in der Lage sind, Lehren aus der Geschichte, etwa aus sozialen
und politischen Konflikten, zu ziehen, wenn rechts- und linksradikale Gewalt
zunimmt, der Nationalismus, wie wir ihn zurzeit nicht nur in den USA, in
Russland, Ungarn und der Türkei erleben, wieder als Lösung aller Probleme der
Gegenwart gilt. Dabei ist es gerade dieser Nationalismus, der unsern Kontinent
in der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts vergiftet und schliesslich zu
zwei Weltkriegen und zum Holocaust mit unvorstellbaren Grausamkeiten und einer
unvorstellbaren Zahl von Opfern geführt hat. Aber um das zu erkennen, bedarf es
eben einer breiten geschichtspolitischen Bildung, für die es heute freilich
düster aussieht.
Spannender
und vor allem durchgehender Geschichtsunterricht dürfte das wirkungsvollste
Mittel sein, um die rasch voranschreitende Geschichtsvergessenheit aufzuhalten.
Und der Geschichtsunterricht muss von Fachlehrern erteilt werden und nicht von
Lehrern, die das Fach nicht studiert haben oder es abdecken. Denn nimmt die
Tendenz zur Vernachlässigung historischer Bildung weiterhin zu, dann wird sich
das bewahrheiten, was der spanische Philosoph George Santayana vor über hundert
Jahren gesagt hat: Wer die Vergangenheit nicht kennt, ist dazu verdammt, sie zu
wiederholen.
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