Eine meiner Töchter probt in diesen Tagen für eine Theateraufführung in
ihrer Schule so gut wie Tag und Nacht. Weil das so viel Zeit in Anspruch nimmt,
hat die Schulleitung der jungen Theatertruppe sogar die Nachmittage frei
gegeben. Am Abend kommt Paula jeweils nicht vor zehn Uhr nach Hause, und der
eine oder andere Lehrer gratuliert ihr und dispensiert sie gar von einer
Prüfung; ausgebildete Theaterpädagogen leiten die Schüler an und führen sie in
eine Welt ein, die sie nicht kannten. Mit anderen Worten: Vorbildlich werden
die Jugendlichen darin bestärkt, einmal etwas anderes zu tun als das Übliche,
zu riskieren, dass sie vor lauter Publikum den Text verlieren, zu wagen, sich
vielleicht lächerlich zu machen – und das alles aus eigenem Antrieb.
Bis die Ewigkeit grau wird, Basler Zeitung, 1.4. Kommentar von Markus Somm
Wäre da nicht die Tatsache, dass die jungen Theaterleute auch ihr Stück
selbst verfasst haben, was mich am Familientisch zum Gespött machte, weil ich
– natürlich der konservative Vater – das monierte: Warum nicht von den Besten
lernen? Warum nicht Brecht aufführen oder Lessing oder meinetwegen Sartre?
Warum müssen wir uns wieder irgendein Experimentaltheater anhören, wo meine
Tochter womöglich schreiend und ohne kohärenten Text über die Bühne rennt,
während ihre Kollegen vorne auf dem Boden kriechen und Unverständliches von
sich geben? Theater heute: Alle können alles nicht.
Kaum hatte ich diese ernsten Bedenken in ziviler Art und Weise
vorgebracht, fielen fünf Kinder unterschiedlichen Alters über mich her, was ich
gewohnt bin, auch wenn ich es nicht gutheisse, selbst in den eigenen vier
Wänden – und selbstverständlich fiel mir auch meine brillante Frau in den
Rücken. Stur, eitel, altmodisch, unbelehrbar, Spinner: Auch diese Auswahl von
ambivalenten Liebeserklärungen vonseiten meiner Familie konnten mich nicht von
der Einsicht abbringen, dass ich recht hatte – was leider niemand in meiner
Familie zugab. Auf dem Rückzug erzählte ich von meinen Theatererfahrungen in
der Schule, als wir etwa die «Matrone von Ephesus» inszenierten, ein Fragment
von Lessing auf Grundlage eines Textes von Petron, dem römischen Dandy. Ein
Stück, das so fragmentarisch war, dass es eigentlich niemand verstand, mit
anderen Worten: kein gutes Argument, um meine tobenden Kinder zu besänftigen.
Sang- und klanglos ging ich unter.
Was kümmert uns Shakespeare?
Dabei meinte ich es ernst: Es gehört zu den intellektuellen Pestilenzen
unserer Zeit, dass man das Vergangene unserer westlichen Kultur kaum schätzt, geschweige
denn pflegt. Von einem Kanon der Literatur will niemand mehr etwas wissen, von
alten Sprachen ohnehin nicht, Englisch statt Latein, besser noch Mandarin, um
sich ja nicht dem Vorwurf auszusetzen, allzu Eurozentrisch zu denken;
jedermann traut sich zu, ein neuer Shakespeare zu sein, und kritzelt irgendwelche
Drama-ähnliche Halbsätze hin, sofern ihm der Name Shakespeare überhaupt etwas
sagt.
Jeder Schüler glaubt, es besser zu können als Schiller, mancher Lehrer
schert sich darum, dass es auch vor ihm intelligente Pädagogen gab, zu viele
Bildungspolitiker meinen, die Schule müsste den Schülern die Zukunft vermitteln
statt der Vergangenheit. Sie irren sich. Wenn es einen Grund gibt, warum die
Menschheit Fortschritte gemacht hat in den vergangenen Jahrtausenden, dann weil
sie sich vorwiegend mit der Vergangenheit auseinandergesetzt und diese
Erkenntnisse weitergegeben hat. Die echten Innovationen gelangen jenen, die
äusserst genau wussten, was schon war. Es ist auffällig: Der grösste Teil der
Weltliteratur besteht nicht aus Pamphleten der Zukunftsforschung, nicht aus
Prognosen und Spekulationen, selten auch aus wirklich neuem Text oder neuem
Stoff, sondern der grösste Teil der Weltliteratur sind Geschichten, die
erzählen, wie es gewesen war. Ob Homer oder das Alte Testament: Es sind
Geschichten aus alten, alten Zeiten, die von Dingen handeln, die eigentlich niemanden
mehr zu kümmern bräuchten.
Und doch sind das die Geschichten, von denen die Menschen
jahrhundertelang nicht genug hören konnten – bis in unserer Zeit eine
Generation antrat, die alles besser zu wissen glaubte als alle anderen hundert
Generationen vor ihnen. Sie hielten sich für progressiv, dabei waren sie nur
dumm.
Der Zürcher Pädagoge Allan Guggenbühl hat mich auf diesen Gedanken
gebracht, indem er mich darauf hinwies, dass die heutige, von Bildungsreformen
verseuchte Schule genau auf diese Fehlannahme setzt: Man will die Zukunft vermitteln,
Normatives beibringen wie «soziale Kompetenz» oder die Kunst der Selbstkritik.
Man klärt auf über erneuerbare Energien oder Drogengefahren und
digitalisiert, wo immer möglich, man trainiert autonomes Lernen und Überleben
im Internet, doch die Regeln der Vergangenheit, der Stoff, der seit Langem da
ist, den es zu beherrschen gilt, bevor man die Zukunft meistert – er kommt
immer weniger vor. Aus prinzipiellen Gründen, so Guggenbühl, eignet sich die
Schule aber nicht als Zukunftswerkstatt, auch nicht als Vermittlerin der Dinge,
die sein könnten oder sein sollten, weil die Schule auf Regeln angewiesen ist:
Sie lehrt die Dinge, die sind.
Man kann einem Lehrer nicht auftragen, etwas zu lehren, das noch gar
nicht existiert. Wenn es eine zutiefst konservative Institution gibt, dann die
Schule, weil sie nur Erkenntnisse aus der Vergangenheit, gesicherte Fakten und
bekannte Zahlen, bestehende und bewährte Texte, anerkannte Autoren und gültige
Theorien weitergeben kann, sich aber stattdessen mit der Zukunft schwertut.
Innovationen lassen sich nicht lehren, sobald man das meint, sind es gar keine
mehr. Soziales Verhalten ohne bekannte Regeln einzuüben, ist unmöglich,
weswegen es mehr Sinn macht, durchzusetzen, dass ein Schüler die Hausaufgaben
pünktlich und sauber abliefert, als ihn im Sinne der Kompetenzschulung
aufzufordern, sich Gedanken zu machen, warum es ihm nicht gelungen ist, an die
Hausaufgaben zu denken.
Süsser Pudding
Wenige Tage nach dieser verheerenden Debatte am Familientisch erfahre
ich von Max, einem meiner Söhne, dass seine Klasse nun die «Räuber» von
Schiller liest. Halleluja. Doch Max findet die «Räuber» grauenhaft, eine
Sprache wie süsser Pudding, eine Handlung, so realistisch wie ein schlechter
Witz, ein Thema: die Revolution, das ihn lächerlich dünkt. Immerhin, Goethes
«Faust» lasen sie zuvor, und den fand Max fantastisch.
Wir verwickeln uns in ein Gespräch über Schiller als politischer Autor,
der seine Protagonisten in den deutschen Wald schickte, um die Rebellion gegen
alles und ohne Grund zu proben, ein Thema, so sage ich ihm, das doch gerade die
Jungen immer wieder faszinieren müsste, ohne dass ich, ich denke an die
nächsten Wahlen, meinen Sohn hätte dazu auffordern wollen – und Max scheint
ergriffen. Triumphiere ich? «Und diese Flamme brenne in deinem Busen, bis die
Ewigkeit grau wird!», sagt Karl Moor in den «Räubern». Busen? Süsser Pudding.
Natürlich besuchen wir die Premiere von Paulas Stück.
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