Was soll
die Schule Kindern beibringen? Wissen oder Können? Zwei Bildungsexperten
streiten sich:
PETRA
STANAT
ist Direktorin des Instituts zur Qualitätsentwicklung im Bildungswesen
an der Humboldt-Universität Berlin.
HANS
PETER KLEIN
lehrt Didaktik der Biowissenschaften an der Goethe-Universität
Frankfurt/Main.
Einsen für alle, Die Zeit, 20.3. von Thomas Kerstan und Martin Spiewak
DIE ZEIT: Herr Klein, hat Frau Stanat
die deutsche Schule schlechter gemacht?
Hans
Peter Klein: Wieso?
ZEIT: Frau Stanat steht dem
Institut vor, das über Bildungsstandards und Leistungstests eine bestimmte
Pädagogik in die Schulen bringt, von der Sie als Didaktiker sagen, sie richte
großen Schaden an.
Klein: Persönlich will ich
niemandem irgendetwas vorwerfen. Fest steht jedoch, dass wir seit Beginn der
nuller Jahre, also nach dem ersten Pisa-Schock, eine radikale Umstellung im
deutschen Schulsystem erlebt haben. Um das Niveau zu vereinheitlichen, wurden
bestimmte Kompetenzen festgelegt, welche alle Schüler je nach Fach und
Klassenstufe beherrschen sollten.
ZEIT: So etwas gab es doch immer
schon, nur hat man es vielleicht nicht Kompetenz genannt.
Klein: Das haben viele Lehrer
anfangs auch gesagt. Stück für Stück wurde jedoch deutlich, dass die
Fachinhalte in diesem Kompetenzkonzept weit weniger als früher eine Rolle
spielen. Vielmehr geht es nun darum, dass die Schüler mit vorgegebenen Texten,
Grafiken und Tabellen umgehen können, deren Inhalte beliebig austauschbar sind.
Es geht also nicht mehr um die Sache selbst, sondern nur noch darum, inwieweit
sie uns von Nutzen sein kann.
ZEIT: Woran machen Sie das fest?
Klein: Wir haben uns die Abituraufgaben verschiedener
Bundesländer angeschaut. Auf den ersten Blick wirken sie recht anspruchsvoll,
mit einer Menge Text und vielen Grafiken. Bei genauerem Hinsehen stellt man
jedoch fest, dass ein wichtiger Teil der Prüfung darin besteht, zu reproduzieren,
was im Aufgabentext bereits steht. Das heißt, auch wer nichts weiß, kann sie
bestehen.
ZEIT: Frau Stanat, da scheint
etwas ziemlich schiefgelaufen zu sein mit der Kompetenzorientierung.
Petra
Stanat: In
der Argumentation von Herrn Klein geht vieles durcheinander und wird zu einem
düsteren Bild vermengt, das zeigen soll: In der Schule wird alles immer
schlimmer, und schuld daran ist die Kompetenzorientierung.
ZEIT: Dann klären Sie uns auf:
Was soll die Kompetenzorientierung?
Stanat: Kern des Konzeptes ist das
verständnisvolle Lernen. Dabei geht es erst einmal um Fachkenntnisse. In
Mathematik zum Beispiel: Wie lautet der Satz des Pythagoras?
Die Schüler müssen jedoch auch etwas damit anfangen können. Sie müssen in der
Lage sein, mithilfe ihrer fachlichen Kenntnisse, Fähigkeiten und Fertigkeiten
Probleme aus der realen Welt in die Welt der Mathematik zu übertragen und dort
zu lösen.
ZEIT: Das ist doch nicht neu.
Stanat: Stimmt. Aus der Schulforschung
wissen wir jedoch, dass im Mathematikunterricht noch zu sehr das Rechnen im
Mittelpunkt steht. Die Lehrkräfte erklären zum Beispiel den Satz des Pythagoras
und lassen die Klasse dann mehrfach damit rechnen, legen aber zu wenig Wert
darauf, dass sie die mathematischen Zusammenhänge verstehen und zur Lösung von
Problemen anwenden können. Solche Aspekte will die Kompetenzorientierung
stärken.
Klein: Den Satz des Pythagoras
sollte man dabei aber immer noch lernen.
Stanat: Selbstverständlich.
Kompetenz ohne Fachwissen, sagte mal ein Mathematikdidaktiker, ist wie Stricken
ohne Wolle.
Klein: Der Trend in den Lehrplänen
läuft aber auf das Gegenteil hinaus. In den meisten Kerncurricula der
Bundesländer ist das "Fachwissen" durch "Umgang mit
Fachwissen" ersetzt worden.
ZEIT: Wo ist der Unterschied?
Klein: Ein Beispiel: Ich habe
Neuntklässler Abituraufgaben in Biologie lösen lassen. Früher hätte keiner von
ihnen die Prüfung bestanden. Schließlich kannten sie den Stoff aus der
Oberstufe noch gar nicht. Fast alle Schüler bestanden die Klausur. Dazu mussten
sie nur die Aufgabentexte aufmerksam lesen. Fachwissen war gar nicht nötig.
Stanat: Schlechte Abituraufgaben
hat es immer gegeben, das hat mit Kompetenzorientierung nichts zu tun. Ich
halte mich lieber an empirische Ergebnisse, die zeigen, was Schüler wissen und
können.
ZEIT: Und zwar?
"Die Abbruchquoten sind erschreckend
hoch"
Stanat: Nehmen Sie das Fach
Englisch. Hier hat sich der Unterricht verändert. Heute legen Lehrkräfte mehr
Wert darauf, dass Schüler sich in der Fremdsprache tatsächlich ausdrücken
können. Denn was nützt es, wenn sie zwar die Formen des past perfect beherrschen,
sich aber nicht unterhalten können. Und tatsächlich hat sich das Lese- und
Hörverstehen der Schüler über die Jahre deutlich verbessert.
Klein: Ich bezweifle, dass die
besseren Englischkenntnisse Ergebnis der Kompetenzorientierung sind. Das dürfte
andere Gründe haben, etwa dass das Englische eine größere Rolle im Alltag
spielt oder dass mehr Schüler im Ausland waren.
Stanat: Und auf diesen
Bedeutungszuwachs der kommunikativen Fähigkeiten hat der Unterricht reagiert.
Das finde ich vorbildlich.
Klein: Da ist Englisch die
Ausnahme. Klar ist, dass zum Beispiel die Mathekenntnisse der Schulabgänger
über die Jahre schlechter geworden sind ...
Stanat: ... woher wissen Sie das?
Klein: Weil das meine Kollegen an
der Uni seit Jahren beobachten, in allen Disziplinen, in denen man Mathematik braucht.
Dort müssen Brückenkurse eingerichtet werden. Dennoch sind die Abbruchquoten
erschreckend hoch. Für das Fach Chemie kann ich Ähnliches sagen. Bei meinen
Biologiestudenten fehlt es einem beträchtlichen Teil an basalen
Chemiekenntnissen. Wir müssen sie auch hier mit Vorkursen erst einmal
studierfähig machen.
Stanat: War das früher wirklich
anders? Die Abbruchquoten an den Universitäten sind in den meisten Fächern
tatsächlich nicht kleiner geworden, aber auch nicht größer – obwohl der Anteil
der Schüler, die ein Studium aufnehmen, gestiegen ist.
Klein: Sie bestreiten also, dass
sich die Anforderungen heute im Abitur nivelliert haben?
Stanat: Nicht unbedingt, ich sehe
dafür bislang nur keine Belege. Von einem Naturwissenschaftler wie Ihnen
erwarte ich schon etwas systematischere Empirie, als sich einzelne Aufgaben
anzusehen und damit auf das bundesdeutsche Abiturniveau zu schließen.
Klein: Ich war ja auch mal Lehrer.
Hätte ich dem Ministerium damals eine heutige Abituraufgabe in Biologie aus
Hamburg, NRW, Bremen oder Berlin vorgeschlagen, hätten die mich zum Amtsarzt
geschickt. Mittlerweile haben wir achtzig Abituraufgaben im Fach Biologie auf
ihr fachliches Niveau hin untersucht. Es war nicht einfach, die zu bekommen.
ZEIT: Inwiefern?
Klein: Anfangs haben sich alle
Bundesländer gesträubt, sie herauszugeben. Es besteht wohl die Angst, dass wir
herausfinden, dass das fachliche Niveau weit niedriger ist als früher. Eine
Ausnahme war Mecklenburg-Vorpommern. Tatsächlich haben die Aufgaben dort einen
hohen fachlichen Anspruch. Da muss man schon in der ersten Frage eine Zelle
beschreiben und die Funktionen der Bestandteile erklären.
Stanat: Das ist für Sie eine gute
Aufgabe?
Klein: Der Schüler muss zeigen,
dass er das grundlegende Fachwissen beherrscht.
Stanat: Für mich wird da erst
einmal auswendig gelerntes Wissen reproduziert.
Klein: Ich sage Ihnen etwas zum
Auswendiglernen. Im Biologiestudium müssen die Bachelor-Studenten das gesamte
Spektrum des Faches pauken.
Stanat: In der Schule soll man dann
also am besten nur grundlegende Fakten pauken?
Klein: Natürlich nicht. Das
Verstehen der Sache ist das zentrale Anliegen des Unterrichts.
Stanat: Und genau das ist ein
zentrales Ziel der Kompetenzorientierung.
Klein: Aber nur theoretisch, in
der Praxis heißt es dann: Fakten sind nicht mehr wichtig, Schüler sollen das
Lernen lernen, Lehrer sind nur noch Coaches.
Stanat: Aber, Herr Klein, da sind
wir uns doch völlig einig, dass das irrige Konzepte sind.
Klein: Na, das freut mich.
Vielleicht können wir diese Einigkeit auch auf die Kompetenzorientierung an den
Hochschulen übertragen. Schon jetzt heißt es in einem Gutachten dazu, dass sich
auch die Hochschulen von einer umfassenden Vermittlung des Stoffes
verabschieden müssen.
Stanat: Was heißt denn für Sie
umfassend? Wissensvermittlung – vor allem in der Schule – war doch immer schon
exemplarisch. Nicht nur weil es unmöglich ist, den gesamten Wissensbestand
eines Faches zu vermitteln, auch weil es sich immer weiterentwickelt.
Klein: Aber Grundlegendes ändert
sich so schnell nicht, und genau daran hapert es. Es gibt zurzeit ja eine
Diskussion über die Noteninflation. Immer mehr Abiturienten schließen die
Schule mit einem Einser-Abitur ab. Diese Abiturienten bereiten uns keine
Sorgen. Die Problemfälle sind diejenigen, die mit einem Dreier-Schnitt an die
Uni kommen und früher durchs Abitur gerauscht wären.
"Sehr unterschiedliche Abiturnoten"
Stanat: Sie sprechen die
Bildungsexpansion an. In der Tat sollte man meinen, dass mit wachsender Zahl
der Abiturienten das Anspruchsniveau sinkt. Es gibt aber keinen Zusammenhang
zwischen der Gymnasialquote und der durchschnittlichen Leistung. In Sachsen zum
Beispiel ist beides hoch.
Klein: Weil es in den ostdeutschen
Schulen noch immer einen hohen Leistungsanspruch gibt.
Stanat: Ich sehe bei den
Abiturnoten eher das Problem der unterschiedlichen Anforderungen. Es ist nicht
gerecht, wenn Schüler mit ähnlichen Leistungen je nach Bundesland sehr
unterschiedliche Abiturnoten erhalten, was vermutlich der Fall ist.
ZEIT: Wieso vermutlich?
Stanat: Weil wir bisher nur
Leistungen der Neuntklässler vergleichen, und da sind die Länderunterschiede
erheblich. Es ist ein großer Schritt, dass die Bundesländer nun die
Abiturprüfungen einander annähern wollen, indem sie einen gemeinsamen Pool von
Aufgaben erstellen.
Klein: Ich hoffe nur, dass Ihr
Institut auf politischen Druck hin nicht Aufgaben entwickeln muss, die sich am
Niveau von Berlin, Bremen oder NRW orientieren. Als die Bundesländer vor Jahren
ein Zentralabitur auf Landesebene eingeführt haben, wurde die Einheitlichkeit
mit einer allgemeinen Nivellierung nach unten erkauft.
Stanat: Wir stehen mit den
Abituraufgaben erst am Anfang. Aber ich glaube nicht, dass es sich die Länder
leisten können, die Ansprüche abzusenken.
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