Samuel
Steiner beginnt die Schulstunde mit einem Gedankenexperiment. «Stellt euch vor,
ihr würdet vor 100 Jahren leben, eure Eltern wären Kolonialherren in Indien
oder im Kongo: Was würdet ihr den ganzen Tag tun?»
Wie Geschichte aus dem Unterricht verschwindet, Tageswoche, 19.4. von Jeremias Schulthess
Ein Schüler
sagt: «Ich würde mit meinen Freunden auf dem Marktplatz Versteckis spielen.»
Und danach Melonen essen.
Steiner zeigt
den Schülerinnen und Schüler Bilder aus der Kolonialzeit. So haben sie sich das
Leben als Kolonialkinder nicht vorgestellt.
Einzigartig in der Schweiz
Was an der
Sekundarschule Sandgruben ein normaler Freitagmorgen ist, ist einzigartig
ausserhalb von Basel-Stadt. Hier unterrichten die Lehrpersonen seit 2015 nach
dem Lehrplan 21. Die Fächer Geschichte und Geografie werden gemeinsam unter dem
Namen «Räume, Zeiten, Gesellschaften» (RZG) unterrichtet.
Die
Kombinationsfächer sind seit Jahren ein Streitpunkt zwischen Bildungsexperten
und Lehrplan-Gegnern. Die einen sagen, die Bildung
werde dadurch schlechter, die anderen halten Kombi-Fächer für die einzig
richtige Zukunft des Lernens. Baselland stimmte im Sommer 2016 an
der Urne
gar über Sammelfächer ab. Die Stimmbevölkerung lehnte diese ab.
Interessant ist
das Experiment Lehrplan 21 am Sandgruben-Schulhaus auch, weil hier der
Unterricht nicht in herkömmlichen Klassen, sondern stufenübergreifend
stattfindet. Dafür hat die Schule eine Sonderbewilligung vom Kanton.
Geografie pur
Steiner
projiziert eine Weltkarte an die Wand und zeigt, wie die koloniale Welt vor dem
Ersten Weltkrieg aufgeteilt war. «Als höchster Berg Deutschlands wurde der
Kilimandscharo aufgeführt, der damals Kaiser-Wilhelm-Spitze hiess.»
Die
Schülerinnen und Schüler sind beeindruckt. Sie merken nicht, wie die ehemals
getrennten Fächer Geschichte und Geografie zu einer Einheit verschmelzen.
So fliessend
wie beim Kilimandscharo sind die Übergänge jedoch nicht überall. Die letzten 20
Minuten lernen die Jugendlichen, wie man Klimadiagramme liest und was die
durchschnittliche Monatstemperatur bedeutet – Geografie pur.
Orientiert sich an Lebenswelt
Nach der Stunde
sagt Steiner: «Die ehemals getrennten Fächer hängen sehr eng zusammen, ein gemeinsamer
Aspekt lässt sich fast immer finden.» Es komme aber auch vor, dass er in
manchen Stunden nur Geschichte und in anderen fast nur Geografie unterrichte.
Christoph
Mylaeus, Geschäftsführer der Deutschschweizer Erziehungsdirektoren-Konferenz
(D-EDK), hat das Modell der Kombinationsfächer mitentwickelt. Er erklärt: «Der
Volksschul-Unterricht orientiert sich mehr an der Lebenswelt der Schülerinnen
und Schüler als an den akademischen Disziplinen.»
Der
fächerübergreifende Unterricht biete sich dafür an, Lerngegenstände aus
verschiedenen Perspektiven zu beleuchten. «Sie können nicht den Gotthard
besprechen, ohne gleichzeitig die geografischen Begebenheiten und die
historischen Entwicklungen zu thematisieren.»
Eine Lektion weniger
Die
Erfahrungswerte hätten für den Unterricht in Kombinationsfächer gesprochen –
wobei es der Lehrplan 21 den Kantonen frei lasse, weiterhin in Einzelfächern zu
unterrichten. «In den Kantonen, in denen bereits fachübergreifender Unterricht
stattfand, funktionierte dies gut, also haben wir uns dafür entschieden», so
Mylaeus.
Steiner von der
Sandgruben-Schule stösst sich an einem Punkt: In den neuen Stundentafeln haben
Schülerinnen und Schüler in Basel-Stadt nur drei Lektionen RZG. Im früheren
System waren es in der Regel zwei Geschichts- plus zwei Geografielektionen.
Schülerinnen und Schüler merken keinen Unterschied
Es bleibt de
facto also weniger Zeit für Geschichte. Steiner kann deswegen nicht das Gleiche
unterrichten wie vorher. Er kriege zwar thematisch dasselbe Level hin, könne aber
weniger in die Details gehen. «Es bleibt weniger Zeit, Geschichten zu
erzählen.»
Ob Geschichte
oder Geografie – den Unterschied merken die Schülerinnen und Schüler in
Steiners Lektion gar nicht. Das zeigt sich im Gespräch mit einem Schüler. Sie
müssen den Unterschied auch nicht kennen. Für sie ist es RZG.
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