Gründungsklasse der Sekundarschule Köniz 1912, Bild: Schulmuseum Bern
"Jedem Kind sollte es möglich sein", Bund, 19.4. von Dölf Barben
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Sekundarschulen haben seit jeher einen Sonderstatus. Und seit es sie gibt, sorgen sie im Grossen Rat für hitzige Debatten. Liselotte Lüscher hat dazu ein Buch geschrieben.
Die Testfragen gleich zu Beginn: A) Wo im Kanton Bern wurden die
ersten Sekundarschulen gegründet? B) Wann? C) Und warum gerade dort?
Die Antworten finden sich im Buch «Von der Sekundarschule zur
Gesamtschule?»: 1833 entstanden im Oberaargau – in Langenthal und Kleindietwil
– die ersten öffentlichen Sekundarschulen. Die neuen Schulen waren zunächst
nicht gleichmässig über den Kanton verteilt.
Neben dem Oberaargau fanden sich die meisten im vorderen
Emmental und im Seeland. In diesen Regionen waren der Handel und
handwerklich-industrielle Tätigkeiten von Bedeutung. Gut ausgebildete
Jugendliche waren gefragt.
Lieber zu spät als zu
früh
Liselotte Lüscher, promovierte Erziehungswissenschaftlerin,
ehemalige Lehrerin, langjährige Berner SP-Stadträtin und mittlerweile über
80-jährig, konzentriert sich in ihrem Buch zwar auf die Entstehung und
Entwicklung der Sekundarschulen. Letztlich skizziert sie aber nichts weniger
als die Geschichte der bernischen Bildungspolitik. Und das ist, auch wenn es
zunächst arg nach trockener Materie riecht, durchaus spannend.
Berührend ist es, zu erfahren, wie die Grossräte sich vor fast
200 Jahren im Rathaus zu Bern bereits mit ganz ähnlichen Fragen
auseinandersetzten wie ihre Nachfolgerinnen und Nachfolger heute. Die
leidenschaftlich geführten Debatten drehten sich schon damals um Anzahl
Schuljahre oder Ein-, Aus- und Übertrittszeitpunkte. Das geht aus den vielen
Zitaten hervor, mit denen Lüscher arbeitet.
Die Autorin ging bei ihrer Arbeit von den Bildungsdebatten im
Grossen Rat aus und arbeitete sich durch zahllose Protokolle. Ein Grossrat
meinte 1839, zu frühe Förderung sei «Treibhauswesen», und es sei besser, «zu
spät als zu früh» damit anzufangen.
«Hausväter» gründeten
Schulen
Und immer wieder war die Chancengleichheit ein Thema. Bis dieses
Postulat aber schliesslich mehr oder weniger erfüllt war, dauerte es sehr
lange. Sekundarschulen galten zunächst als Angebot für die Kinder vermögender
«Hausväter», die solche Schulen auch gründeten.
Wer eine Sekundarschule besuchen wollte, musste dafür bezahlen.
Das konnten sich nicht alle leisten. Und die, die es sich leisten konnten,
schickten zuerst die Buben. Mädchen waren in den Sekundarschulen lange in der
Minderheit – obschon sie grundsätzlich Zugang hatten. Flächendeckend
abgeschafft wurde das Sekundarschulgeld erst 1957.
Die Schule hatte im 19. Jahrhundert überhaupt einen schweren
Stand. Die Lehrer waren unterbezahlt und selber schlecht ausgebildet; um
überleben zu können, waren sie auf Nebenbeschäftigungen angewiesen. Auch viele
Eltern standen der Schule misstrauisch gegenüber – insbesondere Bauersleute,
die ihre Kinder im Sommer auf dem Feld brauchten.
Frühe «moderne» Argumente
Weil Liselotte Lüscher in ihrem Buch diesen weiten, fast 200
Jahre überspannenden Bogen schlägt, wird klar, dass das Bildungssystem, wie wir
es heute kennen, nicht einfach vom Himmel gefallen ist. Es ist organisch
gewachsen. Und dass die bis dahin fünf Jahre dauernde Sekundarschule 1990
schliesslich um zwei Jahre verkürzt und damit geschwächt wurde, basiert auf
politischen Entscheiden, die durchaus auch anders hätten ausfallen können.
Vor allem: Jeder Fortschritt musste errungen, jeder Missstand
zuerst als solcher erkannt werden. Und manchmal waren einzelne Akteure ihrer
Zeit um Jahrzehnte voraus. Schon 1839, als das erste Sekundarschulgesetz
verabschiedet wurde, waren «moderne» Argumente zu hören: Wenn auch nicht jedes
Kind eine Sekundarschule besuchen könne, sagte ein Grossrat, sollte doch «jedem
die Möglichkeit gegeben werden», eine solche zu besuchen. Es sei daher
«unerlässlich», weitere zu errichten.
Oder: Vor ziemlich genau 100 Jahren sagte ein Grossrat aus der
Stadt Bern, nicht nur Verdingkinder könnten wegen des Schulgelds die
Sekundarschule nicht besuchen, «auch wenn sie oft zu den gescheitesten
gehören», sondern ebenso die Kinder des «geringeren Mittelstands und der noch
ärmeren Volksschichten».
Umgekehrt gab es Meinungen, die erst in den 1980er-Jahren
geäussert wurden und doch so klangen, als stammten sie aus dem 19. Jahrhundert:
«Ist es eigentlich schlecht», fragte ein Grossrat, wenn es Kinder gebe, die in
der Primarschule blieben «und sich vielleicht nicht so stark entwickeln? Wir
brauchen Knechte, Hausmädchen, Officemädchen usw.»
In ihrem Buch beschreibt Liselotte Lüscher die bernische
Bildungspolitik bis in die Gegenwart hinein. Nach der Lektüre erscheinen die
aktuellen Debatten, beispielsweise jene zum Lehrplan 21, aber in einem anderen
Licht. Man fragt sich unwillkürlich, was spätere Generationen darüber denken
werden.
Liselotte
Lüscher: Von der Sekundarschule zur Gesamtschule? Verlag hep, Bern 2016. 168
S., 39 Fr. (Der Bund)
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