9. April 2017

PISA-Chef will grössere Klassen

Die Bildungsausgaben steigen, doch die Schüler protestieren. Es braucht neue Sparideen. Eine kommt vom Pisa-Erfinder.
Andreas Schleicher. Klassengrösse in der Schweiz liegt deutlich unter PISA-Schnitt, Bild: Keystone
PISA-Chef plädiert für grössere Klassen in der Schweiz: "In China sitzen in den Klassen 40 Schüler", Aargauer Zeitung, 6.4. von Yannick Nock

Selten war eine Botschaft aus dem Herzen des föderalistischen Schulsystems so eindeutig: «Nein zum Bildungsabbau», riefen gestern Tausende Schüler wie aus einer Kehle. Sie protestierten gleichzeitig in fünf Kantonen. Doch wird in der Bildung tatsächlich gespart? Nein, wie Zahlen des Bundes belegen. Vielmehr steigen die Ausgaben seit Jahren kontinuierlich an auf aktuell 36 Milliarden Franken. Sie sind in 15 Jahren um 60 Prozent gewachsen.

Trotzdem ist der Einwand der Schüler berechtigt. Denn das Geld fliesst längst nicht nur an die Grundschulen und Gymnasien. Es gibt jedes Jahr mehr Universitäts-Absolventen sowie neue Bildungsinstitutionen, von Fachhochschulen bis zu pädagogischen Hochschulen. Das kostet. Der Lehrerverband doppelt nach: Der Abbau an den Grundschulen sei schlimmer als befürchtet und belaufe sich inzwischen auf weit über eine Milliarde Franken, heisst es. «Gemessen am heutigen Auftrag haben Lehrpersonen, Kinder und Eltern damit eindeutig die schlechteren Bedingungen als früher», sagt Lehrerpräsident Beat Zemp.
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Tatsächlich wurden in fast allen Kantonen Freifächer gestrichen, Lektionen reduziert oder der Instrumentalunterricht kostenpflichtig gemacht. Projektwochen und Lager wurden ebenfalls abgeschafft. Der Spardruck ist vorhanden – und wird kaum verschwinden. Doch es gibt Möglichkeiten zu sparen, ohne dass die Schüler darunter leiden.

Das sagt Pisa-Leiter und OECD-Bildungsdirektor Andreas Schleicher. Er sieht in der Schweiz die effizienteste Lösung in den Klassengrössen. «Wenn gespart werden muss, dann hier», sagt der Deutsche, der den Überblick über die Schulsysteme in 72 Ländern hat. Mit einer durchschnittlichen Klassengrösse von 19 Schülern liegt die Schweiz deutlich unter dem Pisa-Schnitt von 23. «Wenn man wählen muss, sollte die Unterrichtsqualität Vorrang haben», sagt Schleicher. Wer sich kleine Klassen leistet, müsse anderswo sparen, zum Beispiel beim Unterstützungspersonal.

Auch der Direktor der Schweizerischen Koordinationsstelle für Bildungsforschung, Stefan Wolter, sieht in den Schülerzahlen die beste Option. Wenn man schon 26 in einer Klasse habe, würde er keine hinzutun. Aber bei einem Durchschnitt von 19 Schülern bringe ein Kind mehr pro Klasse ein Sparpotenzial von insgesamt 500 Millionen Franken, ohne dass darunter die Leistung leiden müsse.

40 Schüler in einer Klasse
Die Diskussion ist nicht neu, schon länger wehren sich Lehrer gegen die Idee. Sie fürchten einen grossen Mehraufwand und einen Nachteil für schwache Schüler. Pisa-Chef Schleicher widerspricht: «In China oder Singapur sitzen in den Klassen manchmal 40 Schüler», sagt er, «trotzdem sind die Leistungen gleich gut oder besser als in der Schweiz.» Dort würden die Lehrer nur 11 bis 16 Stunden in der Woche unterrichten, den Rest der Zeit investieren sie in die Vorbereitung. «Sie können mehr Zeit in die Unterrichtgestaltung setzen und sich intensiver um jeden einzelnen Schüler kümmern.» Mehr Lehrer brauche die Schweiz deswegen nicht. Das Betreuungsverhältnis sei in Asien fast das gleiche. Durch die grösseren Klassen müsste der einzelne Lehrer dort aber weniger oft Unterrichten.

Für Lehrerpräsident Beat Zemp kommt es auf die jeweilige Situation an. Bei vielen verhaltensauffälligen Schülern würden grössere Klassen negative Folgen haben. «Sie brauchen Betreuung und können weniger gut selbstständig lernen», sagt er. Bei Kleinklassen von 8 bis 9 Schülern, die es teilweise in ländlichen Gebieten gibt, unterstützt Zemp die Idee. «Hier würde es sich lohnen, die Schulbezirke neu einzuteilen und zwei Klassen zusammenzulegen.»

Deutlich weniger hält Pisa-Chef Schleicher von Vorkehrungen wie im Kanton Luzern. Dort wurden 20'000 Gymnasiasten und Lehrlingen während einer Woche Zwangsferien verordnet. «Von einer solchen Massnahme habe ich in all den Jahren nur einmal gehört», sagt Schleicher. Das sei in Kalifornien gewesen – zum Höhepunkt der letzten Finanzkrise. «Wenn die Schweiz als reiches Land so eine Massnahme umsetzt, ist das schon bizarr.»


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