12. April 2017

Kritik an Frühfranzösisch-Lehrmitteln

Le Putois, le martinet et le percnoptère – mit einem ganzen Tiergarten sehen sich Primarschüler in sechs Kantonen im Rahmen des Frühfranzösisch-Unterrichts konfrontiert. Bloss handelt es sich bei diesen Tieren allesamt um zoologische Aussenseiter, die für den Alltagsgebrauch der Fremdsprache praktisch bedeutungslos sind: Zum Vocabulaire der Primarschüler gehören das Stinktier, die Wasserschwalbe und der in Europa beinahe ausgestorbene Schmutzgeier. Weshalb, fragen sich viele Eltern, lernen Kinder im Frühfranzösisch solche Begriffe, sind aber auch nach Jahren nicht in der Lage, nach dem richtigen Weg zu fragen oder einfachste Französisch-Wörter richtig zu buchstabieren?
Barlez wu Fransai? NZZ, 12.4. von Daniel Gerny

Rechtschreibung zweitrangig
Die sechs Kantone Basel-Stadt, Basel-Landschaft, Solothurn, Bern, Freiburg und Wallis, in denen Französisch ab der dritten Primar die erste Fremdsprache ist, setzen seit 2011 gemeinsame Fremdsprachen-Lehrmittel ein. «Mille Feuilles», das darauf aufbauende «Clin d'Œil» und das für den Englischunterricht konzipierte «New World» basieren auf neuen didaktischen Konzepten, die sich stark von jenen unterscheiden, mit denen die heutige Lehrer- und Elterngeneration vertraut ist. Die Lehrmittel sind Teil des Fremdsprachenkonzeptes «Passepartout», auf das sich die sechs Kantone entlang der Sprachgrenze geeinigt haben. Die Schüler sollen nicht in erster Linie Vokabeln und Grammatik büffeln, sondern die neue Sprache möglichst oft hören und so ein «Sprachbad nehmen», wie es in einer Broschüre zu «Mille Feuilles» heisst. Selbst grobe Fehler, etwa bei der Rechtschreibung, sollen die Lehrer nur zurückhaltend korrigieren.

Französischlehrbücher sind selten sonderlich beliebt, doch bei «Mille Feuilles» setzte die Kritik von Beginn weg ein und ist seither nicht abgerissen. In mehreren Kantonsparlamenten wurde und wird der Ausstieg aus dem «Passepartout»-Konzept gefordert. Die grünliberale Basler Grossrätin Katja Christ forderte ihre Regierung erst im März dazu auf, «die Verwendung des umstrittenen Lehrmittels zu überdenken». Dies wäre theoretisch möglich, weil die geltende Vertragsperiode des «Passepartout»-Konkordates 2018 ausläuft.

Fast alle sind ungenügend
Zwei – allerdings nicht repräsentative – Umfragen unter der Lehrerschaft in den Kantonen Solothurn und BaselLandschaft lieferten teilweise in der Tat alarmierende Ergebnisse: So gaben 92 Prozent der Solothurner Lehrer an, dass die mit «Clin d'Œil» unterrichteten Schüler beim Schreiben tiefe oder eher tiefe Kompetenzen aufwiesen. Auch im mündlichen Ausdruck, auf den die neuen Lehrmittel besonderen Wert legen, werden grossmehrheitlich schlechte Kompetenzen festgestellt. Im Baselbiet lauteten die Resultate ähnlich: Über 97 Prozent der Sekundarlehrer schätzten dort das Vocabulaire ihrer Schüler als mässig bis schlecht ein. Demnächst soll im Kanton BaselStadt eine Umfrage durchgeführt werden.

Im Kanton Bern lässt dagegen ein Entscheid der Erziehungsdirektion Rückschlüsse auf fehlende FranzösischKompetenzen zu: Im Januar kündigte diese an, grammatikalische Kenntnisse bei den Aufnahmeprüfungen fürs Gymnasium würden «nicht mehr gezielt geprüft» werden. «Wir können nichts prüfen, das vorher nicht so unterrichtet wurde», erklärte der Vorsteher des kantonalen Mittelschul- und Berufsbildungsamts, Mario Battaglia, damals gegenüber der «Berner Zeitung».

Für den Bieler Bildungspolitiker Alain Pichard (GLP) sind solche Entwicklungen besorgniserregend, weil daraus ein Zweiklassen-Ausbildungskonzept resultiere: Nur wer es ans Gymnasium schaffe, erhalte die nötigen Sprachkompetenzen, kritisiert er. Wissenschaftliche Erkenntnisse über den Erfolg von «Passepartout» fehlen allerdings bis jetzt. Erste Ergebnisse zweier Evaluationsstudien, die die «Passepartout»-Kantone in Auftrage gegeben haben, sollen erst im Sommer 2018 vorliegen.

Millionen investiert
Allein dies zeigt, dass ein vorzeitiger Ausstieg aus «Passepartout» vorerst äusserst unwahrscheinlich ist. Die involvierten Kantone haben alle Millionenbeträge investiert. Genaue Zahlen fehlen, doch allein der Kanton BaselLandschaft bewilligte bereits 2010 12,5 Millionen. Die Kritik hat deshalb bisher vor allem zu Beschwichtigungen geführt – und zu punktuellen Nachbesserungen bei den Lehrmitteln, unter anderem im Bereich der Grammatik. Bewegung könnte ins Spiel kommen, wenn im Baselbiet eine Initiative zum Ausstieg aus dem «Passepartout»-Konkordat vors Volk kommt. Bisher zeigte sich das dafür verantwortliche Komitee allerdings wenig durchsetzungsstark.


Mit Spannung blicken die «Passepartout»-Kritiker in den Kanton Zürich, der im Mai über eine Initiative für die Verlegung einer Fremdsprache von der Primar- in die Sekundarschule abstimmt. Denn die Kritik an den Lehrmitteln ist auch in den «Passepartout»-Kantonen letztlich auf den frühen Fremdsprachenunterricht zurückzuführen. Der wachsende Widerstand an den Lehrmitteln zeigt: In der Praxis erweist sich dieses Konzept als herausfordernder als ursprünglich angenommen.

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