Der Rat war kurz und machte aus der Mutter Angela Joerg eine
Schulleiterin. «Gründen Sie doch eine eigene Schule, das
ist einfacher.» Joerg, unzufrieden mit dem offiziellen Bildungswesen, hatte
eigentlich nur vorgehabt, sich mit anderen Eltern zu vernetzen, die ihre Kinder
zu Hause unterrichten.
Stattdessen eröffnete Joerg mit Mitsteitern Dandelion, zu Deutsch
Löwenzahn. Eine Privatschule in Zürich – mit dem Motto «Vom Leben lernen».
Konzept: Die Schüler entscheiden, ob, was und wie sie lernen wollen. Den
Unterrichtsplan denken sich nicht Pädagogen aus, sondern die Kinder selbst.
Altersdurchmischte Freilernschule, Bild: Joseph Khaskhouri |
Die Besserwisser, Sonntagszeitung, 19.3. von Denise Jeitziner
Und so vergehen vom Thema Dachs und seinen Spuren im Schnee, von der
Architektur des Römer Kolosseums, dem Vulkanausbruch bei Pompeji bis zum
Beschluss, eine eigene Zeitung zu kreieren, gerade mal zwei Stunden.
Zwischendurch hangeln sich die Jungs wie Tarzan von einem Fenster zum nächsten
oder stapeln Holzklötzchen. Die Lehrmittel sind ein bisschen Montessori aus
Holz und ein bisschen Plastik aus China. Haben die Kinder keine Lust, dürfen
sie bei Dandelion auch nichts tun.
Etwa 5 Prozent der Schüler in der Schweiz besuchen eine Privatschule,
165 davon gibt es allein im Kanton Zürich, das sind rund 20 Prozent mehr als
noch vor sieben Jahren. Bei den meisten handelt es sich um internationale oder
konfessionell geprägte Schulen, es gibt aber auch alternative mit eigener
Methodik.
Lehrplan einhalten ist nebensächlich
Dandelion ist das jüngste Beispiel von altersdurchmischten
Freilernschulen, die derzeit fast im Monatstakt entstehen – die meisten aus
Eigeninitiative und mit privaten Mitteln von Eltern, deren Misstrauen gegenüber
dem Schulsystem so gross ist, dass sie kurzerhand ihre eigene Schule gründen.
Die Bewegung, bei der sich die Kinder das Wissen selbst aneignen und die Lehrer
in der Extremform nur noch Statisten sind, wirkt wie die Zuspitzung dieser
Abkehr von der Volksschule, die früher noch kaum jemand infrage stellte.
Das Interesse daran ist offenbar gross. «Allein in den Tagen nach
unserer Eröffnung haben sich drei Personen gemeldet, die auch eine solche
Schule gründen wollen», erzählt Angela Joerg. Die bereits etablierte
Freilernschule Villa Monte in Galgenen SZ ist mit rund 130 Kindern bis unters
Dach gefüllt. Die Eltern finden wie Angela Joerg und die
Dandelion-Mitgründerin Caroline Gimpel Menzl, ihre Kinder seien im Schulsystem
zu viel Druck ausgesetzt und müssten sich einem Lernprogramm unterordnen, das
keine Rücksicht auf die individuellen Interessen und Fähigkeiten nehme. «Der
Druck fördert weder die Begeisterung noch die Freude noch das Lernen.
Schlimmstenfalls vergeht den Kindern die Lust am Lernen», sagt Joerg.
Eine eigene Schule zu gründen, ist nicht nur
erlaubt, sondern auch einfacher als gedacht. Privatschulen müssen sich zwar an
den Lehrplan halten und den Anschluss an die Volksschule garantieren – nach der
Unterstufe müssen die Kinder etwa schreiben, bis 1000 rechnen oder die Rolle
vorwärts auf der Matte können –, und auch eine qualifizierte Lehrperson vor Ort
ist Pflicht, aber: «Mit welchen Methoden Privatschulen die Ziele erreichen,
liegt in deren Verantwortung», sagt Marion Völger, die das Volksschulamt der
Bildungsdirektion des Kantons Zürich leitet.
Selbst wenn das bedeutet, dass die Kinder tun und lassen dürfen, was sie
wollen. In der heute so leistungsorientierten Zeit, in der Eltern schon bei
ihren Babys die Weichen für eine akademische Zukunft zu stellen versuchen,
mutet das besonders weltfremd an. «Meiner Meinung nach ist das freie Lernen die
beste Frühförderung», sagt Angela Joerg. Es stärke die Selbstständigkeit und
das Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten. «Für mich ist vielmehr fraglich, was
vom Wissen, mit dem die Kinder ohne deren Eigeninteresse gefüttert werden, am
Ende übrig bleibt.»
Offenbar tatsächlich weniger als gedacht. Studien zeigen, dass nach der
obligatorischen Schulzeit nicht einmal 10 Prozent des Wissens übrig bleibt, und
bei Pisa-Studien schneidet die Schweiz regelmässig schlecht ab, obwohl sie
eines der teuersten Bildungssysteme weltweit hat. Kürzlich etwa stellte sich
heraus, dass jeder fünfte 15-Jährige nicht imstande ist, einen Text zu
verstehen. Das alles hat Eltern und Bildungsverantwortliche verunsichert und
ist mit ein Grund für den aktuellen Überaktionismus an allen Fronten.
1850 Franken Schulgeld für freies Lernen der Kinder
«Welche Schule brauchen wir?», fragt auch das neu erschienene Buch der
Berner Journalistin Mireille Guggenbühler, die mit zahlreichen Bildungsexpertinnen
und Lehrern gesprochen hat. Viele finden, die klassische Schule hinke der
gesellschaftlichen Entwicklung hinterher. Unter anderen Daniel Hunziker, Leiter
der Initiative Schulen der Zukunft. Man wisse etwa, dass Siebenjährige
Entwicklungsunterschiede von bis zu vier Jahren aufwiesen. Trotzdem: «Seit 150
Jahren sitzen alle Kinder nach Geburtsdatum sortiert in derselben Klasse und
lernen dasselbe», wird er im Buch zitiert. Die Lehrpersonen sagten den Kindern,
was zu tun sei. Irgendwann wunderten sie sich, dass diese nicht in der Lage
seien, selbstständig zu arbeiten.
«Der Druck, in die Privatschule zu gehen, ist trotzdem nicht gross bei
uns», findet Etienne Bütikofer, der in Bern ein Büro für Bildungsfragen
leitet. Es gebe viele öffentliche Schulen, die sehr progressiv arbeiteten. Und
Lehrpersonen seien sich oft zu wenig bewusst, wie viele Freiheiten ihnen
blieben. Allerdings sei dafür eine Umstellung des Unterrichts nötig, viel Zeit
und viel Effort der Lehrpersonen. «Dafür fehlen die Ressourcen öfters.» Einige
öffentliche Schulen setzen aber bereits heute teilweise auf selbstbestimmtes
Lernen, allerdings wieder mit unerwünschtem Effekt: Besorgte Eltern haben ihre
Kinder von der Schule genommen und auf Privatschulen mit konservativ geführtem
Unterricht geschickt, weil sie fürchteten, ihre Kinder lernten zu wenig, und
die Disziplinlosigkeit sei zu hoch. Auch der Lehrplan 21 ist vielen zu lasch:
Sie fürchten, ihren Kindern werde zu wenig Wissen vermittelt. Genau das lassen
sich die Eltern der Freilernkinder so viel kosten: 1000 Franken Schulgeld
monatlich sind eher die Regel als die Ausnahme, bei Dandelion sind es gar 1850
Franken. Zwar sind die Ferienbetreuung und der Mittagstisch inbegriffen,
spätestens ab zwei Kindern aber können sich das nur Gutverdienende leisten.
Lateinisch schreiben wegen der coolen Römer
Nicht nur wegen der fehlenden sozialen Durchmischung ist Elsbeth Stern,
Professorin für Lehr- und Lernforschung an der ETH Zürich, skeptisch. «Die
Schule sollte den Geist erweitern und Dinge lehren, auf die man selbst nicht
kommen würde.» Eine lange Leine sei zwar generell sinnvoll, es sei jedoch
kontraproduktiv, den Kindern völlige Freiheit zu geben. «Wir sehnen uns alle
nach Einfachheit und sind überfordert von zu vielen Möglichkeiten.» Je freier
die Kinder seien, desto stärker schlüge sich die soziale Herkunft nieder.
Kinder, die daheim wenig gefördert würden, würden immer stärker den Anschluss
verlieren. Es müsse die Aufgabe der Lehrpersonen sein, die Auswahl zu steuern
und einzuschränken.
«Es ist interessant, welche Ängste das freie Lernen bei Erwachsenen
auslöst», sagt Angela Joerg, «aber es funktioniert.» Ihr Sohn sei der beste
Beweis. Weil er die Römer cool finde, habe er wochenlang nur lateinische Wörter
schreiben wollen, bis 100 rechnen lerne er dank Centurios Legionären –
projektorientiertes Lernen nennt das Joerg, die früher eine Werbeagentur
geleitet hat. Im Kindergarten habe es Niklas überhaupt nicht gefallen. «Ich
musste dort immer die Hände waschen und im Kreis sitzen», erzählt der Siebenjährige
und perfektioniert mit Holzklötzlein den Nachbau des Römer Kolosseums, das ihm
die Lehrerin auf ihrem Smartphone gezeigt hat. «Und ich musste immer singen»,
ergänzt der achtjährige Luis. Jetzt müssen sie gar nichts mehr, die Lehrerin
klinkt sich nur subtil ein.
Dass auf diese Weise überbehütete Egoisten herangezüchtet werden, die
nur nach dem Lustprinzip handeln, glaubt Joerg nicht. «Die Kinder sind in ein
soziales Gefüge eingebunden, in dem sie untereinander Kompromisse aushandeln
und sich immer mal unterordnen müssen. Ausserdem bleiben wir die Leitwölfe.» In
der Villa Monte hingegen bringen sich die Erwachsenen nur ein, wenn die Kinder
es verlangen oder wenn es ums Aufräumen geht. «Das wäre mir zu extrem», sagt
Joerg, die versucht, das Beste aus mehreren Konzepten herauszupicken. Werden
die Kinder damit nicht zu Versuchskaninchen? «Mag sein, aber motivierte
Versuchskaninchen in glücklicher Freilandhaltung.»
Die Privatschulen, in denen die Schüler selber entscheiden, ob, was und wie sie lernen wollen, werden bald Konkurrenz von der staatlichen Volksschule bekommen. In den "Grundlagen für den Lehrplan 21" ist als alleinige Methode die Kompetenzorientierung nach Weinert/OECD vorgeschrieben. Die Kompetenzorientierung auf der Unterrichtsebene ist das "selbstgesteuerte oder selbstorganisierte Lernen", beim dem der Klassenunterricht abgeschafft und der Lehrer aus dem Lernprozess gedrängt wird. Ist der Lehrplan 21 in der Volksschule eingeführt, können sich die Eltern die Ausgaben für die Privatschulen sparen. Ist das bewährte Bildungs-Porzellan einmal zerschlagen, sinkt die Bildungsqualität allerdings unwiderruflich auf billiges Plastik-Niveau! Pisa 2018 lässt grüssen!
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