Mit praxisfernen Neuerungen wird der
Unterricht erschwert. Nun formiert sich Widerstand – auch gegen den
Lehrerverband, der sich nicht für seine Mitglieder einsetze.
Das Leiden der Lehrer, Sonntagszeitung, 26.3. von Nadja Pastega
Die Lehrer in Basel-Stadt proben den Aufstand. Am letzten Mittwoch
verabschiedete die Kantonale Schulkonferenz, das Mitspracheorgan aller
Lehrkräfte, eine Resolution gegen die externen Leistungschecks an den Schulen.
Das sind standardisierte Prüfungen, die seit einigen Jahren für alle Schüler
in den Kantonen Basel-Stadt, Basel-Landschaft, Aargau und Solothurn obligatorisch
sind. 1818 von 2210 Basler Lehrern stimmten für die Abschaffung.
Die Leistungschecks seien aufwendig, teuer, förderdiagnostisch unbrauchbar
und führten zum «Unterrichten auf den Test hin», heisst es in der Resolution.
Der schriftliche Protest wurde beim Erziehungsdepartement eingereicht.
In Bern war es eine Woche zuvor soweit. In einem offenen Brief an den
kantonalen Bildungsdirektor Bernhard Pulver (Grüne) fordern Lehrkräfte in
Ostermundigen mehr Stellenprozente für die Kindergarten- und Unterstufenklassen
– ohne Team-Teaching sei die Integration der vielen verhaltensauffälligen
Kinder nicht zu schaffen. Die Kids störten den Schulbetrieb, hätten Wutanfälle
und würden einfach davonrennen, wenn ihnen etwas nicht passt. Laut
Integrationsartikel im Volksschulgesetz müssen auch diese Kinder in den
normalen Klassen unterrichtet werden. So haben es Bildungsreformer auch in
anderen Kantonen durchgesetzt. Es brodelt an der Basis. In mehreren Kantonen
kocht der Ärger hoch über ständige Reformen, die an den Schreibtischen von
praxisfernen Theoretikern entworfen wurden. Ein Teil des Unmuts richtet sich
gegen die Verbände, von denen sich die Praktiker kaum noch vertreten fühlen.
Dieses Unbehagen schlägt sich auch in den Mitgliederzahlen nieder.
Angst vor einer Retourkutsche der Verbandsoberen
Mit rund 50'000 Mitgliedern ist der Dachverband der Schweizer Lehrer
(LCH) die grösste Organisation. Unter Präsident Beat Zemp hat sich die
Gewerkschaft als wichtige Instanz in der Schweizer Bildungslandschaft
etabliert. Wann immer ein Statement zu schulischen Belangen gefragt ist: Zemp
ist omnipräsent. Doch der Verband kämpft, von der Öffentlichkeit unbemerkt, mit
sinkenden Mitgliederzahlen. Vor allem aktive Vollzeitlehrer und Pädagogen, die
ein grosses Pensum unterrichten, kehren dem Verband den Rücken. Bei diesen
Lehrern sei die Zahl der Mitglieder «gesunken», sagt LCH-Zentralsekretärin
Franziska Peterhans. Nach stetig abnehmendem Mitgliederbestand sei 2017 nun
erstmals wieder ein Anstieg zu verzeichnen – vor allem dank Beitritten von
pensionierten Lehrern.
Kritiker des LCH gibt es mittlerweile einige. Ihren Namen wollen sie
nicht in der Zeitung lesen, aus Angst vor einer Retourkutsche der
Verbandsoberen. Der Vorwurf, den sie erheben, ist happig: Der LCH trete
zunehmend als Wasserträger der Bildungsverwaltungen und der Eidgenössischen
Erziehungsdirektorenkonferenz (EDK) auf. Statt die Anliegen der Basis zu vertreten,
betreibe die Lehrer-Gewerkschaft Behördenpolitik und sei zum «verlängerten Arm
der EDK» mutiert.
Mitgliederbefragungen, so die Kritik, gebe es kaum noch.
Vernehmlassungsantworten würden hinter verschlossenen Türen in einer kleinen
Expertengruppe erarbeitet. Die Stellungnahmen des LCH würden an der Basis
zunehmend als «abgehoben» und «realitätsfern» empfunden. Der LCH nicke zudem
jede Reform ab. Dabei formuliere er jeweils eine Reihe von Forderungen,
sogenannte Gelingensbedingungen, die in der Regel nicht finanzierbar und damit
illusorisch seien. Die Forderungen fielen unter den Tisch, wenn die Umsetzung
in den Kantonen anstehe. Mit den Folgen der unausgegorenen Rezepte müssten sich
dann die Praktiker in den Schulzimmern herumschlagen. Zum Beispiel beim Fremdsprachenunterricht.
Der LCH unterstützt das umstrittene EDK-Sprachenkonzept, das den
Unterricht von zwei Fremdsprachen in der Primarschule vorsieht. Daran knüpfte
er eine lange Liste von Gelingensbedingungen, etwa Team-Teaching und kleinere
Klassen sowie ein ausfinanziertes Evaluationskonzept durch eine
wissenschaftlich qualifizierte Agentur, der Publikationsfreiheit zugestanden
wird. Pro mittelgrosse Schuleinheit sollte zudem mindestens ein qualifizierter
«Master Teacher» freigestellt werden, der die Sprachlehrer unterstützt.
Von dieser Linie habe sich der LCH «sang- und klanglos» verabschiedet,
sagt Hans-Peter Amstutz, ehemaliger Oberstufenlehrer und Bildungsrat im Kanton
Zürich. «Die meisten Lehrer hofften, dass mit der wirkungsvollen Unterstützung
des LCH bessere Rahmenbedingungen erzielt werden könnten. Doch in den meisten
Kantonen hat sich nichts bewegt.»
Inzwischen haben einige kantonale Lehrerverbände zur Selbsthilfe
gegriffen und Initiativen gestartet, um den Unterricht in der Primarschule auf
eine Fremdsprache zu beschränken. Im Kanton Zürich wird darüber am 21. Mai
abgestimmt.
Der Begriff «Lehrer» wurde aus dem Namen gestrichen
Zu den Dauerbrennern in den Lehrerzimmern gehören die Auflösung der
Kleinklassen und die Integration von verhaltensauffälligen und lernbehinderten
Schülern in die normalen Klassen. Auch hier hat der LCH eine Liste von
Forderungen aufgestellt. Das Pensum der Klassenlehrer sollte auf 24 Stunden
reduziert werden, damit mehr Zeit für die Betreuung der schwierigen Schüler
bleibt. Im Kanton Zürich sind es aber immer noch 28 Stunden, ähnlich sieht es
in anderen Kantonen aus. «Es war von Anfang an klar, dass diese Forderung
völlig utopisch ist», sagt Amstutz. «Im Kanton Zürich hätte nur schon die
Reduktion um eine Stunde Kosten von 30 Millionen Franken pro Jahr generiert.»
Eine zweite Forderung des LCH lautet, dass es auf vier bis fünf Klassen eine
Heilpädagogin geben müsse. Im Kanton Zürich seien es doppelt so viele Klassen
pro Heilpädagogin, sagt Amstutz. In anderen Kantonen sehe es nicht besser aus. Der
LCH wehrt sich gegen den Vorwurf, die Lehrer an der Basis nicht mehr angemessen
zu vertreten. «Uns ist keine Erhebung bekannt, wonach Mitglieder nicht mehr
zufrieden sind», sagt Zentralsekretärin Franziska Peterhans. «Im Gegenteil, wir
erhalten immer wieder Briefe, Mails und direkte Rückmeldungen als Dank für unseren
Einsatz zugunsten der Lehrerschaft und einer guten Schule.»
Derweil versuchen die LCH-Sektionen in den Kantonen, die
Mitgliederzahlen wieder anzukurbeln. Die kantonalen Lehrerverbände wollen sich
gegenüber anderen Berufsgruppen im schulischen Umfeld öffnen. Neu sollen auch
Schulsozialarbeiter, Sozialpädagogen oder Schulpsychologen Mitglied werden
können. Der Lehrerverband im Kanton Bern hat sich bereits semantisch neu
ausgerichtet. Das Wort «Lehrer» wurde aus dem Namen gestrichen – der Verband
heisst neu «Bildung Bern».
Der LCH unterstützt lehrerfeindliche Reformen
AntwortenLöschenSeit vielen Jahren ist der LCH an vorderster Front beteiligt, um die bewährte Volksschule in ein profitorientiertes Dienstleistungsunternehmen zu verwandeln. Ab 2006 legte ein sechsköpfiges Projektteam mit dem Chefreformer der Lehrerdachorganisation LCH im Auftrag der D-EDK in den „Grundlagen für den Lehrplan 21“ die „Kompetenzorientierung nach Weinert/OECD“ mit dem „selbstgesteuertem Lernen“ fest. 2016 ebnete der LCH mit dem Leitfaden „Externe Bildungsfinanzierung“ den globalen Bildungskonzernen den Weg ins Klassenzimmer. Mit dem „selbstgesteuerten Lernen“ wird Klassenunterricht verunmöglicht, der Lehrer aus dem Lernprozess gedrängt und zum „Lernbegleiter“ degradiert. Gleichzeitig sollen die Lehrer mit dem neuen Berufsauftrag den übrigen Staatsangestellten „gleichgestellt“ werden. In GB und Schweden, die seit Jahren mit der Kompetenzorientierung bei Pisa abstürzen, wurde die Volksschule bereits zu einem grossen Teil mit „Freien Schulen“ privatisiert, bei denen der Staat (Steuerzahler) die Finanzierung übernimmt, während die privaten Betreiber die Lehrerlöhne drücken und grosszügige Dividenden ausschütten, was sich allerdings auf die Schulqualität verheerend auswirkt.