Sie stellen für ihr Umfeld eine Herausforderung
dar, Kinder und Jugendliche, die sich nur schlecht in ein soziales Gefüge
einbinden lassen. Ganz besonders die Schulen können ein Lied davon singen. Der
Umgang mit Schülerinnen und Schülern, die durch ihr Verhalten den Unterricht
stören, stellt für die integrative Schule einen Knackpunkt dar. In etlichen
Fällen genügen nämlich die Zusatzlektionen innerhalb der speziellen Förderung
nicht. Welches sind die Hintergründe für das Phänomen? Was versteht man überhaupt
unter Verhaltensauffälligkeiten? Und: Wie können Schulen und Lehrpersonen
darauf reagieren? Wir haben dazu Barbara Wendel befragt, die Chefärztin der
Kinder- und Jugendpsychiatrie der Solothurner Spitäler AG (soH).
"Pro Klasse haben zwei bis drei Kinder Verhaltensauffälligkeiten", Solothurner Zeitung, 6.3. von Elisabeth Seifert
Gibt es immer mehr verhaltensauffällige Kinder?
Barbara Wendel: Wir
gehen davon aus, dass 10 bis 15 Prozent der Kinder und Jugendlichen
Verhaltensauffälligkeiten aufweisen, die behandelt werden sollten. Das sind pro
Klasse zwei bis drei Kinder. Sie brauchen den Beizug von Fachleuten aus dem sozio-psycho-pädagogischen
Bereich. Dabei kann es sich um Heilpädagogen im Rahmen der speziellen Förderung
handeln, Schulsozialarbeiter oder auch Schulpsychologen. Und: Bei schweren
Fällen, wenn die Verhaltensauffälligkeit durch eine psychische Störung verursacht
wird, braucht es eine Therapie im Rahmen der Kinder- und Jugendpsychiatrie.
Zwei bis drei Kinder pro Klasse – beobachten Sie
eine steigende Tendenz?
Es kommt sehr darauf an, wie die Politik und die
Gesellschaft Verhaltensauffälligkeiten definiert. Ich behaupte, dass sich der
Prozentsatz in den letzten 10 Jahren nicht verändert hat. Wir haben heute
einfach nur viel differenziertere Möglichkeiten, auf die Betroffenen
einzugehen. Gerade in der Schweiz sind wir in diesem Bereich sehr sensibel und
stellen auch für Fachstellen viele Ressourcen zur Verfügung.
Machen wir zu viel?
Nein, ich denke nicht. Wir haben die Möglichkeiten
und das Glück, in einem Staat zu wohnen, wo man solchen Problemen begegnen
kann. Wir sollten in unsere Zukunft investieren und den betroffenen Kindern mit
einer geeigneten Förderung gerecht werden. Die Kinder müssen dabei so gefördert
werden, dass sie auch gefordert werden. Wenn man nichts macht, könnten sich
über die Zeit bei etlichen verhaltensauffälligen Kindern psychische Störungen entwickeln.
Zudem dürfte bei vielen der Übergang in die Berufswelt schwierig werden.
Innerhalb der Schule werden vor allem jene Schüler
als Problem wahrgenommen, die mit ihrem Verhalten den Unterricht stören ...
Dabei handelt es sich um die externalisierenden
Verhaltensauffälligkeiten. Es sind dabei oft Buben, die stören, die aggressiv
sind und die man nicht einbinden kann. Sie sind mit ihrem Verhalten eine grosse
Herausforderung für ihr Umfeld. Daneben gibt es aber auch noch die
internalisierenden Verhaltensauffälligkeiten, die oft bei Mädchen auftreten.
Diese Kinder und Jugendlichen machen sich klein und unsichtbar. Sie wirken
manchmal sogar besonders pflegeleicht.
Von diesen internalisierenden Verhaltensauffälligkeiten
spricht man viel weniger ...
In diesem Bereich haben wir Handlungsbedarf. Wenn
solche Verhaltensauffälligkeiten nicht behandelt werden, können sich
Depressionen und Angststörungen entwickeln. Wir stellen fest, dass dieses
Phänomen zunimmt. Dass es bereits depressive Kinder gibt, ist in unserer
Gesellschaft immer noch ein Tabu.
Wo sehen Sie Ursachen für
Verhaltensauffälligkeiten?
Es geht immer um einen ganzen Strauss von Faktoren,
die sich in Verhaltensauffälligkeiten äussern können. Da gehören biologische
Faktoren genauso dazu wie psychosoziale Faktoren. Aber auch das Umfeld, also
die familiäre Situation oder die Schule, spielt eine zentrale Rolle. Oft liegt
im Umfeld der Auslöser für ein auffälliges Verhalten: Bei einem Kind mit einer
bestimmten Disposition kann zum Beispiel die Überforderung in der Schule zu
Leistungsversagen führen und dann auch zu Verhaltensauffälligkeiten. Bei einer
Behandlung muss man immer alle Faktoren anschauen.
Längst nicht alle Kinder aber werden unter
erschwerten Verhältnissen verhaltensauffällig?
Zentral ist die Resilienz, also die
Widerstandsfähigkeit. Das heisst, wie ein Kind imprägniert ist gegen schwierige
Situationen. Kinder und Jugendliche sind nicht einfach Opfer. Eine gewisse
Resilienz ist dabei angeboren, man kann sie aber auch fördern. Innerhalb einer
Behandlung, aber auch in der Schule. Je kleiner und jünger ein Kind ist, desto
mehr ist es darauf angewiesen, dass sein Bezugsumfeld seine Möglichkeiten
richtig erkennt und seine Bedürfnisse erfüllt. Je grösser ein Kind ist, desto
mehr wird es mitbeteiligt am Erfüllen seiner Grundbedürfnisse.
Wo ordnen Sie das Phänomen ADHS ein?
Dabei handelt es sich nicht um eine sogenannt
normale Verhaltensauffälligkeit, sondern um eine psychische
Entwicklungsstörung. Die angeborene Disposition spielt hier eine besonders
grosse Rolle. Wenn jemand in der Familie bereits ADHS hat, sind die Nachkommen
häufig auch davon betroffen.
Sie haben zuvor als einen der Faktoren das Umfeld
angesprochen. Können Sie das konkretisieren?
Migrantenkinder zum Beispiel, die traumatisiert
sind und mit schwierigen Erlebnissen zu kämpfen haben, reagieren öfter mit
einem auffälligen Verhalten. Zudem: Viele Kinder stehen heute aufgrund der
Erwartungen und Anforderungen ihres Umfeldes unter einen hohen Leistungsdruck.
Wenn sie dadurch kognitiv überfordert sind, können sie verhaltensauffällig
werden. Und das andere ist: Wir haben immer mehr Kinder, die emotional nicht
ihrem Alter entsprechend entwickelt sind. Sie haben nicht die entsprechende
Reife, Selbstständigkeit und Belastbarkeit.
Wo sehen Sie den Grund für die fehlende Reife?
Einer der Gründe ist zunehmend, weil die Kinder bis
weit ins Schulalter hinein überbehütet sind, weil sie nicht die Möglichkeit
hatten, eine gewisse Selbstständigkeit zu entwickeln, der Schulweg zum Beispiel
ist so ein Thema. Alles wird für die Kinder gemacht, alles aus dem Weg geräumt,
damit sie möglichst die Leistungen erbringen können. Sie werden früh kognitiv
gefördert, aber sie bleiben emotional Kleinkinder. Und dann sind sie
überfordert, wenn sie in der Schule plötzlich allein dastehen.
Damit nehmen Sie konkret die Eltern in die Pflicht?
Es scheint mir ganz zentral, dass Kinder zu
selbstständigen Persönlichkeiten erzogen werden. Den wesentlichen
Entwicklungsbedürfnissen unserer Kinder in einer Gesellschaft gerecht zu
werden, wo alles möglich erscheint, ist sehr anspruchsvoll. Als Eltern dabei
den roten Faden des «genügend gute Eltern zu sein» zu verfolgen, ist schwierig.
Welches Zeugnis stellen Sie den Schulen aus?
Die Schule hat sich schweizweit in den letzten
Jahren entwickelt. Und zwar auf allen Ebenen. Bereits die Lehrpersonen sind für
den Umgang mit verhaltensauffälligen Schülern gut ausgebildet, erst recht die
schulischen Heilpädagogen, die Schulsozialarbeiter und die Schulpsychologen.
Eine wichtige Funktion haben auch die geleiteten Schulen. Dadurch kann
niederschwellig und sehr bedarfsgerecht reagiert werden.
Solothurn führt derzeit ein besonders
differenziertes System ein. Von der Speziellen Förderung über die Regionalen
Kleinklassen bis zu sonderpädagogischen Massnahmen ...
Besonders die Regionalen Kleinklassen sind ein
neues Modell. Ich sehe darin eine Chance. Die Kinder werden dort speziell und
individualisiert gefördert und kehren nach einer bestimmten Zeit wieder in ihre
Klassen zurück. Gerade wenn die Reintegration gelingt, ist das eine gute Sache.
Es ist beeindruckend, welche Ideen entstehen, um diesen Kindern zu helfen.
Gerade die Schulen im Kanton Solothurn bieten ein breit gefächertes Repertoire
an. Auf diese Weise wird viel unternommen, um zu verhindern, dass aus kleineren
Problemen grosse Probleme werden. Es lässt sich so zudem auch der Tendenz
entgegenwirken, dass es zu immer mehr IV-Renten bei jungen Erwachsenen kommt.
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