Verletzte oder kranke Schüler sollen in Basel
ab sofort in den Turnunterricht integriert werden – dank dem Programm
Activdispens.
Bewegen trotz Sportdispens, Basler Zeitung, 27.2. von Denise Dollinger
Wie schnell ist es passiert: Ein
unglückliches Zusammenstossen beim Basketballspiel und die Rippe ist
gequetscht. Oder aus Unachtsamkeit wurde die letzte Treppenstufe übersehen und
nun ist der Fuss verstaucht. Verletzungen können jeden erwischen, egal ob jung
oder alt. Kinder und Jugendliche werden in Verletzungs- oder Krankheitsphasen
oft vollständig vom Schulsport freigestellt. Dies soll nun anders werden. Mit
Activdispens wurde ein Konzept entwickelt, das verletzte Schüler mit einem
Ersatzprogramm aktiv in den Turnunterricht integriert. Noch diesen Monat wird
es im Kanton Basel-Stadt eingeführt.
«Es gibt ganz wenige Verletzungen, wo Bewegung wirklich verboten
oder kontraproduktiv ist», sagt Guido Perrot, Leiter Therapien am Basler Universitätsspital.
Perrot ist Präsident der Schweizerischen Arbeitsgruppe für
Rehabilitationstraining (SART). Gemeinsam mit den Projektverantwortlichen
Claudia Diriwächter und Christoph Wechsler hat er, in Zusammenarbeit mit
Ärzten, Wissenschaftlern und dem Schweizerischen Verband für Sport in der
Schule (SVSS), das Projekt «Bewegen trotz Sportdispens» realisiert.
54 Übungen aus der Sportphysio
Die Relevanz von Schulsport und die damit verbundene Bewegung bei
Kindern und Jugendlichen sei zentral, betont Perrot. «Unsere Gesellschaft wird
immer mehr von Computer, Internet und anderen Medien beeinflusst und der Alltag
hat sich in den letzten Jahren vermehrt hin zu passiver Haltung verändert. Die
Wissenschaft zeigt, wie wichtig tägliche Bewegung ist und dass sie bei jungen Menschen
möglichst wenig unterbunden werden soll.»
Es sei unsinnig, verletzte Schüler vom Sportunterricht
fernzuhalten, so Perrot. «Gerade in Krankheits- oder Verletzungsphasen ist der
Schulsport und die damit verbundene Aktivität von grosser Wichtigkeit, da durch
die Bewegung die Regeneration und Heilung positiv unterstützt wird», sagt
Perrot. «Bewegung kann und darf nicht durch Rechenaufgaben ersetzt werden.»
Auch wenn vielen Ärzten klar ist, dass eine vollständige Freistellung des
Turnunterrichts nicht sinnvoll ist, hatten sie bis anhin keine ideale Lösung
dafür, wie mit Sportdispensationen umzugehen ist. Verantwortung für den
Patienten, damit dieser sich nicht wieder verletzt oder sich die Situation
durch inkorrekte Bewegung verschlechtert, stand der Tatsache, dass aktive
Bewegung wichtig ist, im Weg.
Durch Activdispens wird sich das nun ändern. Der Übungskatalog
bietet eine Lösung, teildispensierte Schüler aktiv in den Schulsportunterricht
zu integrieren. «Activdispens ersetzt die traditionelle ‹alles oder nichts›
Turndispens-Praxis, gemäss derer auch Kinder mit leichten bis mittelschweren
Problemen am Bewegungsapparat gleich zu hundert Prozent turn- oder sportbefreit
wurden», sagt Carol Hasler. Der Chefarzt Orthopäde am Universitäts-
Kinderspital beider Basel ist überzeugt, dass mit dem Übungsprogramm ein
wichtiges Instrument geschaffen wurde. Und zwar nicht nur um der «grassierenden
Bewegungsarmut» entgegenzuwirken. «Man darf nicht vergessen, dass Schulsport
durch das ‹Dampf Ablassen› eine starke Ventilfunktion hat», sagt Hasler. Und
fügt an: «Des Weiteren ergibt sich auf dem Sportplatz eine andere Dynamik und
Hierarchie als im Klassenzimmer, was wiederum Einfluss auf die sozialen Aspekte
hat.»
Das Turn-Ersatzprogramm mit insgesamt 54 Übungen wurde aus der
Sportphysiotherapie heraus gebildet. Nebst Übungen für die unteren und oberen
Extremitäten und den Rumpf gibt es ebenfalls spezifische Anleitungen bei
Menstruationsbeschwerden, Rückenschmerzen, Kopfweh oder allgemeinem Unwohlsein.
«Wichtig bei den einzelnen Übungen ist, dass sie einfach und ohne viel
Instruktion durchgeführt werden können», sagt Guido Perrot. Die betroffenen
Schüler sollen die Übungen selbständig im Unterricht machen können, sodass die
Sportlehrpersonen sich weiterhin auf den Rest der Klasse konzentrieren können.
Instrument für Ärzte und Lehrer
Für die Praxis sieht das nun so aus, dass der behandelnde Arzt auf
dem Dispensationsformular ankreuzen kann, welche sportliche Aktivitäten erlaubt
sind. Zudem entscheidet er, welche Bewegungen aus dem aktivdispens-Übungskatalog
für den verletzten Schüler sinnvoll sind. «Activdispens ermöglicht erstmals ein
differenziertes, individuell auf den Patienten zugeschnittenes Turnprogramm,
welches zum Beispiel auch die häufig parallel dazu stattfindende physiotherapeutische
Betreuung in idealer Weise komplementiert. Die Lehrperson erhält zudem mit einfachen
Mitteln einen recht präzisen Handlungsrahmen», sagt Carol Hasler. Somit sei das
entwickelte Übungsprogramm Ärzten, Sportlehrpersonen und auch den Kindern und
Jugendlichen dienlich.
Nicht nur in Basel soll Activdispens in den Schulunterricht
integriert werden. «Damit das Projekt gesamtschweizerisch verbreitet werden
kann, entwickeln wir die Webseite auf Französisch, Italienisch, Rätoromanisch
und Englisch», sagt Guido Perrot. Seit Donnerstag sind die Übungen als App
verfügbar. Sämtliche Videos gibt es unter:
www.activdispens.ch
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