Ich bin
seit 15 Jahren Lehrerin, aber wenn ich gewusst hätte, dass der Unterricht
irgendwann mal so aussieht wie jetzt, hätte ich einen anderen Beruf gewählt.
Ich unterrichte an einer ganz normalen Grundschule in Frankfurt. Eine
durchschnittliche Klasse sieht heute so aus: Von 25 Kindern können ein Drittel
nicht richtig Deutsch sprechen, etwa acht Kinder sind verhaltensauffällig, dazu
kommen hochbegabte Kinder, traumatisierte Flüchtlingskinder und
noch ein Inklusionskind, das besonderer Förderung bedarf. Auf der Strecke
bleiben die paar normalen, unauffälligen, lernbegierigen Kinder, die einfach
mitlaufen, weil man als Lehrerin keine Zeit für sie hat.
Besonders Flüchtlingskinder benötigen viel Fürsorge, Bild: OBS |
"Ich werde keinem Kind mehr gerecht", Frankfurter Allgemeine Zeitung, 13.2. von Anke Schipp
Inklusion
ist eigentlich eine gute Sache, aber nicht unter diesen
Bedingungen. Es gibt Kinder, da lohnt es sich sehr, sie in der
Regelschule zu integrieren, aber bei vielen Kindern ist das nicht möglich.
Manche Inklusionskinder treten den Lehrer, kratzen andere Kinder blutig und
überschreiten permanent Grenzen. Wenn man als Lehrerin Glück hat, bekommt
dieses Kind einen Inklusionshelfer, der hilft ihm bei den Aufgaben und passt
darauf auf, dass das Kind sich nicht aus dem Fenster stürzt oder auf dem
Schulhof nicht verprügelt wird, aber du als Klassenlehrerin musst den
Unterricht vorbereiten und auf die speziellen Lernbedürfnisse dieses Kindes
eingehen. In unserer Schule gibt es zwei Förderlehrer, die nehmen die Kinder
ein oder zwei Mal in der Woche aus dem Unterricht raus und machen mit ihm
gesondert Aufgaben. Das ist ein Tropfen auf den heißen Stein. In der restlichen
Zeit ist man wieder auf sich alleine gestellt und muss permanent auf die Kinder
eingehen, damit sie den Vormittag überstehen.
Inklusionskind bedeutet mehr Arbeit
Manche
Eltern wollen auch nicht wahr haben, dass mit ihrem Kind etwas nicht stimmt.
Wir haben an der Schule zum Beispiel ein sehr schwieriges Kind, das gleich nach
der Einschulung auffällig wurde, die Eltern aber sagten, im Kindergarten sei
davon nichts zu merken gewesen. Das Kind macht keinen Schritt selbst, kann
nicht alleine sein Mäppchen auspacken, die Frühstücksdose aus dem Ranzen holen,
es vergisst zwischendurch, wo die Toilette ist. Das Kind ist faktisch nicht
beschulbar, aber du darfst es in den ersten beiden Schuljahren nicht offiziell
überprüfen lassen.
Heute ist
dieses Kind im vierten Schuljahr und muss auf dem Würfel immer noch die
einzelnen Augen nachzählen, während schon Kindergartenkinder die Zahlen eines
Würfel als Gesamtbild erkennen können. Mittlerweile hat das Kind den
Inklusionsstatus. Aber das war ein Kampf. Ich kann Lehrer verstehen, die in so
einem Fall sagen: Bevor ich mir den ganzen Papierkrieg antue, Förderpläne
schreibe, dauernd runde Tische mit Psychologen und Förderausschüssen habe,
lasse ich das Kind einfach mitlaufen und Mandalas ausmalen, bis es sitzen
bleibt. Das ist total ungerecht, aber ich kann es verstehen.
Ein
Inklusionskind bedeutet einen Haufen mehr an Arbeit. Du koordinierst dauernd
mit dem Inklusionshelfer, du koordinierst mit den Nachmittagseinrichtungen, mit
dem Hort, mit dem Sportverein, je nach deinem Engagement, du hast immer wieder
runde Tische mit Förderlehrern und triffst dauernd die Eltern.
Förderschulen sind bessere Alternativen
Wir haben
an der Schule ein Kind mit Asperger-Syndrom, das bekommt nicht viel mit im
Unterricht und kann einen ganzen Vormittag in der Gruppe kaum aushalten. Die
Eltern sagen dazu nur, dass die Lehrerin sich eben fortbilden müsse, dabei wäre
das Kind in einer anderen Schulform besser aufgehoben und könnte viel
professioneller gefördert werden. Die Eltern denken, sie ermöglichen ihrem
behinderten Kind in der Regelschule ein normales Leben, aber es ist gar nicht
normal für die Kinder. Sie haben von Anfang an in der Klasse eine besondere
Rolle und werden auf einen Thron gehoben, weil die Lehrerin sich am meisten um
dieses Kind kümmert.
Man kann
auch nicht davon ausgehen, dass die I-Kinder, wie die Inklusionskinder genannt
werden, automatisch zu den Geburtstagen oder zum Spielen am Nachmittag
eingeladen werden, jedenfalls jene, die am Vormittag für die gesamte Klasse
nicht leicht erträglich sind. In den Förderschulen würde es den Kindern meiner
Meinung nach besser gehen, sie wären weniger isoliert und würden in kleineren
Klassen besser gefördert.
Als ich
vor 15 Jahren als Lehrerin angefangen habe, gab es an manchen Schulen in
Frankfurt den sogenannten Gemeinsamen Unterricht. Das waren Klassen mit nicht
mehr als 21 Kindern, in denen es drei Inklusionskinder gab und die von einer
Lehrerin und einer Förderschullehrerin gemeinsam unterrichtet wurden. Das war
ein gutes Modell, das aber offenbar zu teuer war, denn es wurde wieder
abgeschafft.
Traumatisierte Flüchtlingskinder
Das
schlimme ist, du bist als Klassenlehrerin gezwungen, taktisch zu denken. Bei
den Lernhilfe-Kindern und sozial emotionalen und praktisch-bildbaren Kindern
ist die Grau-Zone riesig und weitläufig interpretierbar. Je nach Kapazität muss
man sich dann entscheiden: Kämpfe ich zwei Jahre um einen inklusiven Status für
ein Kind? Dann kommt, wenn ich Glück habe, einmal in der Woche ein
Förderschullehrer. Oder habe ich mehr davon, wenn das Kind keinen inklusiven
Status bekommt? Dann kriege ich wenigstens einen unausgebildeten I-Helfer, der
jeden Tag im Unterricht mit dabei ist. Oder ist es schlauer, wenn ich bei einem
Kind auf Lernhilfe plädiere und nicht darauf, dass es emotional soziale
Schwierigkeiten hat, weil ich diesem Fall gar keine Unterstützung bekommen
würde? Das alles muss man abwägen, aber das wird natürlich nicht immer dem Kind
nicht gerecht.
In
unserer Gesamtkonferenz, die alle zwei Wochen stattfindet, reden wir nur noch
über Inklusion, über die Probleme damit, über neue Paragraphen oder rechtliche
Grundlagen. Dann denke ich mir jedes Mal: Warum eigentlich? Ich bin doch keine
Förderschullehrerin. Und außerdem haben wir genug andere Probleme an der
Schule, über die man reden müsste.
Im
vergangenen Jahr war in meiner Klasse ein Flüchtlingskind, das war
traumatisiert und hat nur gebrüllt. Es ging dann erst einmal darum, dem Kind
ein gutes Gefühl in der Klasse zu geben. Anfangs saß es nur in der Spielecke,
nach einem dreiviertel Jahr hat es angefangen, ein bisschen die Sprache zu
lernen und körperliche Berührung zuzulassen. Irgendwann hat es sich das erste
Mal auf meinen Schoß gesetzt, da sind mir die Tränen runtergelaufen. Ich habe
ein dreiviertel Jahr in das Kind investiert, habe einen Übersetzer organisiert,
den ich im Unterricht anrufen konnte. Ich habe die Eltern mit ins Boot geholt,
die haben irgendwann Vertrauen gewonnen, es lief gut – und dann war das Kind
nach den Sommerferien auf einmal weg. Weiter gezogen, vermutlich ins nächste
Flüchtlingsheim. Aber das erfährst du als Klassenlehrerin nicht. Ich fürchte,
wenn das nächste Flüchtlingskind kommt, werde ich emotional nicht mehr so viel
investieren.
Viele Kinder sind vernachlässigt
Viele
Kinder sind auch einfach nur vernachlässigt. Wir haben in unserer Schule einige
Erstklässler, die stehen alleine auf, die bekommen kein Frühstück mit in die
Schule, die Mütter, oft alleinerziehend, haben Spätschichten und kriegen es
nicht auf die Reihe. Viele Erstklässler sind jeden Tag bis 17 Uhr in der
Betreuung und gehen dann alleine nach Hause. Es gibt viele Familien, da kümmert
sich keiner. Auch bei den Wohlstandskindern. Die haben materiell gesehen alles,
aber trotzdem hört ihnen zuhause keiner zu, weil die Eltern beide arbeiten und das
Au-Pair-Mädchen überfordert ist. Die drehen dann morgens in der Schule richtig
auf. Wenn man einem dieser Kindern dann ins Zeugnis schreibt: „Ihr Kind hält
sich nicht immer an die Regeln“, droht der Vater sofort mit einer Klage.
Der
Erziehungsauftrag in der Schule wird immer größer. Ich habe auch schon Kinder
nach Hause geschickt, weil sie den Unterricht komplett boykottierten, und dann
die Eltern angerufen, um ihnen das zu sagen. Da bekomme ich schon mal die
Antwort: „Sie müssen das aber hinkriegen. Erziehen Sie doch mein Kind. Sie
sehen es schließlich öfter als ich.“ Viele Eltern lassen ihren Kindern alles
durchgehen und dem Kind wird suggeriert, dass die Lehrerin nicht genug
Rücksicht auf seine Bedürfnisse genommen hätte. Dabei sind das manchmal Kinder,
die aus bürgerlichen Elternhäuser stammen, aber „Fotze“ zu mir sagen. Ein Fall
für den Schulpsychologen? Fehlanzeige! Der muss mehrere Schulen betreuen und
hat den nächsten freien Termin erst in drei Monaten.
Hinten
runter fallen oft die Kinder, die unauffällig sind. Ich versuche als Lehrerin,
die Guten besonders hervorzuheben und viel zu loben, und ich ignoriere jene,
die permanent stören. Oder ich schmeiße sie raus, weil ich finde, dass die
anderen auch ein Recht auf Ansprache habe. Für die muss ich auch da sein.
Nicht unter diesen Bedingungen
Nebenbei
sind wir noch in mindestens fünf Arbeitskreisen, schreiben dauernd Förderpläne
auch für die normalen Kinder, organisieren Schulfeste, Sportfeste,
Bundesjugendspiele, Faschingsfeste, Herbstfeste, Weihnachtsfeiern, Projektwochen,
Lesenächte, Klassenfahrten und ein AG-Angebot für den Nachmittag. Und alles,
was wir machen, jede Entscheidung, wird dann wieder auf den Prüfstand gestellt.
Wir evaluieren ständig alles und dauernd, unser Schulprogramm, Curriculae in
allen Fächern, Schulbücher, Didaktik-Vorgaben, Klassenarbeiten und sonst
irgendwelche Beschlüsse.
Heute
würde ich keine Grundschullehrerin mehr werden, weil ich den Kindern nicht mehr
gerecht werde. Mir macht die Arbeit Spaß, aber nicht unter diesen Bedingungen.
Ich bin Lehrerin und will altersgerecht Inhalte vermitteln, aber das tritt
immer mehr in den Hintergrund. Wir alle haben uns bewusst gegen das Lehramt an
Förderschulen entschieden, obwohl wir mehr Stunden haben und weniger Geld
verdienen. Jetzt machen wir den Job für beide Lehrämter – bei gleichem Deputat.
Ich finde
es auch unwürdig, dass wir alles glatt bügeln und die Steine aus dem Weg
räumen, immer den Kindern zuliebe. Denn irgendwie versucht man alles immer
hinzukriegen, weil man eine moralische Verantwortung hat, aber eigentlich ist
es eine große Lüge. Ich arbeite mehr als doppelt so viele Stunden, als ich
bezahlt bekomme. Wir haben an unserer Schule auch einen hohen Krankenstand,
vermutlich weil man es gar nicht anders aushält.
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