Womit wird er nicht
alles strapaziert und konterkariert: der Begriff des Lehrers.
"Verstaubt" sei er, "unangemessen" und
"unzeitgemäß". Vor allem verkenne er aber den Kern des Lernens, der
in der Selbstständigkeit und Eigenverantwortung des Lernenden zu sehen sei.
Stattdessen manifestiere er ein überholtes, traditionelles Machtgefüge. Und
damit wird der Begriff des Lehrers bei so manchen Schulexperten sogar ungerecht
und inhuman.
Guten Morgen, Herr Lernbegleiter, Zeit, 9.2. von Klaus Zierer
Alternativen
sind schnell gefunden: Lernbegleiter, Lerncoach, Lernberater und vieles andere
mehr wird propagiert. Bis heute sind diese Worthülsen Kampfbegriffe im
bildungspolitischen Diskurs.
Hinter diesem geforderten Wandel stehen "neuere" Erkenntnisse aus
einer weltanschaulich geprägten Erziehungswissenschaft, die nahelegen, den
Begriff des Lehrers endlich aufzugeben und ihn durch einen "neuen"
Begriff zu ersetzen. So wirkmächtig Sprache auch ist, so ehrlich muss sie
bleiben. Mit Blick auf Ergebnisse der empirischen Erziehungswissenschaft zeigt
sich, dass nicht alles, was als "neu" gehandelt wird, besser ist als das,
was als "alt" angesehen wird.
Besonders
eindringlich macht dies der Dumm-und-dümmer-Effekt, der zurückgeht auf ein
Experiment von David Dunning und Justin Kruger: Studierende wurden gebeten,
nach dem Verlassen des Prüfungsraumes ihre erbrachte Leistung einzuschätzen.
Dabei zeigte sich, dass sich die Leistungsschwächeren um bis zu 20 Prozent
überschätzten, wohingegen sich die Stärkeren um bis zu fünf Prozent
unterschätzten. Auf den Punkt gebracht: Inkompetente Menschen können ihre
Inkompetenz nicht einschätzen.
Mittlerweile
wurde dieser Effekt in Schulen mehrfach repliziert. Nehmen wir das Beispiel
einer offenen Lernumgebung, die mit Stationen auf unterschiedlichen
Leistungsniveaus gestaltet ist. Für gewöhnlich ergeht nach Erklärung der
Stationen der Auftrag an die Lernenden, sich jene Aufgaben herauszusuchen, von
denen sie glauben, dass diese die richtigen für sie sind und ihrem
Leistungsvermögen entsprechen – ein Szenario, das an Schulen tagtäglich
stattfindet. Der Dumm-und-dümmer-Effekt macht darauf aufmerksam, dass dieses
Vorgehen nicht ohne Schwierigkeiten bleiben wird. Denn Leistungsschwächere
werden häufig zu schwierige Aufgaben auswählen, wohingegen Leistungsstärkere
nicht davor gefeit sind, zu leichte Aufgaben zu machen. Es obliegt folglich
auch in einer offenen Lernumgebung besonders der Kompetenz und Haltung des
Lehrers, ob Lernen gelingt oder nicht.
Vor diesem Hintergrund
mein Plädoyer: Wir sind Lehrer! Als solche ist es unser Verständnis, dass
Lernen von den Schülerinnen und Schülern zunehmend selbst reguliert wird, dass
Lernen nicht machbar ist, dass Lernen auf differenzierte Angebote angewiesen
ist. Kein Didaktiker in den letzten 30, 40 Jahren hat daran wirklich gezweifelt!
Wer an dieser Stelle aber stehen bleibt, verkennt, dass es für das Gesagte auch
notwendig werden kann, einzugreifen, wenn Über- oder Unterforderung zutage
tritt, einzugreifen, wenn Irrwege nicht erkannt werden und Umwege nötig sind,
einzugreifen, um der Selbstwahrnehmung eine Fremdwahrnehmung
gegenüberzustellen.
Wer
sich als Lehrer nur auf das Lernen besinnt, unterschätzt seinen Einfluss, der
natürlich mit einem Machtgefüge verbunden ist – wie sollte es anders sein? Was
aber noch viel wichtiger ist: Er verkennt die Verantwortung des Lehrens –
nämlich Lernen so gut es geht zu ermöglichen.
Dabei
ist es genau diese Verantwortung des Lehrers, die entscheidend ist für den
Bildungserfolg: mit dem Machtgefüge so umzugehen, dass Unterricht ein Dialog
ist, eine Interaktion zwischen Menschen. Kompetenz und Haltung ist dafür
notwendig. Und all das steckt im Begriff des Lehrers wie in keinem anderen.
KLAUS ZIERER
ist Professor für Schulpädagogik an der Universität Augsburg.
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