Muslimische
Schülerinnen können sich nicht auf die Religionsfreiheit berufen, um sich vom
Schwimmunterricht dispensieren zu lassen: Mit diesem Urteil verhilft derEuropäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) einem vom Bundesgerichterlassenen Grundsatz zum Durchbruch – und unterstreicht damit, dass «fremde
Richter» hierzulande geltende Auffassungen keineswegs nur rügen, sondern sie in
wichtigen Fragen aktiv mittragen und ihnen zu Gewicht verhelfen. Das Urteil ist
richtig: Die Religionsfreiheit ist keine Ermächtigung zur Zusammenstellung des
Stundenplans nach eigenen Wertvorstellungen. Eine solche Auslegung widerspräche
dem Sinn dieses Freiheitsrechtes.
Keine Sonderrechte für Sektierer, NZZ, 11.1. Kommentar von Daniel Gerny
In
Europa und in der Schweiz hat die Religionsfreiheit einen stark integrativen
Charakter. Das erklärt sich aus ihrer Geschichte. Der Gedanke der religiösen
Neutralität geht auf die konfessionellen Kriege zurück und bezweckte das
friedliche Zusammenleben der Konfessionen. Die Kirchenspaltung zwang den Staat
zu konfessioneller Neutralität: Dadurch sicherte er sich die Autorität der
letzten Entscheidung. Diese Haltung, die hart erkämpft werden musste, schlägt
sich heute auch im Bildungswesen nieder. Der Schulalltag ist weder auf eine
christliche noch auf eine andere Glaubensrichtung ausgerichtet. Die Lehrpläne
werden nach wissenschaftlichen Kriterien erarbeitet und von politisch gewählten
Gremien verabschiedet. Damit rechtfertigt die Schule die Pflicht zum Unterrichtsbesuch,
und zwar unabhängig davon, ob sich die Eltern mit dem Schwimmunterricht oder
mit der darwinistischen Evolutionstheorie schwertun.
Die
religiöse Neutralität der Schule ist so verstanden kein gegen die Religion
gerichteter Grundsatz – im Gegenteil: Religiöse Pluralität erfordert gerade
einen säkularen Staat. Die meisten Religionsvertreter wissen dies: Weder gegen
den Sexualunterricht mit Plüschgenitalien noch gegen den Schwimmunterricht
kommt die Opposition in erster Linie von gewichtigen Theologen, sondern von
Sektierern, die ihr Weltbild nicht nur über das Bildungsinteresse ihrer eigenen
Kinder stellen, sondern über alles, was sich nicht zu hundert Prozent mit
eigenen Überzeugungen deckt. Sie machen sich die Freiheitsrechte zunutze, um sich
von den Einflüssen einer freiheitlichen Gesellschaft abzuschotten. Es ist gut,
dass der EGMR dies nicht schützt.
Weniger
klar ist freilich, was mit dem Urteil wirklich gewonnen ist. Es betrifft einen
extremen Fall, wie er die Behörden nur ausnahmsweise absorbiert. Die Schulen
des multikulturellen Zeitalters aber sind permanent mit Fragen des religiösen
Selbstverständnisses und Zusammenlebens konfrontiert. Die konsequente
Verbannung der Religion aus dem Klassenzimmer, mit dem Ziel, Schule aus Angst
vor möglichen Konflikten möglichst wertfrei zu gestalten, ist deshalb nicht die
richtige Schlussfolgerung aus dem EGMR-Urteil. So würde eine inhaltsleere und
damit letztlich wirkungslose Toleranz befördert. Religion lässt sich nicht
einfach aus dem Blickfeld verdrängen. Sie prägt uns, und ihre Symbole sind
stets präsent. Die Schule ist in den letzten Jahren nicht zufällig zunehmend
zum Ort für religiöse Konflikte geworden. Sie kommt nicht darum herum, sich an
deren Bewältigung zu beteiligen.
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