Ende 2016
wurden die Schweizer 15-Jährigen Europameister in Mathematik. Das ist
erfreulich. Nur, seit dem Ende der Kolonialzeit sind Europameister nicht mehr
automatisch Weltmeister. Haben wir es aufgegeben, uns mit den Klassenbesten zu
vergleichen, mit Singapur, China, Taiwan, Südkorea, Japan? – Ich habe je einen
Drittel meiner beruflichen Laufbahn in Afrika, im Nahen Osten und in Ostasien
verbracht. Die Chefs der Asienabteilung des UNDP stammten aus Nationen, die im
Pisa-Test die ersten fünf Ränge belegen. Es sind konfuzianisch durchdrungene
Länder. Die diesseitige Philosophie des Konfuzius geht davon aus, dass das
Universum, die Welt und der Mensch rational verstanden werden können. Ziel des
Lebens ist, der bestmögliche Mensch zu werden, ohne Hoffnung auf Belohnung im
Diesseits oder im Jenseits. Dazu braucht es Fleiss, Disziplin und Leistung.
Dies sollte uns Europäern bekannt vorkommen. Schon die Aufklärer haben
Konfuzius studiert. Immanuel Kants kategorischer Imperativ gleicht der Ethik
des chinesischen Altmeisters. All das wissen gebildete Ostasiaten. Ihr Bild der
Moderne ist dem heutigen Westeuropa geistesverwandter als Islamismus, Animismus
oder christlicher Fundamentalismus.
Der Pisa-Test und die Ameisen, NZZ, 13.1. Gastkommentar von Toni Stadler
Europäische
Bildungsverantwortliche haben Mühe mit den fernöstlichen Schulsystemen.
Irgendetwas an solchen Spitzenleistungen kann doch nicht stimmen. Natürlich
kommt die Kritik politisch korrekt daher: Zweifellos wissen die Ostasiaten, wie
man organisiert, wie man den Kindern Mathematik, Physik, Chemie, Ökonomie
einpaukt, doch gerade deswegen fehlt es an Kreativität, an Erfindungsgabe und
ganz generell an einer humanistischen Bildung, wie sie an den philosophischen
Fakultäten Europas erworben werden kann. Die französische Premierministerin
Edith Cresson hatte diese Art von Hochnäsigkeit einmal ungewollt auf den Punkt
gebracht, als sie sagte: «Wir Europäer sind keine Ameisen.»
Vermutlich
hat der westliche Rückstand im Pisa-Test wenig mit Drachenmüttern und
Ameisenfleiss zu tun, dafür viel mit einer bewussten Beschränkung der Lehrpläne
aller Stufen auf das Wesentliche und Anwendbare. In Ostasien werden
Naturwissenschaften und Technik mit Fortschritt und steigendem Wohlstand
assoziiert. Dies hat fast überall zu zeitgemässen Bildungssystemen geführt. In
Singapur, Korea, Taiwan und in den Grossstädten Chinas studieren zwei Drittel
der Studenten im Hauptfach Mint-Disziplinen, also Mathematik, Informatik, Naturwissenschaft
und Ingenieurwesen. Integriert in die Hauptfächer sind die allgemeinbildenden
Nebenfächer. Durch das Verknüpfen von Naturwissenschaft und Geisteswissenschaft
wird die Trennung zwischen exakten und nichtexakten Wissenschaften gemildert.
Es lohnt sich, die Lehrpläne von Singapur anzuschauen: Zur Kunstfertigkeit in
der Primarschule gehört das Malen von Schriftzeichen; zur Mathematik in der
Sekundarschule gehört die Geschichte der Zahlen und ihrer Beziehungen
zueinander; im Fach «Menschsein» auf der Gymnasialstufe werden Biologie,
Sozialverhalten, Rechtskunde vermittelt.
Seit
etwa 1970 ist es in Europa chic, gegenüber Naturwissenschaften und Technik
skeptisch zu sein. Gleichzeitig wird unsere Jugend auf der Basis eines Angebots
schöngeistiger Fächer aus dem 19. Jahrhundert unterrichtet. Damals befasste man
sich mit den Unterschieden zwischen den Nationen, zwischen den Sprachen,
zwischen den Rassen, zwischen Kulturen und Religionen. Die mit Abstand grösste
Fakultät war und ist die philosophische Fakultät. Noch heute leisten sich die
Länder der Europäischen Union den Luxus, bis zur Hälfte ihrer begabtesten
20-Jährigen vergangenheitslastige Geisteswissenschaften studieren zu lassen:
von der griechischen Philologie über die Skandinavistik bis zur Indologie, so
als ob die Universitäten jener Länder dies nicht selbst tun könnten. Einmal
gegründete Forschungsgebiete sind in Europa unsterblich. Niemand fragt: Wozu
tun wir das heute noch?
Was
lernen vom Fernen Osten? In einer zusammenwachsenden Welt brauchen Heranwachsende
das Rüstzeug, um Gegenwarts- und Zukunftsprobleme lösen zu können: Klimawandel,
Einbezug der armen Länder in die Globalisierung, vernünftige Kontrolle der
Migration, Umgang mit Andersheit. Eine Fokussierung der Lehrpläne auf das
Anwendbare und Finanzierbare würde Europa guttun. Auf Kosten von Fächern, die
sich in den vergangenen 150 Jahren angesammelt haben und die heute keine
Prioritäten mehr sind. Es geht um eine Balance zwischen dem Glück der freien
Studienwahl und dem Beitrag staatlich finanzierter Universitätsbildung an die
Gesellschaft. Die Studentenzahlen steigen, gleichzeitig importiert die Schweiz
Naturwissenschafter. Ein Numerus clausus für Geisteswissenschaften und gewisse
Sozialwissenschaften wäre der Anfang einer Trendumkehr.
Toni
Stadler ist Historiker mit 20 Jahren Arbeitserfahrung bei IKRK, Uno, Deza und
OECD; er ist Autor des Romans «Global Times» (Offizin-Zürich-Verlag, 2015).
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