3. Januar 2017

Keine Mythen, sondern Tatsachen

Der Schulleiter Jürg Portmann verweist die Kritik amLehrplan 21 ins Reich der  Mythen. Damit entwertet er die Argumente der Kritiker, noch bevor er seine eigenen vorbringt. Das ist nicht nur fragwürdiger Stil, es entbindet ihn auch davon, wirklich Überzeugendes zur Richtigstellung der angeblichen Mythen vorbringen zu müssen: Er verharmlost, simplifiziert, generalisiert, deutet um und verstrickt sich in Widersprüche. Ironischerweise bekräftigt er damit einfach die Mythen der Lehrplanverantwortlichen.
Keine Mythen, sondern Tatsachen, 3.1. von Felix Schmutz



1. Unterrichtsmethoden
Portmann gibt vor, die Methodenfreiheit der Lehrkräfte sei gewährleistet. Allerdings verlangt er, dass je nach Ziel vielfältige Methoden zum Einsatz kommen müssen. Dagegen wäre nichts einzuwenden, wenn nicht im gleichen Abschnitt einschränkend zum Ausdruck käme, dass Portmann wisse, welches jeweils die „erfolgversprechendste“ Methode ist, dass Frontalunterricht nur „in bestimmten Situationen seine Berechtigung hat“.  Echte Methodenfreiheit meint aber etwas anderes, nämlich die im Sprichwort enthaltene Weisheit: „Viele Wege führen nach Rom“, was bedeutet, dass die Lehrperson selbst entscheidet, welche Methode sie für die geeignetste hält. Der Lehrplan 21 und die mit der Umsetzung Beauftragten wollen jedoch durch doktrinäre Weiterbildungsveranstaltungen, Kontrollinstrumente, klassenübergreifende Strukturen des selbst organisierten Lernens (SOL) die Lehrpersonen in ihrer Methodik steuern. Das ist das Gegenteil von Methodenfreiheit, also kein Mythos, sondern Tatsache.

2. Coaching.
Portmann zitiert zur Untermauerung seiner Ausführungen Hattie, deutet ihn aber nach seinem Gusto um. Mit dem Begriff „Frontalunterricht“ meinen die Schulreformer bei uns eigentlich das, was besser mit „Dozierunterricht“ bezeichnet werden müsste. In „Visible Learning“ definiert Hattie die von ihm favorisierten lehrerzentrierten Unterrichtsformen „Direct Instruction“ und „Reciprocal Teaching“ als einen gemeinsamen, gut rhythmisierten Unterricht im Klassenverband, der von klaren Intentionen, motivierenden Problemstellungen ausgeht, über ein eng geführtes fragend-entwickelndes Verfahren das Verständnis für eine Sache aufbaut und schliesslich eine intensive Übungsphase daran anschliesst, wobei in allen Abschnitten eine aktive Beteiligung der Lernenden anzustreben ist und ein ständiges Feedback von der Lehrperson erfolgen soll.1
Dieser Unterricht hat nach Hatties Berechnungen eine Effektstärke, die weit über demjenigen liegt, der die Lehrperson nur noch als „Facilitator“ (Lerncoach) einsetzt  („Coaching“ bedeutet bei Hattie intensiven Nachhilfeunterricht).  Diese Erkenntnisse aus zahlreichen Metastudien mag Portmann umbiegen, wie er will, er schafft damit bloss seinen eigenen Mythos.

3. Einfluss des Lehrers
Mit der Aussage, es stimme „teilweise“, dass „der Lehrer den Unterschied“ mache, vernebelt Portmann tatsachenwidrig die bei Hattie klar differenzierten Aussagen:      1. Das Elternhaus unterstützt durch seine Erwartungshaltung, seinen Anregungshorizont, seinen ökonomischen Status und sein Verständnis für die Schulprogramme signifikant die Motivation und die Lernchancen seiner Kinder.        2. Die qualifizierte Arbeit der Lehrperson hingegen garantiert den Zuwachs an schulischem Wissen und Können.
Die erste Nennung des Elterneinflusses figuriert auf Hatties Rangliste erst auf Platz 37. Alle vorderen Ränge gebühren den Lehrenden und ihrem Unterricht.2 Der dominierende Einfluss der Lehrenden ist also kein Mythos, sondern eine Tatsache!

4. Reformwut
Portmann verharmlost die Reformitis des letzten Jahrzehnts. Natürlich sind es nicht nur drei Projekte, welche der Schule aufgebürdet wurden, wie er behauptet. Er „vergisst“ die Einführung des Qualitätsmanagements, der vergleichenden Leistungstests, des Nachteilsausgleiches, der so genannten geleiteten Schulen, der Umstellung auf Sammelfächer, auf die neue Fremdsprachendidaktik, er vergisst die Verbreiterung des administrativen Personals, das Lehrpersonen mit Papierkrieg belastet, etc. Schade, dass er das alles nicht mitbekommen hat.

5./6.  Leistungsmessung und Wissen
Entgegen Herrn Portmanns Ansicht lässt sich unsere gegenwärtige Bildungspolitik erklärtermassen durch PISA leiten. Das bedeutet, dass der Unterricht auf „Output-/Outcome-Orientierung“ umgepolt werden soll. Lehrende sollen mehr Zeit auf Testvorbereitung verwenden statt auf die Verständnisbildung und die Zusammenhänge von Lerninhalten, was übrigens nicht gleichzusetzen ist mit „Bulimielernen“, wie Reformbegeisterte gerne dem bisherigen Unterricht pauschal unterstellen. Der Lehrplan 21 enthält eben deshalb so engmaschige „Kompetenzvorgaben“, damit ein nach Meinung der Behörden besserer Erfolg durch testnahes Lernen Einzug halten soll. Natürlich wird der Unterricht in nachhaltiger Weise beeinflusst, wenn nicht mehr der Wissensaufbau Ausgangspunkt des Lernens bildet, sondern die von Inhalten weitgehend abgekoppelten Anwendungen.

Dass dies kein Mythos ist, zeigen die einschlägigen Erfahrungen mit dem gescheiterten Konzept in den USA. Ernüchtert stellt Diane Ravitch fest: „Testtaking skills and strategies took precedence over knowledge“4 (Testlösungskompetenzen und –strategien erhielten Vorrang vor dem Wissen).

Portmanns Erkenntnis, dass echte Kompetenzen nur wissensbasiert entstehen können, kommt reichlich spät, denn im Lehrplan, auf den er sich freut, fehlt sie weitgehend, selbst wenn in den Formulierungen ab und zu Wissensziele verklausuliert anklingen. Es nützt auch wenig, damit zu beruhigen, das sei ja alles nicht so gemeint, wenn gleichzeitig schulpolitisch alle Massnahmen weiterhin darauf hinauslaufen, den radikal verstandenen Paradigmenwechsel von den Lehrpersonen vehement einzufordern. 

7. Ein Letztes
Im letzten Abschnitt rühmt Portmann den Lehrplan 21 als Vorlage zur Herstellung von neuen Lehrmitteln,  die statt Wissen endlich Kompetenzen vermitteln würden. Damit bestätigt er genau das, was er unter Punkt 6 gerade eben bestritten und als Mythos der Kritiker bezeichnet hat, nämlich den Vorrang der Anwendung vor dem Wissen. Kann übrigens Herr Portmann ein Schulbuch der letzten dreissig Jahre nennen, das tatsächlich nur Wissen und keine Anwendungen enthielt?

Es ist bedenklich, wenn ein Schulleiter derart hemdsärmlig mit wohl durchdachter Kritik am Lehrplan 21 umgeht und den Kritikern dabei noch unterstellt,  sie würden sich dem Fortschritt entgegenstellen. Die von Portmann beanstandeten Mythen jedenfalls entpuppen sich leider als Tatsachen. 

1 Hattie, John, Lernen sichtbar machen, Baltmannsweiler 2013, S. 242ff.
2 ebd., S. 433 ff.

3 Ravitch, Diane, The Death and Life of the Great American School System, New York 2010, S. 107ff.

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