«Pisa» heisst das Stichwort für das
angebliche Versagen unseres Schulsystems,
zumindest was das Lesen, das heisst das Textverständnis, der Schüler betrifft.
Die Studie über die Basis-Kompetenzen unserer Schüler im internationalen
Vergleich misst die Lesefähigkeit anhand von Gebrauchstexten – eine
Voraussetzung dessen, was man gemeinhin unter «Bildung» versteht. Die Studie
löst immer wieder eine breite, mitunter heftig geführte Diskussion über Sinn
und Unsinn der traditionellen Bildung aus. Dabei stehen sich zwei Auffassungen
diametral gegenüber: eine ältere Auffassung, welche die Bedeutung der
humanistischen Bildung betont und gleichzeitig die Gefährdung traditioneller
Lerninhalte beklagt, und eine neuere Auffassung, wonach sich die Bildung an
ihrem praktischen Nutzen messen lassen muss. Die Vertreter der letzteren gehen
teilweise so weit, dass sie nicht nur Griechisch, Latein und Goethes «Faust» im
Gymnasium für überflüssig halten, sondern selbst den traditionellen
Mathematikunterricht. Nach ihnen hat die Schule ganz allgemein zum Ziel, die
Schüler auf ein erfolgreiches berufliches Leben vorzubereiten.
Goethe oder Google: Wer erklärt die Welt? Thurgauer Zeitung, 16.1. von Mario Andreotti
Zwar ist es selbstverständlich, dass die
Schule praktische Fertigkeiten lehren soll:
Lesen, Schreiben, Rechnen, den Umgang mit PC und Internet. Entscheidend aber
ist, dass sie auch Ideale und Sinnzusammenhänge vermittelt, die allem
praktischen, individuellen Nutzen vorausgehen. Bis in die frühe Neuzeit waren
das die Werte der christlichen Lebensordnung. Auf sie folgte das humanistische,
an der griechisch-römischen Antike und den Klassikern der Nationalliteraturen
orientierte Bildungsideal – in Italien etwa Dante, Petrarca und Boccaccio, in
Deutschland Goethe und Schiller. Beide Leitkulturen hatten das gleiche Ziel:
den Zusammenhalt des Gemeinwesens zu sichern. So verstandene Bildung ist eine
Notwendigkeit, denn eine Gemeinschaft funktioniert nur, wenn ihre Mitglieder
sich verständigen können – und zwar nicht nur schlecht und recht, sondern
korrekt und differenziert. Sprachbeherrschung in Wort und Schrift ist die
Grundlage aller Bildung! Muss noch eigens betont werden, dass es hierzu keine
bessere Schule als die Literatur gibt? Dazu kommen als unverzichtbare
Forderung Kenntnisse der Geschichte. Ein demokratischer Staat kann nur von
Menschen gestaltet werden, welche die Bedingungen seiner Entstehung und seine
tragenden Kräfte kennen.
Bildung zielt aber nicht nur auf staatsbürgerliche
Pflichterfüllung, sondern ebenso sehr auf ein freieres,
reicheres und erfüllteres Leben. Und das sowohl «in Einsamkeit und Freiheit»,
wie Wilhelm von Humboldt formuliert hat, als auch im geselligen Kreis. Sie ist
kein Dekor, das man sich zulegt, nachdem man alles «Nützliche» erworben hat.
Sie ist die Basis, auf der alles andere ruht.
Bildung lässt sich nicht in der Hast
rascher Erledigung erwerben; sie ist mehr als fachliche Qualifikation
und «Fitsein für ...». Wer sich bildet, braucht Geduld und Selbstdisziplin,
ähnlich dem, der einen Sport ausübt oder ein Instrument erlernt. Doch er wird
belohnt: Homer und Dante, Shakespeare und Goethe, Proust und Döblin bringen ihm
unendlich viel mehr Freude und Einsicht als mindere, auf den ersten Blick
zugänglichere Autoren oder gar die Volksverblödungsmaschinerien der
Privatfernsehsender, denen die Menschen Tag und Nacht ausgesetzt sind. Die
Kultur ist ein Gewebe, in dem alles mit allem zusammenhängt. Motive der
griechischen oder germanischen Mythologie, des Volksmärchens oder der Bibel
begegnen uns in der Literatur wie in der Oper, im Sprechtheater, im Museum,
aber auch in tausend alltäglichen Dingen. Wohl dem, der sie entziffert; ihm
zeigt sich die Welt als ein vielschichtig lesbares Buch. Und damit erlebt er ein
Glück der Erkenntnis, das über jeden praktischen Nutzen weit hinausgeht.
Der Autor ist Dozent für Neuere deutsche Literatur und
Buchautor
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