Im
intensiv geführten Streitgespräch zwischen Elfy Roca und Kathrin Scholl über
die Lehrplan-Initiative wird klar: Die Vorstellungen darüber, wie die Schule
der Zukunft konkret aussehen soll, differieren gewaltig.
Frau Roca, was wollen Sie mit der Initiative erreichen?
Elfy Roca: Unser Anliegen ist es,
dass die Diskussion darüber, nach welchen Grundlagen Schulbildung vermittelt
werden soll, ins Laufen kommt. In den letzten Jahren sind viele Veränderungen
passiert. Vorläufiger Endpunkt ist da der Lehrplan 21, dem wir sehr kritisch
gegenüberstehen. Mit unserer Initiative legen wir die Eckwerte für einen
künftigen Aargauer Lehrplan fest, der bekanntlich auf der Basis des Lehrplans
21 entstehen soll.
Aber die Initiative kann den Lehrplan 21 ja nicht
verhindern?
Kathrin Scholl: Nein, das kann sie
nicht. Der Lehrplan 21 dient bloss als Grundlage für die Kantone. Der Aargau
macht, wie wir soeben gehört haben, seinen eigenen Lehrplan auf der Basis des
Lehrplans 21, passt ihn den eigenen Bedürfnissen an. Wie der neue Aargauer
Lehrplan dereinst aussehen wird, wissen wir heute noch nicht, die Diskussion
läuft erst an, die Einführung ist ja auch frühestens im Schuljahr 2020/21
möglich. Die Initiative setzt natürlich nicht nur Eckwerte fest, sie ist ein
ausformulierter, einschränkender und abschliessender Gesetzestext.
Warum ist die Initiative so kompliziert und
verklausuliert formuliert?
Elfy Roca: Die Initiative ist
überhaupt nicht kompliziert! Wir sagen schon im Titel, was wir wollen. Leider
können wir nicht über den Lehrplan 21 abstimmen. Deshalb müssen wir diesen Weg
gehen. Bisher waren die Lehrpläne vernünftig. Doch jetzt stehen wir vor
grundsätzlichen Veränderungen, die wir nicht mittragen können.
Kathrin Scholl: So gross kann die
Veränderung nicht sein: 80 Prozent der Inhalte bleiben sich ja gleich.
Elfy Roca: Wenn das so wäre,
hätte man ja auch gleich auf einen neuen Lehrplan verzichten können.
Kathrin Scholl: 2006 hat das Schweizer
Volk entschieden, dass die Bildungsziele harmonisiert werden sollen. Damit dies
geschehen kann, braucht es eine gemeinsame Grundlage. Diese Grundlage für die
21 Deutschschweizer Kantone ist der Lehrplan 21; jeder Kanton passt diese
Grundlage den eigenen Bedürfnissen an. Zudem braucht die Schule eine
Weiterentwicklung, sie muss auf neue gesellschaftliche Anforderungen reagieren,
die Wirtschaft stellt Ansprüche. Die Schule muss neue Lerninhalte aufnehmen,
muss die berufliche Orientierung stärker gewichten, muss etwa auf den
Fachkräftemangel in Naturwissenschaft und Technik reagieren. Genau das macht
der Lehrplan 21. Deshalb ist es wichtig, dass er umgesetzt werden kann.
Elfy Roca: Aber der Lehrplan 21
harmonisiert ja gar nicht, er macht die Unterschiede noch viel grösser.
Was nützt die Initiative dem Aargauer Schulkind?
Elfy Roca: Aus meiner
langjährigen Erfahrung als Lehrperson in der Regelschule weiss ich: Kinder, vor
allem in den unteren Klassen, brauchen Lehrpersonen, die anleiten, die lehren,
die fordern. Dass sich die Kinder ihr schulisches Wissen vorwiegend
selbstgesteuert in offenen Lernumgebungen aneignen sollen, wie es der neue
Lehrplan 21 festschreibt, halte ich für falsch. Natürlich sollen Lehrpersonen
verschiedene Methoden einsetzen, sollen Kinder in offenen Lernumgebungen arbeiten
können. Aber den zugrunde liegenden Konstruktivismus als Prinzip lehne ich ab.
Kathrin Scholl: Die Initiative ist
nicht im Sinne der Familien und der Kinder. Denn sie schränkt ihre
Möglichkeiten ein, zum Beispiel im Bereich Mobilität oder was den Fächerkatalog
betrifft. Gute Schüler können nicht stärker gefördert werden, weil sie in den
starren Jahreszielen, welche die Initiative will, gefangen bleiben, aber auch,
weil keine Wahlfächer mehr angeboten werden. Schwächere Schüler, die mehr Zeit
brauchen, scheitern hingegen eher im starren Korsett. Und noch etwas: Der
Lehrplan legt keine Methoden fest, sondern Inhalte.
Elfy Roca: Doch, genau das tut
er.
Kathrin Scholl: Ich habe den Lehrplan
21 genau gelesen. Er macht keinerlei Vorgaben, welche Inhalte mit welcher
Methode zu vermitteln seien. Auch der von Ihnen so stark kritisierte Begriff
«selbstgesteuertes Lernen» kommt im Lernplan 21 gar nicht vor.
Elfy Roca: Tatsache ist, dass die
Lehrerbildung an der Fachhochschule bereits nach den Prinzipien des Lehrplans
21 erfolgt, dass die neuen Lehrmittel auf der Basis des selbstgesteuerten
Lernens aufgebaut sind und dem Konstruktivismus verpflichtet sind. Zudem: Das
Argument der Mobilität zählt hier nicht. Wenn eine Familie in einen andern
Kanton zügelt, ist meist der unterschiedliche Sprachunterricht das grösste
schulische Problem.
Kathrin Scholl: Aber der einheitliche
Sprachunterricht ist gar nicht Inhalt des Lehrplans 21.
Elfy Roca: Nochmals: Der Lehrplan
21 bringt einen Paradigmenwechsel. Er verändert die Sichtweise des Lernens. Das
Kind wird zu sehr sich selber überlassen, was auch bedeutet, dass viele Eltern
den verpassten Schulstoff zu Hause nachholen müssen. Dagegen wehren wir uns.
Kathrin Scholl: Es ist keine
veränderte, es ist eine erweiterte Sichtweise des Lernens und damit eine
Kompetenzerweiterung, im Sinne von: Wie kann ich lernen, das, was ich weiss,
auch anzuwenden.
Auch der Aargauische Gewerbeverband spricht sich klar
gegen die Initiative aus. Überrascht Sie das?
Elfy Roca: Ich war beim
Gewerbeverband zu Gast und konnte die Initiative vorstellen. Das habe ich sehr
geschätzt, war doch der Gewerbeverband der einzige Verband, der sich auf die
Diskussion eingelassen hat. Dass er sich nicht hat überzeugen lassen, ist sein
gutes Recht. Ich denke, das Gewerbe erhofft sich durch die Harmonisierung
Schulabgänger, die bessere Leistungen bringen. Zudem ist die
Kompetenzausrichtung in der Berufsausbildung sinnvoll. Im Gegensatz zur Unter-
oder Mittelstufe. Andrerseits möchte ich aber auch erwähnen, dass es viele
Gewerbetreibende gibt, die in unserem Komitee der Befürworter mitmachen.
Einer der konkreten Kritikpunkte an der Initiative ist
die abschliessende, aber unvollständige Fächeraufzählung im Initiativtext.
Haben Sie unsorgfältig gearbeitet?
Elfy Roca: Das sehe ich nicht so.
Wie bereits erwähnt: Über Verordnungen kann die Stundentafel, die wir
vorschlagen, problemlos abgeändert und ergänzt werden.
Kathrin Scholl: Nein, eben gerade
nicht. In einem Gesetzestext müssen die Kompetenzen, die man der Öffentlichkeit
gibt, genau geregelt sein. Die Fächeraufzählung in der Initiative ist
abschliessend formuliert, Relativierungen sind keine enthalten. Also sind
Interpretationen nicht möglich. Jede Änderung braucht deshalb zwingend eine
Gesetzesänderung. Wenn man also zum Beispiel das im Initiativtext fehlende Fach
«Berufliche Orientierung» aufnehmen möchte, kann das gut und gerne zwei Jahre
dauern, bis die Gesetzesänderung alle Instanzen passiert hat.
Elfy Roca: Ich sehe das ganz
anders. Es braucht dazu keine Gesetzesänderung.
Bildungsdirektor Alex Hürzeler sagt, eine Annahme der
Initiative könne den neuen Aargauer Lehrplan auf der Basis des Lehrplans 21
nicht verhindern. Teilen Sie diese Ansicht?
Elfy Roca: Da sind wir dezidiert
anderer Meinung. Wir beziehen uns ja auf den Bildungsgedanken, wie er in der
Präambel des Schulgesetzes definiert ist. Diesem Grundgedanken und unsere im
Gesetzestext formulierten Eckpunkte widersprechen dem Lehrplan 21. Also muss er
mit seiner ganzen Kompetenzorientierung vom Tisch sein, falls die Initiative
angenommen wird, er kann auf dieser pädagogischen Grundlage gar nicht
eingeführt werden. Falls das die Regierung aber anders sieht und trotzdem an
den pädagogischen Prinzipien des Lehrplans 21 festhalten möchte, dann ist es
denkbar, dass wir uns ans Verwaltungsgericht wenden.
Kathrin Scholl: Der Aargau braucht
ohnehin einen neuen Lehrplan. Die Annahme der Initiative würde nichts
verhindern, aber viel erschweren. Es käme zu einem komplizierten und teuren
Alleingang mit grossen Einschränkungen. Zum Beispiel müssten wir die Ausbildung
anpassen und eigene Lehrmittel entwickeln.
Und es gäbe Jahresziele und einen Rahmenlehrplan im
Kindergarten?
Kathrin Scholl: Ja. Wobei ich sagen
muss: Einen Rahmenlehrplan für den Kindergarten finde ich ziemlich abstrus. Das
gibt es sonst nur an Gymnasien und Berufsschulen. Frau Roca, warum wollen Sie
einen verbindlichen Rahmenlehrplan für den Kindergarten?
Elfy Roca: Wir möchten, dass der
Kindergarten als eigenständige Stufe erhalten bleibt. Der Kindergarten ist eine
Vorbereitung auf die Schule. Natürlich haben da auch Buchstaben und Zahlen
Platz. Aber er soll vor allem der Ort sein, wo die Kinder das Wahrnehmen üben können,
wo sie spielen dürfen und ihre motorischen Fähigkeiten entwickeln können. Im
Übrigen arbeitet der Kanton Solothurn schon lange mit einem Rahmenlehrplan. Was
ist daran also exotisch?
Was passiert bei einer Ablehnung der Initiative durch das
Aargauer Stimmvolk am 12. Februar?
Elfy Roca: Dann akzeptieren wir,
dass die Bevölkerung das Experiment mit dem Lehrplan 21 wagen will und
verfolgen das Geschehen weiter kritisch. Und ehrlich gesagt: Ich bin nicht
unglücklich, wenn ich nach dem 12. Februar wieder etwas mehr Freizeit habe.
Kathrin Scholl: Nach einer allfälligen
Ablehnung der Initiative geht die Arbeit erst richtig los. Dann beginnt die
konkrete Anpassung des Lehrplans 21 an die Aargauer Schule. Und da sind noch
viele und intensive Diskussionen nötig.
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