5. Dezember 2016

Widerstand als Kompetenz

Wenn Kinder und Jugendliche sich störrisch aufführen, setzen Eltern und Lehrpersonal alles daran, das unangepasste Verhalten zu korrigieren. Neuere Untersuchungen zeigen ­jedoch: Widerstand zu leisten ist auch eine Kompetenz.
Kleine Rebellen, Weltwoche, 30.11. von Allan Guggenbühl 


Die Sonne strahlt, überall Grün, Weizenfelder voller Mohnblumen, Kumuluswolken ziehen über den blauen Himmel. Vater und Mutter brechen mit ihrem fünfjährigen Sohn Diego und ihrer zweijährigen Tochter Rebecca zu ­einem Spaziergang auf. Geplant ist eine kleine Tour einen Bach entlang und dann zum Höhen­weg am Waldrand. Die Stimmung ist gut, als man zusammen mit einer befreundeten Familie vom breiten Weg auf den Pfad zum Waldrand hinauf abbiegt. Die Sonne durchdringt die Baumkronen, während man eifrig Erinnerungen austauscht und politisiert. Plötzlich schreit die Mutter: «Wo ist Diego? Er war doch eben noch hinter mir!» Der Vater rennt zurück zur Abbiegung beim Bach.

Diego muss sich verlaufen haben. Weder beim Bach noch in unmittelbarer Nähe ist er zu finden; kein Diego nirgends. Die Stimmung ist düster, wurde er entführt? Eine Suchaktion wird gestartet. Während die Mutter den Bachweg hinuntereilt, beschliesst der Vater, den Weg den Bach entlang weiterzugehen. Tatsächlich: Nach drei Kurven sieht er seinen Sohn seelenruhig den Weg weiterschreiten, den sie verlassen hatten. Der Knabe reagiert irritiert, als ihn sein Vater zur Rückkehr auffordert. Er hatte für sich beschlossen, dass er nicht den schmalen Waldpfad, sondern den Bachlauf entlanggeht. Die Pläne der Eltern waren ihm egal, und die Aufregung seiner Eltern ist für ihn nicht nachvollziehbar.

Wie jeder Vater, jede Mutter und natürlich auch Lehrpersonen wissen: Kinder befolgen nicht immer brav unsere Anweisungen. Sie setzen eigene Akzente, provozieren, missachten Regeln, irritieren und wagen Unternehmungen, denen wir nie zustimmen würden. Oft machen sie Unerlaubtes: Ein elfjähriger Knabe «lieh» heimlich den Schlüsselbund des Hauswarts (oder Facility-Managers) aus, weil er eine Erkundungstour der Kellerregionen des Schulhauses beabsichtigte. Ein neunjähriges Mädchen weigerte sich dezidiert, weiter die Schule zu besuchen, nachdem die Lehrerin es bei einer Frage an ­eine Schulkollegin verwiesen.

Oft ist es uns peinlich, wenn Kinder oder ­Jugendliche unsere Anweisungen missachten. Eine Mutter schämte sich zu Tode, als sich ihre Tochter partout weigerte, ihrer Chefin die Hand zu geben. Ein Vater war verärgert, als sein Sohn sich mit einem Cousin in einem Estrichabteil einsperrte, um ein drohendes Game-Verbot zu umgehen. Empört ist man, wenn die Tochter einen als «Schlampe» bezeichnet oder der Sohn heimlich Geld aus dem Portemonnaie stibitzt. Droht der Sohn oder die Tochter eine krimi­nelle Karriere einzuschlagen?

Diener des eigenen Nachwuchses

Störrische Kinder bringen auch den Schul­unterricht durcheinander. Sie verhalten sich trotz Klassenregeln unruhig, stehen immer wieder auf, unterbrechen die Lehrperson oder stören den Unterricht durch spezielle Aktionen. Ein Knabe trat, in Badehose gekleidet, nach der Mittagspause vor die Klasse, war mit Schnorchel und Taucherbrille bewaffnet und rief seinen Schulkollegen zu: «Packt eure ­Sachen zusammen, wir gehen alle im nahen Weiher baden!»

Es gibt Erklärungen für störrisches Ver­halten. Vermutet wird Verwöhnung. Das Verhalten wird auf mangelnde erzieherische Anstrengungen zurückgeführt. Die Eltern haben zu oft nachgegeben, keine Grenzen gesetzt. Die Wünsche der Söhne oder Töchter standen im Vordergrund und nicht notwendige Anpassungsleistungen. Die Kinder sind es gewohnt, ihre Ansprüche durchzusetzen, und respektieren das Wort «nein» nicht. Die Eltern wurden zu Dienern des eigenen Nachwuchses.

Eine andere Erklärung sieht im störrischen Verhalten den Ausdruck einer latenten Spannung in der Familie oder Klasse. Das Kind stört, weil es sich nicht wohl fühlt und innerlich mit einem eigenen oder familiären Pro­blem ringt. Ein Mädchen ärgert seine Mutter, weil es in der Schule gemobbt wird oder sich ungerecht behandelt fühlt.

Störrisches Verhalten kann auch eine Reaktion auf Überbetreuung sein. Die Kinder wollen aus dem Käfig ausbrechen, in den sie die Erwachsenen sperren. Jede Minute der Freizeit ist verplant, die Erwachsenen sind permanent präsent, und jeder Zwischenfall löst ein Drama aus. Der kleinste Vorfall auf dem Pausenplatz hat Klassengespräche, die gelbe Karte, einen Brief nach Hause oder einen Eintrag bei der Lehrperson zur Folge. Das störrische Verhalten ist Ausdruck des Wunsches, endlich mal von diesen überbesorgten Eltern und Lehrpersonen in Ruhe gelassen zu werden.

Das störrische Verhalten kollidiert mit der Pflicht der Erwachsenen, Kinder zu erziehen. Als Mutter oder Vater muss man dem Sohn oder der Tochter Anstand und soziale Kompetenzen beibringen. Gäste müssen begrüsst werden, auf Fragen gibt man Antwort, und in der Schule verzichtet man auf unerwünschte Show-Einlagen. Leistungsverweigerungen, Lehrerbeschimpfungen und Schwänzen sind nicht akzeptabel.

Verhalten sich Kinder oder Jugendliche renitent, dann gilt es zu intervenieren.Die häufigste Reaktion ist der Appell. «Sei doch so lieb und hilf deiner Schwester beim Abräumen», flüstert die Mutter und beugt sich zu ihrem Sohn hinab. Sie versucht, an seine Vernunft zu appellieren. Das empathische Gespräch wird als Mittel empfohlen, Störenfriede zu beruhigen. Jedes Kind sei einsichtig, wenn man Geduld habe, auch wenn es dazu ein Sit-in braucht. Viele Kinder geben tatsächlich ihren Widerstand auf. Eine erfolgversprechendere Strategie ist, zu verhandeln. Man macht den kleinen Rebellen ein Angebot. «Wenn du bereit bist, uns beim Einkaufen zu helfen, dann darfst du heute Abend fünf Minuten länger gamen!» Helfen Appelle, Gespräche und faire Angebote nichts, dann setzen Erwachsene Machtmittel ein. Das Kind wird genauer unter die Lupe genommen, eine Untersuchung durchgeführt und eine Dia­gnose gestellt. Oft wird ein Verhalten als «untragbar» bezeichnet. Einzelgespräche, Psychotherapie und Verhaltenstraining können die Folge sein. Es muss lernen, die Lehrperson nicht durch doofe Sprüche zu unterbrechen oder sich dem Befehl, vor die Türe zu gehen, nicht zu widersetzen.

Weg voller Dramen und Überraschungen

Alle diese Interpretationen und Massnahmen sind verständlich und können richtig sein. Das störrische Verhalten kann jedoch noch eine weitere Bedeutung haben: Widerstand zu leisten, ist auch eine Kompetenz. Das Kind oder der Jugendliche demonstriert die Fähigkeit, einen eigenen Weg zu beschreiten und sich von den Ansprüchen der Umgebung zu distanzieren. Es denkt selbständig und passt sich nicht nur an. Störrische Kinder erreichen darum gemäss Untersuchungen später höhere ­Berufspositionen und verdienen mehr als angepasste Kinder. Sie werden von ihren eigenen Ideen angetrieben.

Wenn Kinder oder Jugendliche sich störrisch verhalten, sind für Eltern und Lehrper­sonen Auseinandersetzungen angesagt. Kinder sind irritiert, wenn Erwachsene nicht reagieren, kuschen und sich damit aus der Verantwortung stehlen. Das rebellische Verhalten erfüllt eine Doppelfunktion: Das Kind will seinen Autonomiegrad ausloten. Es wagt ein Experiment, indem es versucht, eine Idee oder ein Gefühl umzusetzen. Gleichzeitig erwarten jedoch die meisten Kinder, dass die Erwachsenen irgendwie darauf reagieren. An den Reaktionen der Erwachsenen lesen sie ab, wie weit sie ihre Umgebung beeinflussen und Handlungen selber steuern können. Die Erwachsenen haben die Aufgabe, einen Gegenpol zu bilden, damit das Kind die Bedeutung der eigenen Aktionen besser abschätzen kann.

Bei vielen Kindern ist das Aufwachsen nicht ein geradliniger Prozess, sondern ein Weg voller Dramen und Überraschungen. Ruhige Phasen werden durch stürmische Zeiten abgelöst. Zeiten des Abtauchens wie auch der Rebellion sind normal und nicht zwingend ein Zeichen, dass das Kind später eine schwierige Persönlichkeit haben wird. Vielfach brauchen Kinder solche Erfahrungen, um sich innerlich zu ordnen und sich selbst zu begreifen. Es ist Auf­gabe der Erwachsenen, mitzuspielen und die Gegenspieler zu markieren, ohne gleich die Beziehung abzubrechen oder die Wertschätzung zu entziehen. Schliesslich werden Kinder nicht durch uns geformt, sondern präsentieren sich früh als Persönlichkeiten, die sich ihren eigenen Weg suchen.


Allan Guggenbühl ist Psychologe und Autor zahlreicher Bücher zum Thema ­Jugendgewalt und ­Konfliktmanagement.


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