Wenn
Kinder und Jugendliche sich störrisch aufführen, setzen Eltern
und Lehrpersonal alles
daran, das unangepasste Verhalten zu korrigieren. Neuere Untersuchungen zeigen jedoch:
Widerstand zu leisten ist auch eine Kompetenz.
Kleine Rebellen, Weltwoche, 30.11. von Allan Guggenbühl
Die
Sonne strahlt, überall Grün, Weizenfelder voller Mohnblumen, Kumuluswolken
ziehen über den blauen Himmel. Vater und Mutter brechen mit ihrem fünfjährigen
Sohn Diego und ihrer zweijährigen Tochter Rebecca zu einem Spaziergang auf.
Geplant ist eine kleine Tour einen Bach entlang und dann zum Höhenweg am
Waldrand. Die Stimmung ist gut, als man zusammen mit einer befreundeten Familie
vom breiten Weg auf den Pfad zum Waldrand hinauf abbiegt. Die Sonne durchdringt
die Baumkronen, während man eifrig Erinnerungen austauscht und politisiert.
Plötzlich schreit die Mutter: «Wo ist Diego? Er war doch eben noch hinter mir!»
Der Vater rennt zurück zur Abbiegung beim Bach.
Diego muss sich verlaufen haben. Weder beim Bach
noch in unmittelbarer Nähe ist er zu finden; kein Diego nirgends. Die Stimmung
ist düster, wurde er entführt? Eine Suchaktion wird gestartet. Während die
Mutter den Bachweg hinuntereilt, beschliesst der Vater, den Weg den Bach
entlang weiterzugehen. Tatsächlich: Nach drei Kurven sieht er seinen Sohn
seelenruhig den Weg weiterschreiten, den sie verlassen hatten. Der Knabe
reagiert irritiert, als ihn sein Vater zur Rückkehr auffordert. Er hatte für
sich beschlossen, dass er nicht den schmalen Waldpfad, sondern den Bachlauf
entlanggeht. Die Pläne der Eltern waren ihm egal, und die Aufregung seiner
Eltern ist für ihn nicht nachvollziehbar.
Wie
jeder Vater, jede Mutter und natürlich auch Lehrpersonen wissen: Kinder
befolgen nicht immer brav unsere Anweisungen. Sie setzen eigene Akzente,
provozieren, missachten Regeln, irritieren und wagen Unternehmungen, denen wir
nie zustimmen würden. Oft machen sie Unerlaubtes: Ein elfjähriger Knabe «lieh»
heimlich den Schlüsselbund des Hauswarts (oder Facility-Managers) aus, weil er
eine Erkundungstour der Kellerregionen des Schulhauses beabsichtigte. Ein
neunjähriges Mädchen weigerte sich dezidiert, weiter die Schule zu besuchen,
nachdem die Lehrerin es bei einer Frage an eine Schulkollegin verwiesen.
Oft
ist es uns peinlich, wenn Kinder oder Jugendliche unsere Anweisungen
missachten. Eine Mutter schämte sich zu Tode, als sich ihre Tochter partout
weigerte, ihrer Chefin die Hand zu geben. Ein Vater war verärgert, als sein
Sohn sich mit einem Cousin in einem Estrichabteil einsperrte, um ein drohendes
Game-Verbot zu umgehen. Empört ist man, wenn die Tochter einen als «Schlampe»
bezeichnet oder der Sohn heimlich Geld aus dem Portemonnaie stibitzt. Droht der
Sohn oder die Tochter eine kriminelle Karriere einzuschlagen?
Diener des eigenen Nachwuchses
Störrische
Kinder bringen auch den Schulunterricht durcheinander. Sie verhalten sich
trotz Klassenregeln unruhig, stehen immer wieder auf, unterbrechen die
Lehrperson oder stören den Unterricht durch spezielle Aktionen. Ein Knabe trat,
in Badehose gekleidet, nach der Mittagspause vor die Klasse, war mit Schnorchel
und Taucherbrille bewaffnet und rief seinen Schulkollegen zu: «Packt eure Sachen
zusammen, wir gehen alle im nahen Weiher baden!»
Es
gibt Erklärungen für störrisches Verhalten. Vermutet wird Verwöhnung. Das
Verhalten wird auf mangelnde erzieherische Anstrengungen zurückgeführt. Die
Eltern haben zu oft nachgegeben, keine Grenzen gesetzt. Die Wünsche der Söhne
oder Töchter standen im Vordergrund und nicht notwendige Anpassungsleistungen.
Die Kinder sind es gewohnt, ihre Ansprüche durchzusetzen, und respektieren das
Wort «nein» nicht. Die Eltern wurden zu Dienern des eigenen Nachwuchses.
Eine
andere Erklärung sieht im störrischen Verhalten den Ausdruck einer latenten
Spannung in der Familie oder Klasse. Das Kind stört, weil es sich nicht wohl
fühlt und innerlich mit einem eigenen oder familiären Problem ringt. Ein
Mädchen ärgert seine Mutter, weil es in der Schule gemobbt wird oder sich
ungerecht behandelt fühlt.
Störrisches
Verhalten kann auch eine Reaktion auf Überbetreuung sein. Die Kinder wollen aus
dem Käfig ausbrechen, in den sie die Erwachsenen sperren. Jede Minute der
Freizeit ist verplant, die Erwachsenen sind permanent präsent, und jeder
Zwischenfall löst ein Drama aus. Der kleinste Vorfall auf dem Pausenplatz hat
Klassengespräche, die gelbe Karte, einen Brief nach Hause oder einen Eintrag
bei der Lehrperson zur Folge. Das störrische Verhalten ist Ausdruck des
Wunsches, endlich mal von diesen überbesorgten Eltern und Lehrpersonen in Ruhe
gelassen zu werden.
Das
störrische Verhalten kollidiert mit der Pflicht der Erwachsenen, Kinder zu
erziehen. Als Mutter oder Vater muss man dem Sohn oder der Tochter Anstand und
soziale Kompetenzen beibringen. Gäste müssen begrüsst werden, auf Fragen gibt
man Antwort, und in der Schule verzichtet man auf unerwünschte Show-Einlagen.
Leistungsverweigerungen, Lehrerbeschimpfungen und Schwänzen sind nicht
akzeptabel.
Verhalten
sich Kinder oder Jugendliche renitent, dann gilt es zu intervenieren.Die
häufigste Reaktion ist der Appell. «Sei doch so lieb und hilf deiner Schwester
beim Abräumen», flüstert die Mutter und beugt sich zu ihrem Sohn hinab. Sie
versucht, an seine Vernunft zu appellieren. Das empathische Gespräch wird als
Mittel empfohlen, Störenfriede zu beruhigen. Jedes Kind sei einsichtig, wenn
man Geduld habe, auch wenn es dazu ein Sit-in braucht. Viele Kinder geben
tatsächlich ihren Widerstand auf. Eine erfolgversprechendere Strategie ist, zu
verhandeln. Man macht den kleinen Rebellen ein Angebot. «Wenn du bereit bist,
uns beim Einkaufen zu helfen, dann darfst du heute Abend fünf Minuten länger
gamen!» Helfen Appelle, Gespräche und faire Angebote nichts, dann setzen
Erwachsene Machtmittel ein. Das Kind wird genauer unter die Lupe genommen, eine
Untersuchung durchgeführt und eine Diagnose gestellt. Oft wird ein Verhalten
als «untragbar» bezeichnet. Einzelgespräche, Psychotherapie und
Verhaltenstraining können die Folge sein. Es muss lernen, die Lehrperson nicht
durch doofe Sprüche zu unterbrechen oder sich dem Befehl, vor die Türe zu
gehen, nicht zu widersetzen.
Weg voller Dramen und Überraschungen
Alle
diese Interpretationen und Massnahmen sind verständlich und können richtig
sein. Das störrische Verhalten kann jedoch noch eine weitere Bedeutung haben:
Widerstand zu leisten, ist auch eine Kompetenz. Das Kind oder der Jugendliche
demonstriert die Fähigkeit, einen eigenen Weg zu beschreiten und sich von den
Ansprüchen der Umgebung zu distanzieren. Es denkt selbständig und passt sich
nicht nur an. Störrische Kinder erreichen darum gemäss Untersuchungen später
höhere Berufspositionen und verdienen mehr als angepasste Kinder. Sie werden
von ihren eigenen Ideen angetrieben.
Wenn
Kinder oder Jugendliche sich störrisch verhalten, sind für Eltern und Lehrpersonen
Auseinandersetzungen angesagt. Kinder sind irritiert, wenn Erwachsene nicht
reagieren, kuschen und sich damit aus der Verantwortung stehlen. Das
rebellische Verhalten erfüllt eine Doppelfunktion: Das Kind will seinen
Autonomiegrad ausloten. Es wagt ein Experiment, indem es versucht, eine Idee
oder ein Gefühl umzusetzen. Gleichzeitig erwarten jedoch die meisten Kinder,
dass die Erwachsenen irgendwie darauf reagieren. An den Reaktionen der
Erwachsenen lesen sie ab, wie weit sie ihre Umgebung beeinflussen und
Handlungen selber steuern können. Die Erwachsenen haben die Aufgabe, einen
Gegenpol zu bilden, damit das Kind die Bedeutung der eigenen Aktionen besser
abschätzen kann.
Bei
vielen Kindern ist das Aufwachsen nicht ein geradliniger Prozess, sondern ein
Weg voller Dramen und Überraschungen. Ruhige Phasen werden durch stürmische Zeiten
abgelöst. Zeiten des Abtauchens wie auch der Rebellion sind normal und nicht
zwingend ein Zeichen, dass das Kind später eine schwierige Persönlichkeit haben
wird. Vielfach brauchen Kinder solche Erfahrungen, um sich innerlich zu ordnen
und sich selbst zu begreifen. Es ist Aufgabe der Erwachsenen, mitzuspielen und
die Gegenspieler zu markieren, ohne gleich die Beziehung abzubrechen oder die
Wertschätzung zu entziehen. Schliesslich werden Kinder nicht durch uns geformt,
sondern präsentieren sich früh als Persönlichkeiten, die sich ihren eigenen Weg
suchen.
Allan Guggenbühl ist Psychologe und Autor
zahlreicher Bücher zum
Thema Jugendgewalt
und Konfliktmanagement.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen