Bildungsforscher
Stefan Wolter wünscht sich Schulen, in denen nachgefragt wird, ob die
Schülerinnen und Schüler lesen können – und Massnahmen ergriffen werden, wenn
die Antwort darauf Nein ist.
"Es passiert zu oft nichts oder zu wenig", Sonntagszeitung, 11.12. von Nadja Pastega
Der Pisa-Test unterscheidet im Fach Lesen
sechs Kompetenzstufen. Viele Schulabgänger in der Schweiz scheitern bereits bei
Stufe 2. Was bedeutet das?
Bei
diesen Schülern handelt es sich um funktionale Analphabeten. Sie können zwar
die Buchstaben entziffern und ein Wort nach dem andern lesen, aber sie können
keinen Sinn daraus ziehen. Sie verstehen nicht, was in dem Satz steht, den sie
gelesen haben.
Gemäss der neuen Pisa-Erhebung trifft das auf
20 Prozent der 15-Jährigen in der Schweiz zu.
Wir
haben das Problem, dass die Stichprobe für die Schweiz einen zu hohen
Prozentsatz an fremdsprachigen Schülern enthielt. Bei Pisa 2012 lag der Anteil
der funktionalen Analphabeten noch bei 14 Prozent.
Ob es nun 20 Prozent oder 14 Prozent sind,
ist doch zweitrangig. Fakt ist: Es gibt in der Schweiz erschreckend viele
Jugendliche, die kaum lesen und schreiben können – und das nach neun
Schuljahren.
Richtig.
Auch 14 Prozent sind nicht akzeptabel. Diese Jugendlichen haben später im Leben
oft grosse Schwierigkeiten. Eine Studie hat gezeigt, dass bei den Pisa-Kids mit
einer Lesekompetenz unter 2 die Wahrscheinlichkeit massiv höher ist, dass sie
keinen nachobligatorischen Abschluss schaffen.
Das heisst?
Sie
schliessen keine Berufslehre ab.
Auf welchem schulischen Stand sind diese
Jugendlichen am Ende der Schulzeit?
Wenn
man bei Pisa im Lesen die Kompetenzstufe 2 nicht erreicht, beherrscht man nicht
einmal den Stoff der vierten Klasse. Denn von einem Schüler in der vierten
Klasse wird erwartet, dass er einen einfachen Text so lesen kann, dass er
versteht, was er gelesen hat.
Das bedeutet, dass diese Schüler jahrelang in
der Schule sitzen und nichts lernen?
Ja. Sie
hängen komplett ab und werden nur noch mitgeschleppt. Wenn sie nicht lesen
können, sind sie auch nicht in der Lage, dem Stoff in anderen Fächern zu
folgen.
Das müssen die Lehrer doch merken.
Es ist
in der Tat schwer vorstellbar, dass es niemand merkt und man solche Schüler
einfach in die hinterste Reihe setzt und ihnen sagt «Störe nicht, dann lasse
ich dich in Ruhe». Das ist ein Zeichen, dass unser System versagt.
Die Schweiz gibt von allen OECD-Ländern am
zweitmeisten für einen Volksschüler aus. Wie kann dieses System dermassen
versagen?
Es gibt
nicht genügend übergreifende und durchgreifende Verantwortlichkeiten.
Konkret?
Es
kommt niemand in die Schule und sagt, ich will wissen, ob hier jemand nicht
lesen und schreiben kann, und falls ja, müssen wir Massnahme ergreifen. Wenn
sich die Eltern nicht einschalten und Hilfe anfordern, passiert anscheinend zu
oft nichts oder zu wenig.
Wie ist es überhaupt möglich, dass Schüler,
die kaum lesen und schreiben können, den Schulabschluss schaffen?
Es gibt
in der Schweiz keinen obligatorischen Schulabschluss. Es hat nicht wirklich Konsequenzen,
wenn der Lehrer einem Schüler jede Woche eine Prüfung mit der Note 1
zurückgibt. Man muss Schuljahre repetieren, aber nach neun Jahren Schulbesuch
ist Schluss, unabhängig davon, ob man etwas gelernt hat oder nicht.
Seit diesem Jahr wird in allen Kantonen
getestet, ob die Schüler in den einzelnen Fächern die Grundkompetenzen
beherrschen. Schafft das die nötige Transparenz?
Eine
Transparenz zwischen den Kantonen, aber keine bezüglich der individuellen
Fälle. Getestet wird mit einer Stichprobe. Wenn wir wirklich etwas ändern
wollen, müsste man für alle Schüler eine solche externe Standortbestimmung machen
und dann bei jenen Schülern, welche die minimalen Lernziele nicht erreicht
haben, Massnahmen ergreifen. Anschliessend muss man überprüfen, ob sie greifen.
Wer gehört in der Schweiz zur Gruppe der
funktionalen Analphabeten?
Es sind
oft fremdsprachige Schüler oder solche, die nicht die ganze Schulzeit in der
Schweiz absolviert haben. Aber nicht nur. Daneben gibt es auch Schweizer, meist
haben deren Eltern bereits einen tiefen Bildungsstand.
Wie viele funktionale Analphabeten darf es in
einem Bildungssystem, wie es sich die Schweiz leistet, grundsätzlich geben?
Es gibt
schwere Fälle von Lernbehinderung, da kann man nicht alles erreichen. Aber wenn
man von diesen absieht, dann sind die Grundkompetenzen bei der Pisa-Erhebung so
tief angelegt, dass die Antwort lauten muss: null. Übrigens zeigen frühere
Studien, dass es hier Unterschiede zwischen den Kantonen gab und einzelne
Kantone diesem Ziel schon ziemlich nahe sind.
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