20. November 2016

Verwöhnte Kinder

Marko, 7, ist laut Bundesgericht zu verwöhnt für die normale Schule. Seine Eltern sagen, sie meinten es nur gut mit ihm. Er ist ein Extrem-, aber kein Einzelfall.
Vorsichtig streckt Marko dem Schulpsychologen zur Begrüssung die Hand entgegen. Dann setzt er sich an den Tisch. Er soll etwas abzeichnen. Das geht zunächst ganz gut. Als die Malaufgabe schwieriger wird, verliert der Bub die Lust, wird trotzig und weinerlich, will lieber nach Hause, spielen oder schlafen. Marko, notiert der Schulpsychologe in seinem Bericht, falle es schwer, «die Leistungssituation über eine längere Zeit auszuhalten».
Problem Kind, Sonntagszeitung, 20.11. von Nadja Pastega


Ähnliches stellten auch andere Gutachten fest. Der heute siebenjährige Bub aus dem Kanton St. Gallen habe Mühe mit dem «Bedürfnisaufschub», mit «Regelbefolgung» und «Arbeitseinstellung». Er habe grosse «Entwicklungsrückstände» und sei auch motorisch zurückgeblieben. Die Bleistiftführung sei unsicher, der Strich zittrig, das Treppensteigen ohne Abstützen falle ihm schwer. Marko, heisst es im Bericht des Schulpsychologen, sei ein Kind, «dem alle Hindernisse aus dem Weg geräumt werden» und «das von vielen wichtigen Erfahrungen ferngehalten werde», vom Umgang mit anderen Kindern, von Spiel und alltäglichen Situationen. Er sei, so das Fazit, «verwöhnt» und «überbehütet» – und daher vom normalen Schulbetrieb überfordert.

Seit diesem Jahr muss Marko in die Sonderschule. Dagegen hat sich der Vater mit einer Beschwerde durch alle Instanzen gewehrt, bis vor Bundesgericht. Sein Sohn, sagt er, habe «eine ganz normale Kindheit», gehe oft nach draussen spielen, fahre mit dem Rad und den Rollschuhen, besuche einen Karatekurs und spiele Fussball. Es stimme nicht, dass er den Bleistift nicht halten oder keine Treppen steigen könne. «Wir haben Angst», sagt der Vater, «dass die Sonderschule Markos Entwicklung schadet.»

Das sahen die höchsten Richter anders: Aus «Sicht des Kindswohls», schreibt des Bundesgericht in seinem kürzlich publizierten Urteil, dränge sich der Besuch der Sonderschule auf. Den Alltag in einer Regelklasse könne das verwöhnte Kind nicht bewältigen.

Auf die Helikoptereltern folgen die Drohneneltern
Wie Markos Eltern geht es vielen Müttern und Vätern. Kaum etwas treibt sie so um wie die Frage, ob sie ihren Nachwuchs verwöhnen. Und niemand weiss, wann Fürsorge und Zuneigung zu Verhätschelung werden.

Das Paradox: Heute geben sich Eltern so viel Mühe mit der Erziehung ihrer Sprösslinge wie nie zuvor. Trotzdem sind die Praxen von Kinderpsychologen voll mit verhaltensauffälligen Kindern. Verwöhnte Kinder, warnt der bekannte Familientherapeut Jesper Jull, werden ebenso krank wie vernachlässigte Kids.

Den Nachwuchs verzärteln, das will eigentlich niemand. Doch es geschieht schnell – und immer öfter. «Das Verwöhnen hat eindeutig zugenommen», sagt Jürg Frick, Professor an der Pädagogischen Hochschule Zürich. «Früher hatte man vielleicht zehn Kinder, jetzt nur noch eines oder zwei. Auf diese wenigen Kinder projizieren die Eltern alle ihre Erwartungen.» Dann ist nur noch das Beste gut genug.

Frick hört in seiner Beratungsstunde von Müttern, die ihrem Spross für die Zwischenmahlzeit im Kindergarten drei verschiedene Verpflegungspakete mitgeben, weil sich der Kleine zu Hause nicht entscheiden kann. Er hört von Eltern, die sich bei jedem Konflikt auf die Seite ihres Kindes schlagen. Andere erledigen für ihre Kids die Hausaufgaben. Und es gibt Eltern, die ihren Nachwuchs jeden Tag mit dem Auto in den Hort chauffieren, oder die Kinder auch dann noch zu Fuss begleiten, wenn es gar nicht mehr nötig wäre. Einzelne Schulen haben begonnen, sogenannte Kiss-&-Go-Zonen einzurichten, damit Mama und Papa ihre Sprösslinge nicht bis ins Klassenzimmer eskortieren.
 Verwöhnen kann man auf verschiedene Weise. Nicht nur mit Geschenken, Geld und Spielsachen. Eine Form von Verwöhnen ist auch, wenn man das Kind mit Zärtlichkeit überhäuft, ängstlich jeden seiner Schritte überwacht und ihm alle Unannehmlichkeiten erspart.

Auf die Helikoptereltern, die ständig um ihr Kind herumschweben, folgen bereits die Drohneneltern, die mit Ortungsgeräten und Aufpass-Apps kontrollieren, wo sich ihr Sohn, ihre Tochter gerade befindet. Ortungs-Apps wie «Find my Kids» oder «Family Locater – Phone Tracker» ermöglichen die digitale Dauerbehütung.

Für die Entwicklung der Kinder, sagt Experte Frick, sei das Verhätscheln eine Katastrophe: «Wer auf Schritt und Tritt behütet und bewacht wird, kann nicht lernen, selbstständig zu sein. Diese Kinder werden völlig verunsichert.»

Frick hat ein Buch geschrieben, es heisst: «Die Droge Verwöhnung». Darin schildert er, was der Kult ums Kind bewirkt. Verwöhnte Kids, sagt Frick, «haben Probleme, sich zu konzentrieren, eine hohe Anspruchshaltung, eine tiefe Frusttoleranz und wenig Ausdauer». Extremes Verwöhnen sei «eine Form von Kindsmisshandlung». Denn verwöhnte Kinder kämen zu kurz. «Sie haben Defizite, die sie im Leben oft nur schwer korrigieren können.» Diese Kinder, sagt Frick, «sind nicht fit fürs Leben».

Zu Hause ein Engel, in der Schule ein Bengel
In die Verwöhnungsfalle tappten viele Eltern, weiss der Kinderpsychologe Allan Guggenbühl. «Statt auch Forderungen zu stellen, werden sie zu Dienstleistern. Sie glauben, ihren Kindern nach der Schule ein Förder- und Unterhaltungsprogramm bieten zu müssen, damit sie sich nie langweilen.» Dauerbesorgte Eltern würden die Selbstständigkeit ihrer Abkömmlinge blockieren. «Erwachsene mischen sich oft zu sehr in die Welt der Kinder ein», sagt Guggenbühl. «Viele Kompetenzen entwickeln Kinder jedoch erst, wenn sie einen Freiraum haben.»

Das bekommen die Schulen zu spüren. Da gibt es Kindergärtler, die der Erzieherin wortlos den Fuss hinstrecken, worauf diese am Boden kniend dem Kleinen die Schuhbändel binden muss. «Das macht die Mama zu Hause auch», bekommt sie dann zu hören. Da gibt es Kinder, die zu Hause als Engel angehimmelt werden und sich im Klassenzimmer als Bengel aufführen. Die nicht einsehen, dass sie aufstrecken müssen, bevor sie etwas sagen dürfen. «Wenn der Lehrer sie dann nicht drannimmt, stehen sie auf und gehen nach Hause», erzählt Pädagoge Frick. Später, im Berufsleben, haben diese Menschen Mühe, wenn der Chef nicht spurt. Und mit ihrer Egozentrik vergraulen sie die Kollegen.


Die Eltern von Marko beschäftigt, was alle Mütter und Väter umtreibt: Sie wollen für ihr Kind das Beste. Und sie sind überzeugt, zu wissen, was das ist: eine Kleinklasse mit individueller Förderung an einer normalen Schule. «Marko geht nicht gern in die Sonderschule», sagt sein Vater. Damit sein Sohn dort nicht bleiben muss, hat er einen Anwalt eingeschaltet. Der Jurist kündigt nach der Niederlage vor Bundesgericht an: «Wir werden vor dem Gerichtshof für Menschenrechte in Strassburg klagen.» 

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