Marko,
7, ist laut Bundesgericht zu verwöhnt für die normale Schule. Seine Eltern
sagen, sie meinten es nur gut mit ihm. Er ist ein Extrem-, aber kein Einzelfall.
Vorsichtig
streckt Marko dem Schulpsychologen zur Begrüssung die Hand entgegen. Dann setzt
er sich an den Tisch. Er soll etwas abzeichnen. Das geht zunächst ganz gut. Als
die Malaufgabe schwieriger wird, verliert der Bub die Lust, wird trotzig und
weinerlich, will lieber nach Hause, spielen oder schlafen. Marko, notiert der
Schulpsychologe in seinem Bericht, falle es schwer, «die Leistungssituation
über eine längere Zeit auszuhalten».
Problem Kind, Sonntagszeitung, 20.11. von Nadja Pastega
Ähnliches
stellten auch andere Gutachten fest. Der heute siebenjährige Bub aus dem Kanton
St. Gallen habe Mühe mit dem «Bedürfnisaufschub», mit «Regelbefolgung» und
«Arbeitseinstellung». Er habe grosse «Entwicklungsrückstände» und sei auch
motorisch zurückgeblieben. Die Bleistiftführung sei unsicher, der Strich
zittrig, das Treppensteigen ohne Abstützen falle ihm schwer. Marko, heisst es
im Bericht des Schulpsychologen, sei ein Kind, «dem alle Hindernisse aus dem
Weg geräumt werden» und «das von vielen wichtigen Erfahrungen ferngehalten
werde», vom Umgang mit anderen Kindern, von Spiel und alltäglichen Situationen.
Er sei, so das Fazit, «verwöhnt» und «überbehütet» – und daher vom normalen
Schulbetrieb überfordert.
Seit
diesem Jahr muss Marko in die Sonderschule. Dagegen hat sich der Vater mit
einer Beschwerde durch alle Instanzen gewehrt, bis vor Bundesgericht. Sein
Sohn, sagt er, habe «eine ganz normale Kindheit», gehe oft nach draussen
spielen, fahre mit dem Rad und den Rollschuhen, besuche einen Karatekurs und
spiele Fussball. Es stimme nicht, dass er den Bleistift nicht halten oder keine
Treppen steigen könne. «Wir haben Angst», sagt der Vater, «dass die
Sonderschule Markos Entwicklung schadet.»
Das
sahen die höchsten Richter anders: Aus «Sicht des Kindswohls», schreibt des
Bundesgericht in seinem kürzlich publizierten Urteil, dränge sich der Besuch
der Sonderschule auf. Den Alltag in einer Regelklasse könne das verwöhnte Kind
nicht bewältigen.
Auf die Helikoptereltern folgen die
Drohneneltern
Wie
Markos Eltern geht es vielen Müttern und Vätern. Kaum etwas treibt sie so um wie
die Frage, ob sie ihren Nachwuchs verwöhnen. Und niemand weiss, wann Fürsorge
und Zuneigung zu Verhätschelung werden.
Das
Paradox: Heute geben sich Eltern so viel Mühe mit der Erziehung ihrer
Sprösslinge wie nie zuvor. Trotzdem sind die Praxen von Kinderpsychologen voll
mit verhaltensauffälligen Kindern. Verwöhnte Kinder, warnt der bekannte
Familientherapeut Jesper Jull, werden ebenso krank wie vernachlässigte Kids.
Den
Nachwuchs verzärteln, das will eigentlich niemand. Doch es geschieht schnell –
und immer öfter. «Das Verwöhnen hat eindeutig zugenommen», sagt Jürg Frick,
Professor an der Pädagogischen Hochschule Zürich. «Früher hatte man vielleicht
zehn Kinder, jetzt nur noch eines oder zwei. Auf diese wenigen Kinder
projizieren die Eltern alle ihre Erwartungen.» Dann ist nur noch das Beste gut
genug.
Frick
hört in seiner Beratungsstunde von Müttern, die ihrem Spross für die
Zwischenmahlzeit im Kindergarten drei verschiedene Verpflegungspakete mitgeben,
weil sich der Kleine zu Hause nicht entscheiden kann. Er hört von Eltern, die
sich bei jedem Konflikt auf die Seite ihres Kindes schlagen. Andere erledigen
für ihre Kids die Hausaufgaben. Und es gibt Eltern, die ihren Nachwuchs jeden
Tag mit dem Auto in den Hort chauffieren, oder die Kinder auch dann noch zu
Fuss begleiten, wenn es gar nicht mehr nötig wäre. Einzelne Schulen haben
begonnen, sogenannte Kiss-&-Go-Zonen einzurichten, damit Mama und Papa ihre
Sprösslinge nicht bis ins Klassenzimmer eskortieren.
Verwöhnen kann man auf verschiedene Weise.
Nicht nur mit Geschenken, Geld und Spielsachen. Eine Form von Verwöhnen ist
auch, wenn man das Kind mit Zärtlichkeit überhäuft, ängstlich jeden seiner Schritte
überwacht und ihm alle Unannehmlichkeiten erspart.
Auf die
Helikoptereltern, die ständig um ihr Kind herumschweben, folgen bereits die
Drohneneltern, die mit Ortungsgeräten und Aufpass-Apps kontrollieren, wo sich
ihr Sohn, ihre Tochter gerade befindet. Ortungs-Apps wie «Find my Kids» oder
«Family Locater – Phone Tracker» ermöglichen die digitale Dauerbehütung.
Für die
Entwicklung der Kinder, sagt Experte Frick, sei das Verhätscheln eine
Katastrophe: «Wer auf Schritt und Tritt behütet und bewacht wird, kann nicht
lernen, selbstständig zu sein. Diese Kinder werden völlig verunsichert.»
Frick
hat ein Buch geschrieben, es heisst: «Die Droge Verwöhnung». Darin schildert
er, was der Kult ums Kind bewirkt. Verwöhnte Kids, sagt Frick, «haben Probleme,
sich zu konzentrieren, eine hohe Anspruchshaltung, eine tiefe Frusttoleranz und
wenig Ausdauer». Extremes Verwöhnen sei «eine Form von Kindsmisshandlung». Denn
verwöhnte Kinder kämen zu kurz. «Sie haben Defizite, die sie im Leben oft nur
schwer korrigieren können.» Diese Kinder, sagt Frick, «sind nicht fit fürs
Leben».
Zu Hause ein Engel, in der Schule ein Bengel
In die
Verwöhnungsfalle tappten viele Eltern, weiss der Kinderpsychologe Allan
Guggenbühl. «Statt auch Forderungen zu stellen, werden sie zu Dienstleistern.
Sie glauben, ihren Kindern nach der Schule ein Förder- und
Unterhaltungsprogramm bieten zu müssen, damit sie sich nie langweilen.»
Dauerbesorgte Eltern würden die Selbstständigkeit ihrer Abkömmlinge blockieren.
«Erwachsene mischen sich oft zu sehr in die Welt der Kinder ein», sagt
Guggenbühl. «Viele Kompetenzen entwickeln Kinder jedoch erst, wenn sie einen
Freiraum haben.»
Das
bekommen die Schulen zu spüren. Da gibt es Kindergärtler, die der Erzieherin
wortlos den Fuss hinstrecken, worauf diese am Boden kniend dem Kleinen die
Schuhbändel binden muss. «Das macht die Mama zu Hause auch», bekommt sie dann
zu hören. Da gibt es Kinder, die zu Hause als Engel angehimmelt werden und sich
im Klassenzimmer als Bengel aufführen. Die nicht einsehen, dass sie aufstrecken
müssen, bevor sie etwas sagen dürfen. «Wenn der Lehrer sie dann nicht
drannimmt, stehen sie auf und gehen nach Hause», erzählt Pädagoge Frick.
Später, im Berufsleben, haben diese Menschen Mühe, wenn der Chef nicht spurt.
Und mit ihrer Egozentrik vergraulen sie die Kollegen.
Die
Eltern von Marko beschäftigt, was alle Mütter und Väter umtreibt: Sie wollen
für ihr Kind das Beste. Und sie sind überzeugt, zu wissen, was das ist: eine
Kleinklasse mit individueller Förderung an einer normalen Schule. «Marko geht
nicht gern in die Sonderschule», sagt sein Vater. Damit sein Sohn dort nicht
bleiben muss, hat er einen Anwalt eingeschaltet. Der Jurist kündigt nach der
Niederlage vor Bundesgericht an: «Wir werden vor dem Gerichtshof für
Menschenrechte in Strassburg klagen.»
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