Vor 42 Jahren
verbrachten wir einen längeren Aufenthalt in Princeton NJ, USA. Als wir unsere
zwei Buben in der öffentlichen Schule anmeldeten, wurden wir belehrt, dass
unsere Kinder das Glück hätten, in den Genuss der modernsten pädagogischen
Erkenntnisse zu kommen. Sie würden nach neuesten Methoden unterrichtet,
inklusive Früh-Französisch. Dies erlaube den Kindern das Erlernen einer akzentfreien Fremdsprache. Der
Schulbetrieb für den jüngeren Sohn (zweite Klasse) sei lose strukturiert. Im
offenen Klassenzimmer lerne jeder Schüler in dem ihm angemessenen
Entwicklungstempo. Dies werde ihm auch erlauben, ohne grosse Schwierigkeiten
dem Unterricht zu folgen. Der ältere werde in der höheren Stufe (vierte Klasse)
von einer Lehrerin betreut, die eine mehr strukturierte Unterrichtsweise
bevorzuge.
Erinnerungen an eine Schule der Zukunft, 20.2. 2012 von Effi Huber-Buser
Unsere Reaktion war,
warten wir einmal ab, was da passiert. Das Früh-Französisch machte uns etwas
Sorgen, da beide Kinder sich schon auf den Unterricht in Englisch umstellen
mussten und von Französisch wirklich keine Ahnung hatten. Die Klasse des
Älteren hatte bereits ein Jahr hinter sich. Wir fragten denn auch die Söhne
immer wieder, wie das gehe mit dem Französischen. „Ja ganz gut“ war die für uns
etwas unglaubwürdige Antwort des Älteren, -- die andern könnten allerdings schon
auf zwanzig zählen, er erst auf zehn.
Nach etwa einem Monat
war ein Elternabend mit Besprechungsmöglichkeiten mit den Lehrern angesagt.
Natürlich wollten wir unbedingt die Französisch-Lehrerin sprechen. Ja, es gehe
alles wunderbar. Ach, die beiden hätten nie Französisch gehabt? Sie sprächen
aber besser als die andern Schüler. Wir waren platt. Wo blieb da der Erfolg
dieses Unterrichts? Die Antwort kam prompt am Ende der ersten Hälfte des
Schuljahres. Die Schulleitung beschloss, angesichts des mangelnden Erfolges,
das Programm Früh-Französisch nach eineinhalb Jahren ersatzlos zu streichen. Das
Preis/Nutzen Verhältnis stimme nicht.
Beim ältern Sohn ging
es flott vorwärts. Seine Klassenlehrerin war streng, aber hervorragend. Sie
baute mit anspruchsvollen Kreuzworträtseln sein Vokabular auf. Wir glaubten
zuerst, das sei speziell für ihn zugeschnitten und zum Aufholen seines
Rückstands im Englisch gedacht. Aber bald klingelte abends unser Telephon und
es kamen Anrufe seiner amerikanischen Mitschüler im Stil „kennst Du das Wort
Zeile zwei, Kolonne fünf senkrecht?“. Daran merkten wir, dass er anscheinend
seine Aufgaben ernst nahm und gut in der Schule mithielt. Von der Seite war
also kein Problem zu erwarten.
Beim jüngern sah es
etwas anders aus. Er hatte einen sehr lieben US-Japaner als Lehrer, der mit
seinen 20 Schülern im offenen Klassenzimmer einfach überfordert war. Bei einem
Schulbesuch stolperten wir schon im Treppenhaus über zwei Schüler, die für die
Lösung ihrer Rechenaufgaben das Weite gesucht hatten und die Treppenstufen als
Tischersatz zum Schreiben benützten. Wo das Klassenzimmer sich befand war
deutlich hörbar. Der Kommentar des Lehrers zur Situation unseres Kindes war, er
sei etwas schüchtern und könne sich nicht gut gegen die vorlauten andern
durchsetzen, so hätte er eben etwas wenig Möglichkeiten sein Können zu zeigen.
Dies sollte sich noch stärker auswirken im Laufe des Schuljahres.
Eines Nachmittags
erhielt ich vor Schulschluss einen Telephonanruf vom Lehrer, der sich sehr
entschuldigte, ob ich den jüngern Sohn abholen und ihn eventuell einem Arzt
zeigen könnte. Einer der Mitschüler hätte ihn an der Wandtafel auf die Seite
geboxt und jetzt sei es unserm Jüngern übel und er habe Schmerzen. „Open
classroom“ eine Methode zur Förderung von Schlägertypen? Das
Durchsetzungsvermögen wurde sicher gefördert, aber nicht das geistige. Dieser
Vorfall blieb nicht der einzige.
Auch Sexualunterricht
gehörte natürlich ins neue Programm. So erhielten die Eltern eines Tages ein
Aufgebot zur Vorschau eines Aufklärungsfilmes für die Zweitklässler. Die
Anwesenheit sei sehr wichtig, da die Schule das Einverständnis der Eltern für
diese Filmvorführung brauche. Es waren alles Mütter anwesend, die etwas
fluchend ihre Mittagspause für diese Veranstaltung opferten. Zum Unterschied
der heute in der Schweiz propagierten Aufklärung, war der Film geradezu naiv
brav, und es sassen lauter schmunzelnde Mütter im Raum. Die Erklärungen fingen
an mit den Bienen, den Hühnern, den Pferden und kamen dann am Ende dazu, dass
es auch bei den Menschen männliche und weibliche Wesen gibt, die dann reizende
rosa- oder blaugekleidete Babies produzieren. Vielleicht wäre etwa ein
Mittelding zwischen der damaligen US-amerikanischen Aufklärung und den
schweizerischen, fast pornographischen Vorstellungen das Richtige.
Nach unserm Jahr
Schule Princeton beschlossen wir, auf ein Angebot der Universität dort nicht
einzutreten. Zumindest für den jüngern Sohn hätten wir einen grossen Teil des
Lohnes in eine Privatschule investieren müssen, wo die neuesten Methoden noch
keinen Einzug gehalten hatten.
Das Jahr darauf
verbrachten wir in einem Vorort von New Haven. Dort hatte man beschlossen, in
den verschiedenen Schulen verschiedene Unterrichtsmodelle anzubieten und so den
Eltern und Schülern je nach Bedürfnissen ein geeignetes Umfeld zur Wahl zu
stellen, ein sehr löbliches Verhalten der Behörden. Nach den Erfahrungen im
Vorjahr wählten wir die uns am nähesten gelegene strukturierte Schule,
Klassenzimmer mit Klassenlehrer. Beide Söhne waren dort sehr glücklich.
Es wurde mir aber
empfohlen, ich solle doch einmal einen Besuch in der extra gebauten neuen
Schule für den modernen offenen Unterricht zu machen. Dieser Besuch führte mich
in eine Schule, wo überall Kinder anzutreffen waren, die sich irgendwie
beschäftigten. Sie fühlten sich sicher wohl und wurden von auffällig viel Lehr-
und Hilfspersonal überwacht und betreut. Wie der Lehrerfolg in dieser Umgebung
im Vergleich zur traditionellen Schule aussah, konnte mir niemand sagen. Alles
was ich von Kollegen und Eltern hörte war, dass die Eltern zum Erreichen eines gewissen
Bildungsziels sehr gefordert waren. Wie lange diese moderne neue Schule
überlebte weiss ich nicht. Da die Finanzen in den USA immer knapp sind, dürfte
der Vorzeige-Betrieb bald abgespeckt worden sein. Soviel extra Personal kann
sich kaum eine Gemeinde leisten, auch wenn sie noch so reich ist.
Interessant war in
Princeton der Kommentar von einer benachbarten ungarischen Familie, die einen körperlich
behinderten, aber sehr intelligenten Sohn hatte. Ihm wurde unter dem neuen
Programm die Möglichkeit gegeben, in die normale Schule zu gehen.
Unterrichtsmässig hat er sehr profitiert, aber körperlich war es gar nicht
ideal. Man kann nicht in jedem Schulhaus alle erforderlichen behindertengerechten
Einrichtungen inklusive Betreuungspersonal bereitstellen. Schon der Transport
zur Schule musste wegen seines Rollstuhls extra organisiert werden. Die
Aktivitäten der normalen Schüler bewirkten für den Jungen eine Stresssituation,
die die Eltern als unangenehm empfanden. Nach einem Jahr waren sie sich nicht
sicher, ob sie dieses Experiment befürworten sollten oder nicht. Das Kind
empfand seine Behinderung mehr als vorher, weil es sich dauernd mit den
gesunden Mitschülern verglich. Von Begeisterung war bei ihm wenig zu merken,
nur von Müdigkeit nach der Schule.
Heute sind in den USA
wieder andere Schulmodelle im Vordergrund, experimentiert wird dort immer. Die
Resultate ausbaden können dann die Eltern und Kinder. Die Kosten tragen die
Steuerzahler.
Die Mitte der 1960er Jahren in den USA angestossenen Reformen und neuen Lehrpläne (mit vielen Gemeinsamkeiten zur OECD-Kompetenzorientierung des Lehrplans 21), führten dort zu einem Niedergang des Bildungswesens, wovon vor allem die schwächeren Schüler betroffen waren. In den 1970er Jahren wurde das weltweit grösste Bildungsexperiment mit 100‘000 Schülern und 1 Milliarde Dollar durchgeführt, um die beste Methode zur Förderung der schwächeren Schüler herauszufinden. Obwohl alle Eliteuniversitäten beteiligt waren, erfüllte nur der „Direkte Unterricht“ (Klassenunterricht) eines Praxislehrers die vorgegebenen Verbesserungsziele in allen Fächern. Trotzdem wurden von den Bildungspolitikern die gescheiterten Methoden finanziell bevorzugt, weshalb sich das tiefe US-Bildungsniveau nie mehr erholt hat. Wir sollten aus dem Niedergang der amerikanischen Schulen lernen, anstatt unser bewährtes Schulsystem am Volk vorbei zu beerdigen.
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