21. November 2016

Erinnerungen an eine Schule der Zukunft

Vor 42 Jahren verbrachten wir einen längeren Aufenthalt in Princeton NJ, USA. Als wir unsere zwei Buben in der öffentlichen Schule anmeldeten, wurden wir belehrt, dass unsere Kinder das Glück hätten, in den Genuss der modernsten pädagogischen Erkenntnisse zu kommen. Sie würden nach neuesten Methoden unterrichtet, inklusive Früh-Französisch. Dies erlaube den Kindern das Erlernen  einer akzentfreien Fremdsprache. Der Schulbetrieb für den jüngeren Sohn (zweite Klasse) sei lose strukturiert. Im offenen Klassenzimmer lerne jeder Schüler in dem ihm angemessenen Entwicklungstempo. Dies werde ihm auch erlauben, ohne grosse Schwierigkeiten dem Unterricht zu folgen. Der ältere werde in der höheren Stufe (vierte Klasse) von einer Lehrerin betreut, die eine mehr strukturierte Unterrichtsweise bevorzuge.
Erinnerungen an eine Schule der Zukunft,  20.2. 2012 von Effi Huber-Buser


Unsere Reaktion war, warten wir einmal ab, was da passiert. Das Früh-Französisch machte uns etwas Sorgen, da beide Kinder sich schon auf den Unterricht in Englisch umstellen mussten und von Französisch wirklich keine Ahnung hatten. Die Klasse des Älteren hatte bereits ein Jahr hinter sich. Wir fragten denn auch die Söhne immer wieder, wie das gehe mit dem Französischen. „Ja ganz gut“ war die für uns etwas unglaubwürdige Antwort des Älteren, -- die andern könnten allerdings schon auf zwanzig zählen, er erst auf zehn.

Nach etwa einem Monat war ein Elternabend mit Besprechungsmöglichkeiten mit den Lehrern angesagt. Natürlich wollten wir unbedingt die Französisch-Lehrerin sprechen. Ja, es gehe alles wunderbar. Ach, die beiden hätten nie Französisch gehabt? Sie sprächen aber besser als die andern Schüler. Wir waren platt. Wo blieb da der Erfolg dieses Unterrichts? Die Antwort kam prompt am Ende der ersten Hälfte des Schuljahres. Die Schulleitung beschloss, angesichts des mangelnden Erfolges, das Programm Früh-Französisch nach eineinhalb Jahren ersatzlos zu streichen. Das Preis/Nutzen Verhältnis stimme nicht.

Beim ältern Sohn ging es flott vorwärts. Seine Klassenlehrerin war streng, aber hervorragend. Sie baute mit anspruchsvollen Kreuzworträtseln sein Vokabular auf. Wir glaubten zuerst, das sei speziell für ihn zugeschnitten und zum Aufholen seines Rückstands im Englisch gedacht. Aber bald klingelte abends unser Telephon und es kamen Anrufe seiner amerikanischen Mitschüler im Stil „kennst Du das Wort Zeile zwei, Kolonne fünf senkrecht?“. Daran merkten wir, dass er anscheinend seine Aufgaben ernst nahm und gut in der Schule mithielt. Von der Seite war also kein Problem zu erwarten.

Beim jüngern sah es etwas anders aus. Er hatte einen sehr lieben US-Japaner als Lehrer, der mit seinen 20 Schülern im offenen Klassenzimmer einfach überfordert war. Bei einem Schulbesuch stolperten wir schon im Treppenhaus über zwei Schüler, die für die Lösung ihrer Rechenaufgaben das Weite gesucht hatten und die Treppenstufen als Tischersatz zum Schreiben benützten. Wo das Klassenzimmer sich befand war deutlich hörbar. Der Kommentar des Lehrers zur Situation unseres Kindes war, er sei etwas schüchtern und könne sich nicht gut gegen die vorlauten andern durchsetzen, so hätte er eben etwas wenig Möglichkeiten sein Können zu zeigen. Dies sollte sich noch stärker auswirken im Laufe des Schuljahres.

Eines Nachmittags erhielt ich vor Schulschluss einen Telephonanruf vom Lehrer, der sich sehr entschuldigte, ob ich den jüngern Sohn abholen und ihn eventuell einem Arzt zeigen könnte. Einer der Mitschüler hätte ihn an der Wandtafel auf die Seite geboxt und jetzt sei es unserm Jüngern übel und er habe Schmerzen. „Open classroom“ eine Methode zur Förderung von Schlägertypen? Das Durchsetzungsvermögen wurde sicher gefördert, aber nicht das geistige. Dieser Vorfall blieb nicht der einzige.

Auch Sexualunterricht gehörte natürlich ins neue Programm. So erhielten die Eltern eines Tages ein Aufgebot zur Vorschau eines Aufklärungsfilmes für die Zweitklässler. Die Anwesenheit sei sehr wichtig, da die Schule das Einverständnis der Eltern für diese Filmvorführung brauche. Es waren alles Mütter anwesend, die etwas fluchend ihre Mittagspause für diese Veranstaltung opferten. Zum Unterschied der heute in der Schweiz propagierten Aufklärung, war der Film geradezu naiv brav, und es sassen lauter schmunzelnde Mütter im Raum. Die Erklärungen fingen an mit den Bienen, den Hühnern, den Pferden und kamen dann am Ende dazu, dass es auch bei den Menschen männliche und weibliche Wesen gibt, die dann reizende rosa- oder blaugekleidete Babies produzieren. Vielleicht wäre etwa ein Mittelding zwischen der damaligen US-amerikanischen Aufklärung und den schweizerischen, fast pornographischen Vorstellungen das Richtige.

Nach unserm Jahr Schule Princeton beschlossen wir, auf ein Angebot der Universität dort nicht einzutreten. Zumindest für den jüngern Sohn hätten wir einen grossen Teil des Lohnes in eine Privatschule investieren müssen, wo die neuesten Methoden noch keinen Einzug gehalten hatten.

Das Jahr darauf verbrachten wir in einem Vorort von New Haven. Dort hatte man beschlossen, in den verschiedenen Schulen verschiedene Unterrichtsmodelle anzubieten und so den Eltern und Schülern je nach Bedürfnissen ein geeignetes Umfeld zur Wahl zu stellen, ein sehr löbliches Verhalten der Behörden. Nach den Erfahrungen im Vorjahr wählten wir die uns am nähesten gelegene strukturierte Schule, Klassenzimmer mit Klassenlehrer. Beide Söhne waren dort sehr glücklich.

Es wurde mir aber empfohlen, ich solle doch einmal einen Besuch in der extra gebauten neuen Schule für den modernen offenen Unterricht zu machen. Dieser Besuch führte mich in eine Schule, wo überall Kinder anzutreffen waren, die sich irgendwie beschäftigten. Sie fühlten sich sicher wohl und wurden von auffällig viel Lehr- und Hilfspersonal überwacht und betreut. Wie der Lehrerfolg in dieser Umgebung im Vergleich zur traditionellen Schule aussah, konnte mir niemand sagen. Alles was ich von Kollegen und Eltern hörte war, dass die Eltern zum Erreichen eines gewissen Bildungsziels sehr gefordert waren. Wie lange diese moderne neue Schule überlebte weiss ich nicht. Da die Finanzen in den USA immer knapp sind, dürfte der Vorzeige-Betrieb bald abgespeckt worden sein. Soviel extra Personal kann sich kaum eine Gemeinde leisten, auch wenn sie noch so reich ist.

Interessant war in Princeton der Kommentar von einer benachbarten ungarischen Familie, die einen körperlich behinderten, aber sehr intelligenten Sohn hatte. Ihm wurde unter dem neuen Programm die Möglichkeit gegeben, in die normale Schule zu gehen. Unterrichtsmässig hat er sehr profitiert, aber körperlich war es gar nicht ideal. Man kann nicht in jedem Schulhaus alle erforderlichen behindertengerechten Einrichtungen inklusive Betreuungspersonal bereitstellen. Schon der Transport zur Schule musste wegen seines Rollstuhls extra organisiert werden. Die Aktivitäten der normalen Schüler bewirkten für den Jungen eine Stresssituation, die die Eltern als unangenehm empfanden. Nach einem Jahr waren sie sich nicht sicher, ob sie dieses Experiment befürworten sollten oder nicht. Das Kind empfand seine Behinderung mehr als vorher, weil es sich dauernd mit den gesunden Mitschülern verglich. Von Begeisterung war bei ihm wenig zu merken, nur von Müdigkeit nach der Schule.


Heute sind in den USA wieder andere Schulmodelle im Vordergrund, experimentiert wird dort immer. Die Resultate ausbaden können dann die Eltern und Kinder. Die Kosten tragen die Steuerzahler.

1 Kommentar:

  1. Die Mitte der 1960er Jahren in den USA angestossenen Reformen und neuen Lehrpläne (mit vielen Gemeinsamkeiten zur OECD-Kompetenzorientierung des Lehrplans 21), führten dort zu einem Niedergang des Bildungswesens, wovon vor allem die schwächeren Schüler betroffen waren. In den 1970er Jahren wurde das weltweit grösste Bildungsexperiment mit 100‘000 Schülern und 1 Milliarde Dollar durchgeführt, um die beste Methode zur Förderung der schwächeren Schüler herauszufinden. Obwohl alle Eliteuniversitäten beteiligt waren, erfüllte nur der „Direkte Unterricht“ (Klassenunterricht) eines Praxislehrers die vorgegebenen Verbesserungsziele in allen Fächern. Trotzdem wurden von den Bildungspolitikern die gescheiterten Methoden finanziell bevorzugt, weshalb sich das tiefe US-Bildungsniveau nie mehr erholt hat. Wir sollten aus dem Niedergang der amerikanischen Schulen lernen, anstatt unser bewährtes Schulsystem am Volk vorbei zu beerdigen.

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