Noch nie war so viel von Kontrolle, Rechenschaft und Steuerung im
Bildungswesen die Rede wie heute. Aus pädagogischer Sicht ist die marktförmige
Instrumentalisierung der Schule mittel- und längerfristig ein Fehler.
In der Schule wird nicht gekauft, sondern gelernt, NZZ, 24.11. von Roland Reichenbach
Kinder lernen in der Schule, an einer gemeinsamen Welt zu partizipieren
und darin Sinn zu erkennen.
«Le nigaud», «le débarcadère» oder auch «le fléau» waren typische
Vokabeln, die wir in den siebziger Jahren im Französischunterricht zu lernen
hatten. Am altertümlichen Lehrbuch «Ici Fondeval» haben wir kurz eine gewisse
Freude gehabt. «Nigaud» heisst Dummkopf. Die Anwendung dieses Wortes übten wir
praxisnah schon in der Pause. Und in der Romandie nach dem Landesteg
(débarcadère) fragen zu können, ist nicht ohne Kompetenzerleben. Dass der
Dreschflegel (fléau) ein Gegenstand ist, dem man schon damals eher im
Bauernmuseum als im wahren Leben begegnet ist, wäre uns nicht aufgefallen. Im
wenig urbanen «Ici Fondeval» interessierte «fléau» als Dreschflegel und nicht
in seiner Bedeutung als «Plage». Wir nahmen diese eigenartigen Wörter, wie sie
eben im «Ici Fondeval» standen.
Der Auraverlust der Schule
Der ältere Lehrer Rettenmund liess in einer frankophilen
Selbstverständlichkeit niemals Zweifel daran aufkommen, dass auch eine einzige
Französischvokabel unwichtig sein könnte. Französisch ist jedes Wort wichtig
und muss daher unbedingt korrekt geschrieben werden können. Das erfordert eine
gewisse Disziplin. Betrat Rettenmund das Klassenzimmer, so hatten wir uns
hinter unseren Pulten aufzurichten und ihn mit einem deutlichen «Bonjour,
Monsieur Rettenmund» im Chor zu begrüssen. Das hat uns nicht gestört. Vielmehr
erlebten wir damit schon zu Stundenbeginn eine gewisse Triebabfuhr. Natürlich
haben wir nicht «Bonjour» geschrien, sondern «Poschur», was dem feinen
frankofonen Ohr Schmerzen verursacht. Rettenmund konterte mit dem Befehlsgruss
«Bonjour, la classe, asseyez-vous!». Während wir uns setzten, ertönten wir in
feierlich-militärischer Manier: «Nous nous asseyons.» Mit diesem Ritual konnte
der Unterricht nach wenigen Sekunden beginnen. Immer mit «Ici Fondeval».
Dieser Französischunterricht stand für mich unter einem schlechten
Stern. Einmal musste ich mich frühmorgens in Rettenmunds Stunde übergeben. Das
war weniger symbolisch als einfach unangenehm, für alle Anwesenden. Rettenmund
wollte mein verzweifeltes Aufstrecken zuvor einfach nicht wahrnehmen. Es fehlte
mir der Mut, einfach auf die Toilette zu rennen. Dafür erhielt ich ein
nigelnagelneues «Ici Fondeval». Ein anderes Mal hat Rettenmund meinen Eltern in
einem Brief geraten, mit mir dringend einen Arzt zu konsultieren, da etwas mit
mir nicht stimme. Die Diagnose war vielleicht angemessen, aber wegen ein paar
Verhaltensauffälligkeiten ihres Sohnes hätten meine Eltern keinen Arzt
konsultiert. Denn: Ein bisschen schief hat Gott lieb.
Dieser Unterricht war effizient, hochgradig gelenkt und weitgehend
sinnfrei. Die Sinnfrage wäre uns in schulischen Fragen nicht in den Sinn
gekommen. Schule war als Faktum hinzunehmen, und «Ici Fondeval» stand für
alles, was wir mit Französisch in Verbindung bringen konnten. Die Lehre war von
einer wirksamen und unnatürlichen Aura umgeben, die durch die veralteten
Lehrmittel verstärkt worden ist, an deren teilweise vergammelten Exemplaren wir
Spuren des Leids, aber auch kleiner Rebellionsversuche früherer Schüler
erkennen konnten. Gleichzeitig zeigten uns diese Zeichen, dass auch wir «Ici
Fondeval» überleben werden. Nur fixfertige «nigauds» nahmen «Ici Fondeval»
wirklich ernst.
Die Aura des Rätselhaften, ihre Einzigartigkeit als Ort der
Wissensvermittlung und der Kultur, die sie zu verkörpern und weiterzugeben
hatte, hat die Schule stark eingebüsst. Daher kann die Lehrperson heute auf ein
paar «Gratiskräfte» (Ziehe und Stubenrauch 1982), von denen sie zunächst
profitieren konnte, nicht mehr richtig zählen. Die erste dieser geschwächten
Kräfte ist jene des Bildungskanons. Er verkörperte die nicht zu hinterfragende
Autorität der kulturellen Wissensbestände, welche die Schule praktisch im
Monopol zu vertreten hatte. Die zweite «Gratiskraft» ist jene des
traditionellen Generationenverhältnisses: Gerade als konfliktuelles Verhältnis
war dieses konstitutiv für eine Auseinandersetzung und Aushandlung der
Wertmassstäbe. Die dritte «Gratiskraft» war die Selbstverständlichkeit und
Identitätsnähe der Selbstdisziplin. Dass Lernen «Spass» machen soll oder am
besten wie von alleine «geschehe» und im Grunde einem reibungslosen und
«natürlichen» Prozess entsprechen könne, ist eine junge und für institutionelle
Zusammenhänge eher abartige Idee. Schulische Bildung war vielmehr immer mit
einem Ethos der Anstrengung und des Übens verbunden. Die Ent-Auratisierung der
Schule ist ein auch demokratischer «Erfolg»; dazu gehört, dass die Lehrperson
als professionelle Sachautorität angreifbar geworden ist.
Richtiges Googeln
Wie weit die «Ent-Kanonisierung» vorangeschritten ist und die reichlich
hilflosen Re-Kanonisierungs-Versuche sind, zeigt sich an locker eingeworfenen
Vorschlägen von sogenannten «Bildungsexperten», die beispielsweise das
Schulfach «Glück» fordern oder «Digitalkunde» und «richtiges Googeln». In einem
Interview, das kürzlich in «20 Minuten» abgedruckt worden ist, antwortet der
«Bildungsexperte» auf die Frage, ob den Schülern das «Lernen von Franzwörtli»
dank richtigem Googeln bald erspart bleibe: «Leider nicht. Damit man eine
Sprache fliessend sprechen kann, ist es selbstverständlich notwendig, dass man
über einen Wortschatz verfügt, den man sofort abrufen kann und nicht erst
googeln muss. Ganz erspart bleibt den Schülern das Lernen also nicht.» Ja,
schade eigentlich. Von Google haben wir uns mehr erhofft. Es will einem die
Lust, ein Schulhaus zu betreten, noch ganz vergehen, wenn man dort immer noch
auswendig lernen muss.
Nun kann man sagen, das stehe ja bloss in «20 Minuten», also nur in
einer Art Zeitungsimitat. Aber die Verbreitung von derlei Humbug kann als ein
Zeichen einer Diskurssituation gedeutet werden, in der Schulbildung zunehmend
noch als Erwerb von Methoden- und Medienkompetenz fungiert und Wissen zu
Information reduziert wird. Der Experte: «Die Menge an verfügbarem Wissen
wächst immer schneller. Heute verdoppelt sie sich jedes Jahr, in zehn Jahren
täglich. Wenn Schüler dann etwas auswendig lernen, ist es bereits veraltet,
wenn es zur grossen Pause läutet.» Rechnen wir weiter, so naht der Tag, an dem
sich das Wissen alle 20 Minuten verdoppelt. Es ist aber unklar, ob dies auch
für das Wort «nigaud» zutrifft, das man nach dieser Lektüre benützen möchte.
Betrifft die zunehmend rasante Verdoppelung des Wissens auch unser Wissen über
Funktionsgleichungen, die binomischen Formeln, Goethes «Werther», den
Kontrapunkt der Fuge, tektonische Platten, Osmose, den Passé simple oder die
«Politeia» Platons? Trotz der beachtlichen Performanz der infektiösen
Multiplikation von blossen Informationen wird sich schulisches Wissen auch
weiterhin nur langsam entwickeln und aneignen lassen.
Was hinten rauskommt
Die Anerkennung des schulischen Wissens wird von der Idee geschwächt,
dass es weniger auf «Stoffe» als auf Können ankomme. Radikalisiert wird die
Kompetenzorientierung so gedeutet, dass es im Grunde gleichgültig ist, welche
Inhalte gelehrt und gelernt werden, Hauptsache, «hinten» kommen die erwünschten
Kompetenzen «raus». Geht es um Schule, reden die zahlreichen Vertreter dieser
Perspektive vorwiegend noch in Termen von «Input» und «Output». Hier wird das
Gesamtbildungssystem zu einem Organismus, der im Wesentlichen zwei
Körperöffnungen aufweist. Während bis vor kurzem vor allem interessierte, was
in diesen Organismus hineingeht – vorgegeben, eingegeben oder eingetrichtert –
oder neutraler: Eingang finden soll, interessiert bei der radikalen
Output-Steuerung letztlich nur noch, was «hinten rauskommt». Wie kam es zu
dieser Fokusverschiebung im Ernährungs- und Verdauungskanal des
Bildungssystems? Auch wenn die Gründe vielleicht nie genau nachvollzogen werden
können, ziemlich sicher ist, dass die diversen Bildungsreformen, welche –
international betrachtet – von der Forderung nach Vergleichbarkeit schulischer
Leistung über die Standardisierung der Bildungsinhalte zur Leistungsmessung von
Kompetenzniveaus führen sollen, nicht so leicht rückgängig gemacht werden können.
Der dringende Wunsch, möglichst genau zu erfassen, was gelernt worden ist,
dieses Lernen zu kontrollieren, seine Wirksamkeit zu kanalisieren und
unmittelbar hinsichtlich seines Transfernutzens beurteilen zu können, ist
auffällig.
Schon hobbymässige psychoanalytische Kenntnisse reichen aus, um die
Muster der hier zum Ausdruck kommenden Phase und Fixierung zu erkennen. Dieses
wütige Moment – schon Schleiermacher kritisierte die «Wut des Verstehens» –
kann als Indikator für eine Gesellschaft interpretiert werden, die quasi anale
Züge trägt. Jedenfalls ist es bemerkenswert, wie die Bildungswelt von drei
Merkmalen geprägt wird, die mit der Beherrschung der Körperfunktionen bzw.
Reinlichkeitserziehung zu tun haben: namentlich (i) Besitz, (ii) Produktion und
(iii) Zeit. Stillschweigend wird von diesen drei Kategorien ausgegangen, wenn
öffentlich über Bildung gesprochen wird: Sie wird erstens wie ein Besitz von
Einzelpersonen behandelt, zweitens, als ob sie ein Gut wäre, das regelrecht
herstellbar und nach Gutdünken modifizierbar ist und das, drittens, möglichst
zeitökonomisch hergestellt werden soll.
In dieser naturalistischen Schulkritik-Perspektive erscheint das
Bildungssystem als ein riesiger Einverleibungs-, Verwertungs- und
Ausstossungsorganismus, welchen es nach zeitökonomischen und
Effektivitätskriterien zu steuern und zu kontrollieren gilt. Dieses Tier muss
gezähmt werden. Noch nie war so viel von Kontrolle und Rechenschaft im
Bildungswesen die Rede wie heute. Auch die Metaphorik des sogenannten Bildungsmonitorings
ist in diesem Zusammenhang von Interesse. «Monitoring» meint das ständige,
sorgfältige Untersuchen, Überprüfen und Überwachen von bestimmten Gegebenheiten
– typischerweise in der Ozeanografie bzw. Hydrologie, der Seismologie, aber
auch der Medizin. Monitoring dient der Verhinderung oder Voraussage von
Naturkatastrophen und heisst «Überwachung». Doch ist die Schule eine
Intensivstation? Die Sprache verrät den Geist.
Viele Praktikerinnen und Praktiker scheinen der neuen Semantik, in der
über Schule nachgedacht wird, skeptisch gegenüberzustehen. Ausnahme sind die
Novizen, die nichts anderes kennen und sich in den pädagogischen Hochschulen
jene rhetorischen Vokabeln aneignen, die heute sozusagen offizielle
Bildungspolitik ausdrücken, aber mit Erziehungswissenschaft und/oder Pädagogik
wenig zu tun haben. So hat man sich in unterschiedlichen gesellschaftlichen
Teilsystemen beispielsweise daran gewöhnt, als «Kunde» angesprochen zu werden.
Die «Kundenorientierung» tut so, als ob damit ein ganz besonderes Interesse an
den Bedürfnissen der Menschen realisiert werde. Doch Staatsbürger sind keine
Kunden, Patienten sind keine Kunden, Kirchengänger sind keine Kunden und
Schüler auch nicht. In der Schule gibt es heute «Lehrangebote»; manche
«Angebote» sind aber zwingend, das sind die «Pflichtangebote». In der Migros
oder im Coop bin ich noch nie mit «Pflichtangeboten» konfrontiert worden
(«Kaufen Sie diese Bananen, oder Sie dürfen den Laden nicht verlassen!»).
Gemeinsame statt eigene Welt
Schülerin und Schüler sein heisst nicht primär, nach Gusto aus einem
Angebot zu picken, sondern zuzuhören, sich etwas zeigen und sagen zu lassen und
tun zu müssen, was nicht frei gewählt worden ist. Schulbildung besteht wie jede
Bildung in der subjektiven Aneignung objektivierter Kultur, die vor uns da war
und nach uns sein wird. Bildung befähigt, an der kulturellen Welt zu
partizipieren, die unser Leben transzendiert. Das Symbolische zu erlernen und
sich seiner Macht zu stellen, dafür ist die Schule da. Schüler sind keine
Individualkunden, die sich ihre «eigene Welt» bilden. Die entlarvende Rede der
«eigenen Welt» gibt Zeugnis davon, wie unsicher die ältere Generation sein
muss, ob sie der jüngeren überhaupt noch etwas zu sagen und zu zeigen hat.
Nicht der Aufbau «eigener Welten», sondern die Befähigung, an einer gemeinsamen
Welt zu partizipieren und darin Sinn zu finden, ist die pädagogische Funktion
der Schule. Die «eigene Welt» ist im Gegensatz dazu eine euphemistische
Verklärung der bedauernswerten Vereinzelung im Zustand der Krise des
Gemeinsinns, die wir heute im Bereich der Bildung erleben.
Es erscheint notwendig, die Stellung der Schule als Repräsentantin der
Kultur und ihre konstitutive Bedeutung für die moderne Gesellschaft in
Erinnerung zu rufen. Die zeitgenössische, marktförmige Instrumentalisierung der
Schule ist mittel- und längerfristig in pädagogischer Hinsicht ein Fehler. In
der Schule wird nicht gekauft, sondern gelernt. Das weiss jeder «nigaud».
Roland Reichenbach ist Professor für allgemeine Erziehungswissenschaft
an der Universität Zürich.
Ein Text, der Mut macht, den Weg weiterzugehen, trotz Gehirnwäscheversuchen seitens der Bildungsbehörden....
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