24. November 2016

Schüler sind keine Kunden

Noch nie war so viel von Kontrolle, Rechenschaft und Steuerung im Bildungswesen die Rede wie heute. Aus pädagogischer Sicht ist die marktförmige Instrumentalisierung der Schule mittel- und längerfristig ein Fehler.
In der Schule wird nicht gekauft, sondern gelernt, NZZ, 24.11. von Roland Reichenbach

Kinder lernen in der Schule, an einer gemeinsamen Welt zu partizipieren und darin Sinn zu erkennen.

«Le nigaud», «le débarcadère» oder auch «le fléau» waren typische Vokabeln, die wir in den siebziger Jahren im Französischunterricht zu lernen hatten. Am altertümlichen Lehrbuch «Ici Fondeval» haben wir kurz eine gewisse Freude gehabt. «Nigaud» heisst Dummkopf. Die Anwendung dieses Wortes übten wir praxisnah schon in der Pause. Und in der Romandie nach dem Landesteg (débarcadère) fragen zu können, ist nicht ohne Kompetenzerleben. Dass der Dreschflegel (fléau) ein Gegenstand ist, dem man schon damals eher im Bauernmuseum als im wahren Leben begegnet ist, wäre uns nicht aufgefallen. Im wenig urbanen «Ici Fondeval» interessierte «fléau» als Dreschflegel und nicht in seiner Bedeutung als «Plage». Wir nahmen diese eigenartigen Wörter, wie sie eben im «Ici Fondeval» standen.

Der Auraverlust der Schule
Der ältere Lehrer Rettenmund liess in einer frankophilen Selbstverständlichkeit niemals Zweifel daran aufkommen, dass auch eine einzige Französischvokabel unwichtig sein könnte. Französisch ist jedes Wort wichtig und muss daher unbedingt korrekt geschrieben werden können. Das erfordert eine gewisse Disziplin. Betrat Rettenmund das Klassenzimmer, so hatten wir uns hinter unseren Pulten aufzurichten und ihn mit einem deutlichen «Bonjour, Monsieur Rettenmund» im Chor zu begrüssen. Das hat uns nicht gestört. Vielmehr erlebten wir damit schon zu Stundenbeginn eine gewisse Triebabfuhr. Natürlich haben wir nicht «Bonjour» geschrien, sondern «Poschur», was dem feinen frankofonen Ohr Schmerzen verursacht. Rettenmund konterte mit dem Befehlsgruss «Bonjour, la classe, asseyez-vous!». Während wir uns setzten, ertönten wir in feierlich-militärischer Manier: «Nous nous asseyons.» Mit diesem Ritual konnte der Unterricht nach wenigen Sekunden beginnen. Immer mit «Ici Fondeval».

Dieser Französischunterricht stand für mich unter einem schlechten Stern. Einmal musste ich mich frühmorgens in Rettenmunds Stunde übergeben. Das war weniger symbolisch als einfach unangenehm, für alle Anwesenden. Rettenmund wollte mein verzweifeltes Aufstrecken zuvor einfach nicht wahrnehmen. Es fehlte mir der Mut, einfach auf die Toilette zu rennen. Dafür erhielt ich ein nigelnagelneues «Ici Fondeval». Ein anderes Mal hat Rettenmund meinen Eltern in einem Brief geraten, mit mir dringend einen Arzt zu konsultieren, da etwas mit mir nicht stimme. Die Diagnose war vielleicht angemessen, aber wegen ein paar Verhaltensauffälligkeiten ihres Sohnes hätten meine Eltern keinen Arzt konsultiert. Denn: Ein bisschen schief hat Gott lieb.

Dieser Unterricht war effizient, hochgradig gelenkt und weitgehend sinnfrei. Die Sinnfrage wäre uns in schulischen Fragen nicht in den Sinn gekommen. Schule war als Faktum hinzunehmen, und «Ici Fondeval» stand für alles, was wir mit Französisch in Verbindung bringen konnten. Die Lehre war von einer wirksamen und unnatürlichen Aura umgeben, die durch die veralteten Lehrmittel verstärkt worden ist, an deren teilweise vergammelten Exemplaren wir Spuren des Leids, aber auch kleiner Rebellionsversuche früherer Schüler erkennen konnten. Gleichzeitig zeigten uns diese Zeichen, dass auch wir «Ici Fondeval» überleben werden. Nur fixfertige «nigauds» nahmen «Ici Fondeval» wirklich ernst.
Die Aura des Rätselhaften, ihre Einzigartigkeit als Ort der Wissensvermittlung und der Kultur, die sie zu verkörpern und weiterzugeben hatte, hat die Schule stark eingebüsst. Daher kann die Lehrperson heute auf ein paar «Gratiskräfte» (Ziehe und Stubenrauch 1982), von denen sie zunächst profitieren konnte, nicht mehr richtig zählen. Die erste dieser geschwächten Kräfte ist jene des Bildungskanons. Er verkörperte die nicht zu hinterfragende Autorität der kulturellen Wissensbestände, welche die Schule praktisch im Monopol zu vertreten hatte. Die zweite «Gratiskraft» ist jene des traditionellen Generationenverhältnisses: Gerade als konfliktuelles Verhältnis war dieses konstitutiv für eine Auseinandersetzung und Aushandlung der Wertmassstäbe. Die dritte «Gratiskraft» war die Selbstverständlichkeit und Identitätsnähe der Selbstdisziplin. Dass Lernen «Spass» machen soll oder am besten wie von alleine «geschehe» und im Grunde einem reibungslosen und «natürlichen» Prozess entsprechen könne, ist eine junge und für institutionelle Zusammenhänge eher abartige Idee. Schulische Bildung war vielmehr immer mit einem Ethos der Anstrengung und des Übens verbunden. Die Ent-Auratisierung der Schule ist ein auch demokratischer «Erfolg»; dazu gehört, dass die Lehrperson als professionelle Sachautorität angreifbar geworden ist.

Richtiges Googeln
Wie weit die «Ent-Kanonisierung» vorangeschritten ist und die reichlich hilflosen Re-Kanonisierungs-Versuche sind, zeigt sich an locker eingeworfenen Vorschlägen von sogenannten «Bildungsexperten», die beispielsweise das Schulfach «Glück» fordern oder «Digitalkunde» und «richtiges Googeln». In einem Interview, das kürzlich in «20 Minuten» abgedruckt worden ist, antwortet der «Bildungsexperte» auf die Frage, ob den Schülern das «Lernen von Franzwörtli» dank richtigem Googeln bald erspart bleibe: «Leider nicht. Damit man eine Sprache fliessend sprechen kann, ist es selbstverständlich notwendig, dass man über einen Wortschatz verfügt, den man sofort abrufen kann und nicht erst googeln muss. Ganz erspart bleibt den Schülern das Lernen also nicht.» Ja, schade eigentlich. Von Google haben wir uns mehr erhofft. Es will einem die Lust, ein Schulhaus zu betreten, noch ganz vergehen, wenn man dort immer noch auswendig lernen muss.

Nun kann man sagen, das stehe ja bloss in «20 Minuten», also nur in einer Art Zeitungsimitat. Aber die Verbreitung von derlei Humbug kann als ein Zeichen einer Diskurssituation gedeutet werden, in der Schulbildung zunehmend noch als Erwerb von Methoden- und Medienkompetenz fungiert und Wissen zu Information reduziert wird. Der Experte: «Die Menge an verfügbarem Wissen wächst immer schneller. Heute verdoppelt sie sich jedes Jahr, in zehn Jahren täglich. Wenn Schüler dann etwas auswendig lernen, ist es bereits veraltet, wenn es zur grossen Pause läutet.» Rechnen wir weiter, so naht der Tag, an dem sich das Wissen alle 20 Minuten verdoppelt. Es ist aber unklar, ob dies auch für das Wort «nigaud» zutrifft, das man nach dieser Lektüre benützen möchte. Betrifft die zunehmend rasante Verdoppelung des Wissens auch unser Wissen über Funktionsgleichungen, die binomischen Formeln, Goethes «Werther», den Kontrapunkt der Fuge, tektonische Platten, Osmose, den Passé simple oder die «Politeia» Platons? Trotz der beachtlichen Performanz der infektiösen Multiplikation von blossen Informationen wird sich schulisches Wissen auch weiterhin nur langsam entwickeln und aneignen lassen.

Was hinten rauskommt
Die Anerkennung des schulischen Wissens wird von der Idee geschwächt, dass es weniger auf «Stoffe» als auf Können ankomme. Radikalisiert wird die Kompetenzorientierung so gedeutet, dass es im Grunde gleichgültig ist, welche Inhalte gelehrt und gelernt werden, Hauptsache, «hinten» kommen die erwünschten Kompetenzen «raus». Geht es um Schule, reden die zahlreichen Vertreter dieser Perspektive vorwiegend noch in Termen von «Input» und «Output». Hier wird das Gesamtbildungssystem zu einem Organismus, der im Wesentlichen zwei Körperöffnungen aufweist. Während bis vor kurzem vor allem interessierte, was in diesen Organismus hineingeht – vorgegeben, eingegeben oder eingetrichtert – oder neutraler: Eingang finden soll, interessiert bei der radikalen Output-Steuerung letztlich nur noch, was «hinten rauskommt». Wie kam es zu dieser Fokusverschiebung im Ernährungs- und Verdauungskanal des Bildungssystems? Auch wenn die Gründe vielleicht nie genau nachvollzogen werden können, ziemlich sicher ist, dass die diversen Bildungsreformen, welche – international betrachtet – von der Forderung nach Vergleichbarkeit schulischer Leistung über die Standardisierung der Bildungsinhalte zur Leistungsmessung von Kompetenzniveaus führen sollen, nicht so leicht rückgängig gemacht werden können. Der dringende Wunsch, möglichst genau zu erfassen, was gelernt worden ist, dieses Lernen zu kontrollieren, seine Wirksamkeit zu kanalisieren und unmittelbar hinsichtlich seines Transfernutzens beurteilen zu können, ist auffällig.
Schon hobbymässige psychoanalytische Kenntnisse reichen aus, um die Muster der hier zum Ausdruck kommenden Phase und Fixierung zu erkennen. Dieses wütige Moment – schon Schleiermacher kritisierte die «Wut des Verstehens» – kann als Indikator für eine Gesellschaft interpretiert werden, die quasi anale Züge trägt. Jedenfalls ist es bemerkenswert, wie die Bildungswelt von drei Merkmalen geprägt wird, die mit der Beherrschung der Körperfunktionen bzw. Reinlichkeitserziehung zu tun haben: namentlich (i) Besitz, (ii) Produktion und (iii) Zeit. Stillschweigend wird von diesen drei Kategorien ausgegangen, wenn öffentlich über Bildung gesprochen wird: Sie wird erstens wie ein Besitz von Einzelpersonen behandelt, zweitens, als ob sie ein Gut wäre, das regelrecht herstellbar und nach Gutdünken modifizierbar ist und das, drittens, möglichst zeitökonomisch hergestellt werden soll.

In dieser naturalistischen Schulkritik-Perspektive erscheint das Bildungssystem als ein riesiger Einverleibungs-, Verwertungs- und Ausstossungsorganismus, welchen es nach zeitökonomischen und Effektivitätskriterien zu steuern und zu kontrollieren gilt. Dieses Tier muss gezähmt werden. Noch nie war so viel von Kontrolle und Rechenschaft im Bildungswesen die Rede wie heute. Auch die Metaphorik des sogenannten Bildungsmonitorings ist in diesem Zusammenhang von Interesse. «Monitoring» meint das ständige, sorgfältige Untersuchen, Überprüfen und Überwachen von bestimmten Gegebenheiten – typischerweise in der Ozeanografie bzw. Hydrologie, der Seismologie, aber auch der Medizin. Monitoring dient der Verhinderung oder Voraussage von Naturkatastrophen und heisst «Überwachung». Doch ist die Schule eine Intensivstation? Die Sprache verrät den Geist.

Viele Praktikerinnen und Praktiker scheinen der neuen Semantik, in der über Schule nachgedacht wird, skeptisch gegenüberzustehen. Ausnahme sind die Novizen, die nichts anderes kennen und sich in den pädagogischen Hochschulen jene rhetorischen Vokabeln aneignen, die heute sozusagen offizielle Bildungspolitik ausdrücken, aber mit Erziehungswissenschaft und/oder Pädagogik wenig zu tun haben. So hat man sich in unterschiedlichen gesellschaftlichen Teilsystemen beispielsweise daran gewöhnt, als «Kunde» angesprochen zu werden. Die «Kundenorientierung» tut so, als ob damit ein ganz besonderes Interesse an den Bedürfnissen der Menschen realisiert werde. Doch Staatsbürger sind keine Kunden, Patienten sind keine Kunden, Kirchengänger sind keine Kunden und Schüler auch nicht. In der Schule gibt es heute «Lehrangebote»; manche «Angebote» sind aber zwingend, das sind die «Pflichtangebote». In der Migros oder im Coop bin ich noch nie mit «Pflichtangeboten» konfrontiert worden («Kaufen Sie diese Bananen, oder Sie dürfen den Laden nicht verlassen!»).

Gemeinsame statt eigene Welt
Schülerin und Schüler sein heisst nicht primär, nach Gusto aus einem Angebot zu picken, sondern zuzuhören, sich etwas zeigen und sagen zu lassen und tun zu müssen, was nicht frei gewählt worden ist. Schulbildung besteht wie jede Bildung in der subjektiven Aneignung objektivierter Kultur, die vor uns da war und nach uns sein wird. Bildung befähigt, an der kulturellen Welt zu partizipieren, die unser Leben transzendiert. Das Symbolische zu erlernen und sich seiner Macht zu stellen, dafür ist die Schule da. Schüler sind keine Individualkunden, die sich ihre «eigene Welt» bilden. Die entlarvende Rede der «eigenen Welt» gibt Zeugnis davon, wie unsicher die ältere Generation sein muss, ob sie der jüngeren überhaupt noch etwas zu sagen und zu zeigen hat. Nicht der Aufbau «eigener Welten», sondern die Befähigung, an einer gemeinsamen Welt zu partizipieren und darin Sinn zu finden, ist die pädagogische Funktion der Schule. Die «eigene Welt» ist im Gegensatz dazu eine euphemistische Verklärung der bedauernswerten Vereinzelung im Zustand der Krise des Gemeinsinns, die wir heute im Bereich der Bildung erleben.
Es erscheint notwendig, die Stellung der Schule als Repräsentantin der Kultur und ihre konstitutive Bedeutung für die moderne Gesellschaft in Erinnerung zu rufen. Die zeitgenössische, marktförmige Instrumentalisierung der Schule ist mittel- und längerfristig in pädagogischer Hinsicht ein Fehler. In der Schule wird nicht gekauft, sondern gelernt. Das weiss jeder «nigaud».


Roland Reichenbach ist Professor für allgemeine Erziehungswissenschaft an der Universität Zürich.

1 Kommentar:

  1. Ein Text, der Mut macht, den Weg weiterzugehen, trotz Gehirnwäscheversuchen seitens der Bildungsbehörden....

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