Kompetenzorientierung, internationale Bildungsstandards und Deutschschweizer Harmonisierungsbestrebungen: Der Lehrplan 21 polarisiert. Christian Amsler und Alain Pichard kreuzen die Klingen.
Fortschritt oder Reformeifer? NZZ, 24.11.
Es gibt kaum etwas
Reglementierteres als ein Schulhaus – von «Respekt»-Plakaten und Flüsterzonen
bis zu Strafenkatalogen. Warum, Herr Pichard, passt der dicke Lehrplan 21
trotzdem nicht dazu?
Alain
Pichard: Das mag eine Zürcher Realität beschreiben, bei uns in Bern hat man die
bürokratischen Übertreibungen stark zurückgefahren. Ich kenne die Zürcher
Reglementierungswut aber von meinen Grosskindern. Die dürfen nicht einmal einen
Schokoladenkuchen in die Schule mitbringen an ihrem Geburtstag.
Christian
Amsler: Auch ich habe mit solchen Regeln Mühe, aber insgesamt erlebe ich die
Schule anders – voller Buntheit und Kreativität, mit viel pädagogischer
Freiheit. Kürzlich besuchte ich eine Oberstufenklasse. An der Wand des
Klassenzimmers hing ein einzelner Satz: «Es ist alles erlaubt, was vernünftig
ist.» Eine Schülerin erklärte mir, es handle sich dabei um ihre gemeinsam
erarbeitete Klassenregel. Wunderbar! Dieses Einüben demokratischer Verfahren
ist Teil der Vorbereitung auf das Leben. Viele Lehrkräfte pflegen es mit
grossem Engagement. Regulierungswut ist etwas anderes!
Stellt sich der Lehrplan
21 Schule so vor?
Pichard:
Mit dem Lehrplan 21 hat das wenig zu tun. Bei diesem handelt es sich entgegen
anderslautenden Aussagen um eine Schulreform. Mit der Kompetenzorientierung
liegt ihm ein weltweit kontrovers diskutiertes Konzept zugrunde. Zudem schreibt
er den frühen Fremdsprachenunterricht mit Beginn in der dritten und fünften
Klasse fest. Und schliesslich ist er das Produkt einer Allianz von Verwaltung,
Politik und Wissenschaft, die sich von der Praxis entfernt hat und unbedingt
die Bildungsagenda der OECD durchziehen will. Das Fuder ist derart überladen
worden, dass man sich vom Ziel, der Harmonisierung der kantonalen Volksschulen,
verabschiedet hat.
Kann man also nicht mehr
von einem Harmonisierungsprojekt sprechen?
Pichard:
Die Kantone der Romandie haben nach 2006 einen gemeinsamen Lehrplan ohne
konsequente Kompetenzorientierung und ohne Sammelfächer geschaffen. Erreicht
wurde der gleichzeitige Beginn des Fremdsprachenunterrichts und gleiche
Stundentafeln in der ganzen Sprachregion, also eine weitgehende, problemlose
Harmonisierung. Und was ist in der Deutschschweiz herausgekommen? Wir haben ein
Riesenchaos bei den Fremdsprachen, eine Seldwylerei erster Güte. Dazu kommen
diverse Alleingänge: Baselland führt die Sammelfächer nicht ein, die
Stundentafeln ändern von Kanton zu Kanton. Wir haben punkto Harmonisierung
einen Rückschritt gemacht und erst noch den Sprachenfrieden gefährdet.
Damit liegt die Kritik auf
dem Tisch, Herr Amsler.
Amsler:
Ich werde mich hüten, nun in die Defensive zu gehen und jeden Vorwurf von Herrn
Pichard zu entkräften. Ich akzeptiere seine Meinung, die meiner eigenen
diametral gegenübersteht. Der Lehrplan 21 ist etwas Einmaliges. Trotz
kantonaler Bildungshoheit haben sich die 21 deutschsprachigen Kantone
zusammengetan und in guteidgenössischer Tradition den Harmonisierungsauftrag
der Bundesverfassung umgesetzt sowie die Inhalte der Schule neu definiert. Auf
das Ergebnis bin ich stolz. Der Lehrplan 21 ist eine gute Sache für die moderne
Volksschule.
Aber es ist schon so, dass
die kantonalen Volksinitiativen und Vorstösse zum Lehrplan und zum
Fremdsprachenunterricht die Harmonisierung torpedieren können.
Amsler:
Ich habe alles andere als Freude am Sprachenstreit. Der Lehrplan 21 sagt aber
gar nichts zu den Fremdsprachen. Dafür ist die gesamtschweizerische
Erziehungsdirektorenkonferenz (EDK) zuständig. Wir haben einfach den 2004
vereinbarten Kompromiss mit dem Fremdsprachenunterricht in der Primarschule im
Lehrplan abgebildet. Die Sprachenfrage ist in unserem vielsprachigen Land eine
grosse Herausforderung. Wir haben bezüglich Koordination viel erreicht. Dass
die Ost- und die Zentralschweiz eine andere Reihenfolge gewählt haben als die
Nordwestschweiz, ist zu akzeptieren, auch wenn dadurch beim Umzug von St.
Gallen nach Bern ein Problem entstehen kann.
Stichwort Gleichmacherei
in einem vielfältigen Land: Ist man im Lehrplan 21 – ausser in der
Sprachenfrage – zu weit gegangen?
Pichard:
Die Sprachenfrage ist für mich zentral. Die EDK hat beim Entscheid für den
frühen Fremdsprachenunterricht einen fatalen Fehler gemacht. Wollte sie, dass
die Schüler besser Französisch oder Englisch können? Oder ist man einfach dem
Wunsch der Eltern gefolgt? Eine Antwort darauf haben wir Lehrer nie erhalten,
aber Studien belegen, dass der frühe Sprachunterricht keine langfristigen
Effekte hat.
Amsler: Das hängt von den Studien ab, die man beizieht.
Pichard:
Diejenige von Simone Pfenninger belegt meine Aussage klar. Sie wird nun von der
EDK schlechtgeredet. Zeigen Sie mir eine Studie, die Vorteile der
Frühfremdsprachen belegen kann! Ich kenne keine. Man hat dafür – ohne vorherige
Prüfung – sehr viel Geld ausgegeben und dabei ein Problem ausgeblendet, das die
Schulen wirklich fordert: den Illettrismus. 15 bis 20 Prozent der Jugendlichen
können im teuersten Schulsystem der Welt nach neun Schuljahren nicht richtig
lesen und schreiben. Hier wäre die Priorität zu setzen gewesen.
Amsler:
Es war tatsächlich ein politischer Entscheid. Er ging aber nicht von den
Erziehungsdirektoren aus. Und er hat mit dem Thema Lehrplan 21 herzlich wenig
zu tun. Trotzdem: Wir Erziehungsdirektoren sind strikte gegen all die laufenden
Versuche, das geltende System mit kantonalen Volksinitiativen kurzfristig und
lokal wieder zu ändern. Zurzeit wird dazu ein Krieg der Wissenschaften
inszeniert. Uns ist es wichtig, vorerst Ruhe in die Sache zu bringen, um dann
aufgrund von heute tatsächlich noch fehlenden Wirksamkeitsstudien eine
gemeinsame Lösung zu finden. Jetzt den Schalter wieder umzulegen, ist schlicht
und einfach verfrüht. Bei meinen monatlichen Schulbesuchen sehe ich
hervorragenden Sprachunterricht und Kinder, die zum grössten Teil mit Freude
dabei sind.
Pichard:
Auf dem Hintergrund der laufenden Sparprogramme muss man den Mitteleinsatz in
den Schulen aber schon kritisch hinterfragen. Die sechs auf «Passepartout»
setzenden Kantone haben bis anhin rund 100 Millionen Franken in das
Frühfranzösisch-Projekt gesteckt. «Passepartout» ist das teuerste Lehrmittel,
das es je gegeben hat – mit einer völlig neuen, nirgends ausgetesteten,
untauglichen Sprachdidaktik.
Aber ursprünglich hat sich
der Streit um den Lehrplan 21 ja nicht an der Sprachenfrage entzündet, sondern
an der Abkehr von den Lernzielen hin zum kompetenzorientierten Lernen. Was
stört Sie so stark? Der von Ihnen gelobte welsche Lehrplan ist ja auch
kompetenzorientiert.
Pichard:
Im welschen Lehrplan hat es zwar Kompetenzen, aber die Inhalte und Themen
werden ihnen nicht unterstellt. Der Lehrplan 21 wäre in der Romandie nie
mehrheitsfähig, sagt der Genfer Lehrplanexperte Bernard Schneuwly. Er hält ihn
gar für eine Katastrophe, was ich selber nicht so sehe. Uns hat das für den
Lehrplan 21 verantwortliche Gremium die Kompetenzorientierung einfach
untergejubelt – ohne Not. Ich hätte einen ähnlichen Lehrplan wie den der
Romandie vorgelegt und dann den Praktikern erklärt, man wolle noch weiter
Richtung Vergleichbarkeit und Monitoring gehen. Dafür brauche es Standards und
Tests. Hätte man das ausdiskutiert und einen Konsens erreicht, so wäre wenig
einzuwenden gewesen.
Amsler:
Sie werfen uns Mauschelei und Hinterzimmerpolitik vor. Ich kenne kein anderes
Projekt in der Schweiz und insbesondere im Bildungswesen, das derart breit und
sorgfältig über Jahre erarbeitet worden ist. 21 Kantone mit 21
Bildungsdirektoren verschiedenster politischer Couleur waren daran beteiligt,
und alle standen hinter dem Vorgehen und dem Ergebnis. Ich habe den ganzen
Prozess, den ich als Vorsitzender der Steuergruppe leitete, eins zu eins erlebt
und gesehen, wie intensiv Pädagogen der Hochschulen, Fachdidaktiker und
Lehrpersonen daran gearbeitet haben.
Und was erwidern Sie auf
die Kritik an den Kompetenzen?
Amsler:
Der Lehrplan ist konsequent kompetenzorientiert formuliert, aber nicht so weit
vom Plan d'études romand entfernt, wie Herr Pichard uns weismachen will. Wir
haben zudem immer betont, dass das Wissen die Basis des Ganzen bleibt. Es ist
doch klar, dass ich zuerst etwas in meinen Bildungsrucksack packen muss, bevor
ich es anwenden kann. Es braucht das Wissen, das Können und das Wollen. Guter
Unterricht muss die Kinder auch motivieren, etwas zu lernen. Nur die Verbindung
aller drei Komponenten führt zu gutem Lernen. Und genau das greift der Lehrplan
21 auf.
Pichard:
Ich gehöre sicher nicht zu den Leuten, die der alten Schule des Auswendiglernens
nachtrauern. Ich glaube einfach nicht an Masterpläne. Schulen müssen sich
selber entwickeln können, sie müssen sich selber reformieren, sich vernetzen
und voneinander lernen. Ich habe den Autoren des Lehrplans nie vorgeworfen, sie
würden das Wissen vernachlässigen. Meine Kritik betrifft etwas anderes: Der
traditionelle Lehrplan setzte Themen und Inhalte fest und enthielt durchaus
auch Könnenserwartungen. Er war für uns Lehrer die Lizenz zum Unterrichten.
Gestützt darauf haben wir die Kompetenzen formuliert und eingefordert. Je nach
Klasse wählten wir die geeignete Methode. Mit dem neuen Lehrplan wird die Sache
von hinten aufgegabelt. Es werden uns Kompetenzen vorgegeben, und es ist egal,
ob man das Textverständnis an einer Staubsauger-Anleitung oder an einem
Goethe-Text übt. Es geht nur um die Fähigkeit zur Anwendung. Das aber ist eine
Doktrin aus der Wirtschaft.
Sie verstehen den Lehrplan
also als direkte Anleitung zum Unterrichten. Ist er das überhaupt?
Amsler:
Nein, er gibt gemäss Harmonisierungsauftrag den Inhalt des Schulunterrichts
vor. Wir haben immer das Bild vom Kompass verwendet. Über den konkreten
Unterricht wird vielmehr bei der Gestaltung der Lehrmittel entschieden. Diese
sind matchentscheidend. Noch wichtiger – das wissen Sie, Herr Pichard, am
allerbesten – sind die Lehrerinnen und Lehrer. Ich traue ihnen sehr wohl zu,
selber zu entscheiden, wie sie das, was inhaltlich zu den Kompetenzen im
Lehrplan steht, im Unterricht konkret umsetzen. Drangsaliert werden sie dabei
vom Lehrplan nicht. Und natürlich haben das Gewerbe und die Wirtschaft gewisse
Ansprüche. Das ist auch richtig so, wenn sie dafür hinter der Volksschule
stehen. Diese bereitet auf einer sehr breiten Grundlage auf das Leben vor. Und
das bildet der Lehrplan 21 ab.
Pichard: Überall, wo die Kompetenzen eingeführt
wurden, in Baden-Württemberg, in Hessen oder in Hamburg, erleben wir eine Flut
von Lernstandserhebungen und Tests. Im Prinzip ist der Lehrplan 21 ein
Pisa-Test-Buch! Ich will kein Katastrophenszenario malen, aber ich erwarte Ehrlichkeit.
Als die Zürcher Bildungsdirektorin Regine Aeppli den Lehrplan 21 vorstellte,
nannte sie ihn ein «eindrückliches Pionierwerk und die grösste Erneuerung seit
der Einführung der Schulpflicht». Kurz darauf sagten Sie im Fernsehen, Herr
Amsler, es ändere sich gar nichts, es handle sich nicht um eine Schulreform.
Was gilt jetzt? Ich werfe der Politik vor, dass sie einfach vorwärtsschreitet,
ohne die zweifelnden Eltern und Lehrer anzuhören.
Es gehört zu den
anthropologischen Konstanten, dass Menschen Veränderungen nicht besonders
mögen. Einen Aufschrei von Teilen der Lehrerschaft gibt es fast bei jeder
Reform. Was ist denn eigentlich das Problem an den Standards?
Pichard:
Dass sie den Unterricht verändern! Als junger Lehrer habe ich das selbst
erlebt. Meine Realschüler hatten die Chance, ein zehntes Schuljahr zu
absolvieren, das aber den besten vorbehalten war. Sie mussten eine Prüfung
machen. Aus meiner Klasse fielen alle Prüflinge durch, bei meinem erfahrenen
Kollegen bestanden vier von fünf – das Resultat eines halbjährigen Test-Drills.
Drei Jahre später machte ich es auch so, und alle Angemeldeten bestanden.
Und nun sind Sie gegen
Tests?
Pichard:
Nicht grundsätzlich. Auch die Pisa-Studien der OECD sind nützlich. Sie zeigen
aber lediglich kleine Teilbereiche auf und sicher nicht die Wahrheit! Klar ist
nur: Mit dieser Angleichung an die internationalen Standards der OECD legen
Politiker wie Sie, Herr Amsler, den roten Teppich aus für eine eigentliche
Vermessungsindustrie, welche die Schule massiv verändern wird. Ich sträube mich
nicht gegen Veränderungen. Wandel ist wichtig, gerade in der Schule. Aber die
Frage darf doch erlaubt sein: weshalb die ganze Übung?
Amsler:
Ich bin überhaupt nicht OECD-gläubig. Aber dass ein gewisser Wettbewerb im
internationalen Umfeld spielt, ist doch klar. Die Schweiz kann in der Bildung
keinen isolationistischen Kurs verfolgen. Wir wollen aber kein «teaching to the
test», das haben wir immer betont. Ihre pädagogische Kapitulation vor dem neuen
Lehrplan überrascht mich doch sehr, Herr Pichard. Alles Böse wird da
hineinprojiziert. Aus der Lehrerschaft erhalte ich indes sehr viele positive
Signale.
Pichard:
Ich sage nur, die Politik hat zusammen mit Bildungsempirikern eine Lawine
losgetreten, die nun unaufhaltsam auf uns zurollt und die Schule begraben
könnte. Gehen Sie doch einmal ins Ausland, zum Beispiel nach Baden-Württemberg.
Dann sehen Sie, was für negative Folgen überbordende Kompetenzorientierung und
internationalisierte Tests haben. Die Schulen dort sind von einem Spitzenplatz
innerhalb Deutschlands ins hintere Mittelfeld abgerutscht.
Amsler:
In Baden-Württemberg spielen ganz andere Faktoren als ein neuer Lehrplan eine
Rolle. Unser Bildungssystem ist weltweit Spitzenklasse. So viel machen wir also
nicht falsch. Dennoch haben wir Reformbedarf: Wir leben in einer durch die
Digitalisierung dramatisch veränderten Welt und dürfen den Anschluss nicht
verpassen. Weshalb Sie den Lehrplan, den 21 Kantone gemeinsam mit
Wissenschaftern und Praktikern ausgearbeitet haben, so negativ sehen, ist mir
unverständlich. Es ist notabene eine stringente Weiterführung der kantonalen
Lehrpläne, von denen viele in den kommenden Jahren ohnehin hätten ersetzt
werden müssen.
Pichard: Ich kritisiere nicht diese Zusammenarbeit zwischen den
Kantonen! Was mich stört, ist der heilige Reformeifer, obwohl doch alle stets
betonen, wie gut unser Bildungssystem ist. Noch einmal: weshalb diese teure
Übung? Ich mache schon solche Tests, doch der Erkenntnisgewinn ist gleich null.
Dafür verdienen viele Leute in der Bildungsindustrie daran. Das Gleiche gilt
für die Lehrmittel. Es kommen immer mehr Lehrmittel auf den Markt, die mit dem
Lehrplan 21 kompatibel und damit verpflichtend sind und uns Lehrern genau
vorgeben, wie wir unterrichten und testen müssen. Das kostet und schränkt uns
massiv ein.
Amsler: Die Lehrmittelentwicklung ist tatsächlich «big business»
geworden. Aber heute wird auch nicht mehr mit der Schiefertafel und einem
einzigen Lehrbuch unterrichtet. Wir brauchen neue innovative und vor allem
interaktive Lernmöglichkeiten. Das ist aufwendig und teuer. Die Auswahl treffen
aber noch immer die kantonalen Lehrmittelkommissionen, die vor allem mit
Lehrpersonen besetzt sind. Zur Methodenfreiheit kann ich mich nur wiederholen:
Der Lehrplan ist bloss die Richtschnur. Die Lehrpersonen müssen entscheiden,
was für ihre Klasse am besten ist. Sie sind völlig frei in der
Unterrichtsgestaltung.
Pichard: Das tönt gut, ist aber nicht so. Im Kanton
Thurgau gibt es an der Schule bereits einen Kompetenzmanager. Auch durch die Einführung
von Schulleitern ist es hierarchischer geworden. Natürlich muss ich mich als
Lehrer heute schon an Regeln und Lehrpläne halten, das ist auch richtig so.
Aber ich will mich nicht methodisch einschränken lassen, weil es ein neues
Lehrmittel von mir verlangt.
Jetzt hoffen Sie auf die
Bevölkerung. Ist es sinnvoll, ein so komplexes Werk wie den Lehrplan 21 dem
Volk vorzulegen?
Pichard:
Wenn ich mir die Reformruinen der letzten Jahrzehnte anschaue, bin ich mir
nicht so sicher, ob die vermeintlichen Experten wirklich besser entscheiden. Es
geht bei einer solchen Abstimmung ja nicht darum, ob Pythagoras in der siebten
oder doch erst in der achten Klasse behandelt werden soll, sondern um
Grundsätzliches: Wollen wir Standardisierung, Vereinheitlichung und
flächendeckende Kompetenzorientierung? Das muss an der Urne entschieden werden,
sonst haben Politiker und Funktionäre einmal mehr im Alleingang eine Reform
eingeführt – wie bei «Bologna» an den Hochschulen.
Amsler:
Es gab eine breite Vernehmlassungsphase, auch wenn Sie das unentwegt
bestreiten! Doch zu den Initiativen: «Lehrpläne vors Volk», das tönt natürlich
attraktiv. Aber wir müssen aufpassen, dass wir unser politisches System nicht
ad absurdum führen. Nachdem es bereits unzählige Lehrpläne gegeben hat, die
allesamt nach altbewährtem Muster eingeführt worden sind, sollen nun plötzlich
kantonale Parlamente und die Bevölkerung darüber abschliessend entscheiden.
Hier braucht es ein Grundvertrauen gegenüber den Pädagogen und Fachdidaktikern,
die ein bildungspolitisch so wichtiges Projekt ausgearbeitet und für gut
befunden haben. Ich bin aber zuversichtlich, dass die Bevölkerung trotz dem
populistischen Titel im Sinne der Sache entscheiden wird. Die Schule darf nicht
zum Spielball der Politik werden.
Pichard: Das Ziel dieses Lehrplans ist die
Harmonisierung. Auf diesem Weg sind wir sehr weit. Schon jetzt sind 80 Prozent
der Lehrpläne identisch. Wenn ein Kanton beim Lehrplan 21 nicht mitmachen will,
ändert sich nichts, zumindest nicht an den Schulen. Es würde einfach ein
bisschen weniger massiv mit Kompetenzen gearbeitet. Verlierer wäre einzig die
Bildungsindustrie mit ihrer Vermessung von Leistungen und der Produktion neuer
Lehrmittel.
Ist die Phobie vor
Kompetenzen und Tests nicht übertrieben? An einem Podiumsgespräch meinte eine
Lehrerin kürzlich: «Wir machen, was wir müssen, aber wir machen es so, wie wir
es wollen.»
Amsler:
Das kann ich nur unterschreiben. Unsere Lehrpersonen werden es schon richten!
Die Schule ist träge, und zwar in einem positiven Sinn. Man muss nicht jede
flüchtige Zeiterscheinung mitmachen und gleich in den Unterricht einbauen. Die
gesellschaftliche Erwartung ist enorm, daher ist es wichtig, dass im
Schulbereich sauber evaluiert wird, was sinnvoll ist. Das haben wir mit dem
Lehrplan 21 getan.
Pichard: In der ersten Fassung des Lehrplans wimmelte es
noch von zeitgeistig-ideologisch gefärbten Kompetenzen, die glücklicherweise
wieder mehrheitlich entfernt worden sind. Aber wenn zum Beispiel überfachliche
Kompetenzen wie der Umgang mit Konsum mit einer Skala von 1 bis 10 gemessen und
beurteilt werden müssen, dann nähern wir uns einem totalitären Anspruch an
Bildung.
Amsler: Kinder haben es verdient, dass man sie nach ihren ganz
unterschiedlichen Kompetenzen fördert. Dass man auch Arbeitshaltung, soziale
und kommunikative Fähigkeiten beurteilt, mögen nun einige kritisieren. Ich bin
aber der Überzeugung, dass die Lehrpersonen das auf eine sinnvolle Weise
handhaben. Es geht dabei ja nicht nur um die Notengebung.
Pichard: Die Frage
ist doch: Wo hört die Förderung auf, und wo beginnt die psychometrische
Vermessung? Amsler: Die Arbeit im Klassenzimmer ist anspruchsvoll. Die Unterschiede
zwischen den Kindern sind je nach Gemeinde massiv. Und die Gesellschaft
erwartet immer mehr von der Schule – gerade in Bezug auf Erziehung und
Integration. Dafür können Sie aber ganz sicher nicht den Lehrplan 21
verantwortlich machen.
Interview: Walter Bernet
und Marc Tribelhorn
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen