Der neue Lehrplan beruht auf einer an sich bestechenden Grundidee, nämlich
dem Kompetenzbegriff: den Schülern soll nicht Wissen beigebracht werden, sondern die Kompetenz, solches Wissen in eigener Regie zu erwerben. Leider macht der Lehrplan 21 daraus ein
hoffnungsloses Kuddelmuddel mit hunderten von „Kompetenzen“.
Schafft der neue Lehrplan die Grundlagen für selbständiges Sprachenlernen? 4.10. von Peter J. Huber
Diskussionen über selbstorganisiertes Lernen (SOL) sind keineswegs neu. Der Lehrplan 21 stützt sich dabei auf die abstrakte
philosophische Doktrin des Konstruktivismus.
Aber ist die im Lehrplan und in diversen schweizerischen Schulversuchen propagierte
Version des SOL auf dem Boden der Realität oder in einem Wolkenkuckucksheim angesiedelt? Mir scheint letzteres der Fall zu sein.
Am konkreten Grundwissen führt
kein Weg vorbei
Die nachstehende, bereits über ein halbes Jahrhundert alte Geschichte ist
aufschlussreich. Sie zeigt am Beispiel
des Sprachenlernens eine notwendige Voraussetzung für erfolgreiches eigenständiges
Lernen, nämlich der vorgängige Erwerb eines konkreten Grundwissens. Insbesonders sollte für einen späteren selbstständigen
Spracherwerb der Schüler beim Schulabschluss solide Kenntnisse der
Muttersprache und gute Kenntnisse einer (irgend einer!) Fremdsprache als
Kontrast besitzen.
Bereitet der Lehrplan 21 entsprechende Voraussetzungen für erfolgreiches
selbstorganisiertes Lernen von Sprachen (und Anderem)? Ich behaupte: Nein! Ganz im Gegenteil! Ein konstruktivistisch-ideologisch korrekter
Lernbegleiter wirft die Kinder ins Wasser, mit der Aufforderung: Schwimmt! Die Einen lernen den Hundstapp, die Andern
ertrinken.
Im Mai 1964 traf sich eine Gruppe von Linguisten und Sprachlehrern zu
einer Konferenz der Modern Language
Association of America, um die als
zentral wichtig erachtete Frage zu diskutieren, wie der Sprachunterricht eine
Person darauf vorbereiten sollte, eine Fremdsprache eigenständig zu lernen.
Insbesonders sollte der Unterricht mit
dem doppelten Zweck organisiert werden, dass du als Schüler nicht bloss eine
bestimmte Sprache lernst, sondern dass du dabei Techniken erwirbst, die du bei
einem späteren Studium anderer Sprachen anwenden kannst. Der 3-seitige Schlussbericht ist publiziert
in PMLA, September, Part II, 1965, p.
A-8. Er ist sehr sorgfältig redigiert
und dürfte nach wie vor eine der besten Zusammenfassungen sein, auf was es beim
eigenständigen Sprachenlernen ankommt.
Die erste Fremdsprache sorgfältig
einführen, die zweite vier Jahre später
Der Schlussbericht der Forschergruppe enthält einen längeren Diskurs
über die Mechanismen des Sprachenlernens.
Die zentrale Schlussfolgerung beginnt mit den bemerkenswerten Sätzen:
„Bereite für die Zukunft vor.
Wir sagten anfangs, dass du jetzt nicht sicher wissen kannst, welche
Fremdsprache schliesslich für dich die wichtigste sein wird. Aber wenn du eine Fremdsprache in der Schule wirksam lernst, werden dir die
erworbenen Fähigkeiten beim Erlernen der nächsten Fremdsprache sehr helfen,
wann und wo du sie lernst.“
Einige Randbemerkungen sind interessant:
Der muttersprachliche Unterricht sollte soweit fortgesetzt werden, bis
der Schüler in dieser Sprache sattelfest ist („securely literate“). Die Instruktion in einer zweiten Fremdsprache sollte in einer Schule
normalerweise nicht beginnen, bevor eine Sequenz von wenigstens vier Jahren in
der ersten Fremdsprache absolviert ist.
Das dornige Problem der Kinder, deren Muttersprache von der
Umgangssprache verschieden ist, wird kurz angesprochen.
Ein zwölfjähriger Schüler lernt eine
Sprache anders als ein vierjähriges Kind
Das an William G. Moulton, Professor für Linguistik in Princeton, anvertraute
Kapitel über Linguistik gedieh zur separaten, nach wie vor äusserst lesenswerten
klassischen Einführung A
Linguistic Guide to Language Learning (1966). (Er schrieb das Büchlein übrigens während
eines Sabbaticals in der Schweiz, wo er über das Vokalsystem der Schweizer
Dialekte arbeitete. Zu Lebzeiten war
Moulton die internationale Kapazität
für schweizerdeutsche Dialekte.)
Moulton macht unter anderem darauf aufmerksam, dass man als junges Kind (durch
Immersion und mit viel Zeitaufwand!) fremde Sprachen rasch lernt, aber auch rasch
wieder vergisst. Seine Kommentare zu den
Änderungen im Sprachenlernen, die sich
bei den Kindern im Alter von 10-12 Jahren vollziehen, sind höchst relevant
in Bezug auf die hiesigen Diskussionen über frühen Fremdsprachenunterricht, und
ich möchte sie als Fussnote wörtlich
zitieren. [1]
Ein zum Scheitern verurteiltes
Kurzfutterkonzept
Die wenigen, in schweizerischen Lehrplänen für den frühzeitigen
Fremdsprachunterricht vorgesehenen Schulstunden sind angesichts dieser
Einsichten blosser Zeitverschleiss – die Kinder lernen zu wenig, und sie
vergessen das Gelernte gleich wieder.
Mehraufwand für den Unterricht in der Umgangssprache würde sich besser
auszahlen. Der wohl einzig verbleibende Vorteil
von Frühfranzösisch (oder Frühenglisch) ist, dass man vor der Pubertät
Fremdsprachen akzentfrei lernt – zu diesem Ziel müssten die Lehrpersonen aber selber
akzentfrei sprechen können, was bei den deutsch-schweizerischen Lehrern nicht
der Fall ist!
Wir haben übrigens 1970/71 an
einer Schule in Princeton ein lokales Experiment mit Frühfranzösisch miterlebt,
es wurde nach zwei Jahren abgebrochen, das Kosten-Nutzen-Verhältnis stimmte nicht. Im Gegensatz zu zentral, von den EDK oder Bundesrat
Berset, verordneten Unterfangen sind lokale Experimente bei einem Misserfolg
leichter abzubrechen.
[1] One's first reaction to this change which comes over
children during their early teens is one of regret. How sad that the young child's marvelous
language learning ability is now lost forever! Indeed it is sad; but it is also
probably necessary and desirable.
[…] To compensate for the loss
of perfect language learning ability, the transition from childhood to early
adulthood fortunately brings with it two great gains. First, though the young adult may have to
work harder to learn a foreign language, he also remembers it much better. With small children it is a case of
"easy come, easy go." The six-year-old who learned Dutch so
marvelously during that half year his family was in Holland may have forgotten
nearly every word of Dutch by the time another six months have rolled by. Or, if he stays in Holland without his
family, he will soon forget every bit of his English. Not so with a sixteen-year-old. He, too, can of course forget the French
which he laboriously learned in high school; but he forgets it at a far slower
rate, and some of it will stick with him forever. As for his native English, only under the
most unusual circumstances will he ever forget enough to hamper his speaking it
fluently. (Moulton, p. 4-5)
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