18. November 2016

Schafft der neue Lehrplan die Grundlagen für selbständiges Sprachenlernen?

Der neue Lehrplan beruht auf einer an sich bestechenden Grundidee, nämlich dem Kompetenzbegriff: den Schülern soll nicht Wissen beigebracht werden, sondern die Kompetenz, solches Wissen in eigener Regie zu erwerben.  Leider macht der Lehrplan 21 daraus ein hoffnungsloses Kuddelmuddel mit hunderten von „Kompetenzen“.
Schafft der neue Lehrplan die Grundlagen für selbständiges Sprachenlernen? 4.10. von Peter J. Huber

Diskussionen über selbstorganisiertes Lernen (SOL) sind keineswegs neu.  Der Lehrplan 21 stützt sich dabei auf die abstrakte philosophische Doktrin des Konstruktivismus.  Aber ist die im Lehrplan und in diversen schweizerischen Schulversuchen propagierte Version des SOL auf dem Boden der Realität oder in einem Wolkenkuckucksheim angesiedelt?  Mir scheint letzteres der Fall zu sein.
Am konkreten Grundwissen führt kein Weg vorbei
Die nachstehende, bereits über ein halbes Jahrhundert alte Geschichte ist aufschlussreich.  Sie zeigt am Beispiel des Sprachenlernens eine notwendige Voraussetzung für erfolgreiches eigenständiges Lernen, nämlich der vorgängige Erwerb eines konkreten Grundwissens.  Insbesonders sollte für einen späteren selbstständigen Spracherwerb der Schüler beim Schulabschluss solide Kenntnisse der Muttersprache und gute Kenntnisse einer (irgend einer!) Fremdsprache als Kontrast besitzen. 
Bereitet der Lehrplan 21 entsprechende Voraussetzungen für erfolgreiches selbstorganisiertes Lernen von Sprachen (und Anderem)?  Ich behaupte: Nein!  Ganz im Gegenteil!  Ein konstruktivistisch-ideologisch korrekter Lernbegleiter wirft die Kinder ins Wasser, mit der Aufforderung: Schwimmt!  Die Einen lernen den Hundstapp, die Andern ertrinken.
Im Mai 1964 traf sich eine Gruppe von Linguisten und Sprachlehrern zu einer Konferenz der Modern Language Association of America, um die als zentral wichtig erachtete Frage zu diskutieren, wie der Sprachunterricht eine Person darauf vorbereiten sollte, eine Fremdsprache eigenständig zu lernen.  Insbesonders sollte der Unterricht mit dem doppelten Zweck organisiert werden, dass du als Schüler nicht bloss eine bestimmte Sprache lernst, sondern dass du dabei Techniken erwirbst, die du bei einem späteren Studium anderer Sprachen anwenden kannst.  Der 3-seitige Schlussbericht ist publiziert in PMLA, September, Part II, 1965, p. A-8. Er ist sehr sorgfältig redigiert und dürfte nach wie vor eine der besten Zusammenfassungen sein, auf was es beim eigenständigen Sprachenlernen ankommt.
Die erste Fremdsprache sorgfältig einführen, die zweite vier Jahre später
Der Schlussbericht der Forschergruppe enthält einen längeren Diskurs über die Mechanismen des Sprachenlernens. 
Die zentrale Schlussfolgerung beginnt mit den bemerkenswerten Sätzen:
Bereite für die Zukunft vor.  Wir sagten anfangs, dass du jetzt nicht sicher wissen kannst, welche Fremdsprache schliesslich für dich die wichtigste sein wird.  Aber wenn du eine Fremdsprache in der Schule wirksam lernst, werden dir die erworbenen Fähigkeiten beim Erlernen der nächsten Fremdsprache sehr helfen, wann und wo du sie lernst.“
Einige Randbemerkungen sind interessant:  Der muttersprachliche Unterricht sollte soweit fortgesetzt werden, bis der Schüler in dieser Sprache sattelfest ist („securely literate“).               Die Instruktion in einer zweiten Fremdsprache sollte in einer Schule normalerweise nicht beginnen, bevor eine Sequenz von wenigstens vier Jahren in der ersten Fremdsprache absolviert ist.  Das dornige Problem der Kinder, deren Muttersprache von der Umgangssprache verschieden ist, wird kurz angesprochen.
Ein zwölfjähriger Schüler lernt eine Sprache anders als ein vierjähriges Kind
Das an William G. Moulton, Professor für Linguistik in Princeton, anvertraute Kapitel über Linguistik gedieh zur separaten, nach wie vor äusserst lesenswerten klassischen Einführung         A Linguistic Guide to Language Learning (1966).  (Er schrieb das Büchlein übrigens während eines Sabbaticals in der Schweiz, wo er über das Vokalsystem der Schweizer Dialekte arbeitete.  Zu Lebzeiten war Moulton die internationale Kapazität für schweizerdeutsche Dialekte.)
Moulton macht unter anderem darauf aufmerksam, dass man als junges Kind (durch Immersion und mit viel Zeitaufwand!) fremde Sprachen rasch lernt, aber auch rasch wieder vergisst.  Seine Kommentare zu den Änderungen im Sprachenlernen, die sich bei den Kindern im Alter von 10-12 Jahren vollziehen, sind höchst relevant in Bezug auf die hiesigen Diskussionen über frühen Fremdsprachenunterricht, und ich möchte sie als Fussnote wörtlich zitieren. [1]
Ein zum Scheitern verurteiltes Kurzfutterkonzept
Die wenigen, in schweizerischen Lehrplänen für den frühzeitigen Fremdsprachunterricht vorgesehenen Schulstunden sind angesichts dieser Einsichten blosser Zeitverschleiss – die Kinder lernen zu wenig, und sie vergessen das Gelernte gleich wieder.  Mehraufwand für den Unterricht in der Umgangssprache würde sich besser auszahlen.  Der wohl einzig verbleibende Vorteil von Frühfranzösisch (oder Frühenglisch) ist, dass man vor der Pubertät Fremdsprachen akzentfrei lernt – zu diesem Ziel müssten die Lehrpersonen aber selber akzentfrei sprechen können, was bei den deutsch-schweizerischen Lehrern nicht der Fall ist!
 Wir haben übrigens 1970/71 an einer Schule in Princeton ein lokales Experiment mit Frühfranzösisch miterlebt, es wurde nach zwei Jahren abgebrochen, das Kosten-Nutzen-Verhältnis stimmte nicht.  Im Gegensatz zu zentral, von den EDK oder Bundesrat Berset, verordneten Unterfangen sind lokale Experimente bei einem Misserfolg leichter abzubrechen.



[1] One's first reaction to this change which comes over children during their early teens is one of regret.  How sad that the young child's marvelous language learning ability is now lost forever! Indeed it is sad; but it is also probably necessary and desirable.   […]   To compensate for the loss of perfect language learning abili­ty, the transition from childhood to early adulthood fortunately brings with it two great gains.  First, though the young adult may have to work harder to learn a foreign language, he also remembers it much better.  With small children it is a case of "easy come, easy go." The six-year-old who learned Dutch so marvelously during that half year his family was in Holland may have forgotten nearly every word of Dutch by the time another six months have rolled by.  Or, if he stays in Holland without his family, he will soon forget every bit of his English.  Not so with a sixteen-year-old.  He, too, can of course forget the French which he laboriously learned in high school; but he forgets it at a far slower rate, and some of it will stick with him forever.  As for his native English, only under the most unusual circumstances will he ever forget enough to hamper his speaking it fluently. (Moulton, p. 4-5)




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