10. November 2016

Religionsunterricht in Zeiten des neuen Lehrplans

Wie sollen Ethik und Religion in der Volksschule unterrichtet werden? Mit dem Lehrplan 21 gibt es in den Kantonen diverse Sonderlösungen. Die Beziehung zwischen Schule und Kirche verläuft dabei nicht reibungslos.
Vom Verdunsten religiöser Bildung, NZZ, 10.11. von Jörg Krummenacher


Die Angehörigen der Landeskirchen, der römisch-katholischen, christkatholischen und evangelisch-reformierten Kirche, machen heute in der Schweiz weniger als zwei Drittel der Bevölkerung aus. Der Anteil Konfessionsloser nimmt markant zu. Die Veränderungen finden ihren Niederschlag im neuen Lehrplan 21, der in den meisten Kantonen kurz vor der Umsetzung steht. «Immer mehr Jugendliche besuchen keinen kirchlichen Religionsunterricht», heisst es in den Unterlagen dazu. Um dennoch allen Volksschülern ein Grundwissen über das Christentum und andere Weltreligionen vermitteln zu können, wurde das Fach «Ethik, Religionen, Gemeinschaft», kurz: ERG, eingeführt. Religionspädagoge Kuno Schmid von der Universität Luzern spricht von einem «modernen Gefäss» für das, was einst unter dem Titel biblische Geschichte gelehrt wurde.
St. Galler Kritik an Bern
Religionsbedingte Konflikte an Schulen wurden in jüngster Zeit vor allem in Zusammenhang mit muslimischen Glaubensgemeinschaften publik – Stichwort: Kopftuch. Kaum öffentlich zur Debatte, auch nicht im Rahmen der politischen Opposition gegen den Lehrplan 21, stand hingegen die Rolle, welche die Landeskirchen beim neuen Fach ERG spielen sollen. Dabei reizen die Kantone die Vorgaben des Lehrplans im Bereich Ethik und Religion völlig unterschiedlich aus.
In reformiert geprägten Kantonen wie Zürich und Bern sowie in der Westschweiz mit Ausnahme des Kantons Wallis bleibt die Verantwortung für ERG allein bei den Schulen. Das laizistische Prinzip, Staat und Kirche gänzlich zu trennen, führte indes zu Kritik durch die Kirchen. Sie bemängeln, dass die religiöse Bildung zu oft auf der Strecke bleibe. So übte das Bistum St. Gallen explizit Kritik am Kanton Bern: Dort zeige sich, «dass religiöse Bildung im Rahmen eines Fachbereichunterrichts gewöhnlich wenig unterrichtet wird oder dann aber von missionarischen Lehrpersonen in einer eher unerwünschten Art».
Wenig mit der Kritik anfangen kann allerdings Erwin Sommer, der Leiter des bernischen Amts für Volksschule. Bern mache mit der Vermittlung religiöser Bildung gute Erfahrungen und habe diesbezüglich keine Reklamationen.
Die meisten Ost- und Zentralschweizer Kantone, die den Lehrplan 21 auf das kommende Schuljahr einführen werden, bevorzugen ihrerseits ein Miteinander von kirchlich-konfessionellem und bekenntnisunabhängigem Religionsunterricht. Dass das enge Mitwirken der Kirchen nicht unproblematisch ist, zeigt sich etwa am Beispiel des sexualkundlichen Unterrichts: Auf der Oberstufe ist dieser ebenfalls ins Fach ERG integriert. Die katholische Kirche beispielsweise kann hier aber gar nicht völlig neutral und bar ideologischer Präferenzen sein.
Schüler haben die Wahl
Dass die Ausgestaltung von ERG im neuen Lehrplan auch zwischen den Kirchen nicht reibungslos verlief, zeigte sich im Kanton St. Gallen. Dort nahm, als sich Kirchen und Gemeinden in Differenzen verstrickten, Erziehungsdirektor Stefan Kölliker das Heft in die Hand und legte ein eigenes Modell auf den Tisch. Es räumt den Volksschülern und ihren Eltern ab 2017 – unabhängig ihres Glaubens – eine Wahlmöglichkeit ein, wie sie sonst nirgends in der Schweiz besteht: Möglich ist entweder der Besuch des Fachs ERG Kirchen, das ausschliesslich von diesen unterrichtet und finanziert wird, oder des Fachs ERG Schule, für das die ordentlichen Lehrer in den Schulgemeinden verantwortlich zeichnen. Auch in St. Gallen stand indes eine Variante zur Diskussion, bei der die Kirchen vom Fach ERG abgekoppelt worden wären. Doch sie wehrten sich, wissend um ihren schwindenden Einfluss in der Gesellschaft. Es müsse damit gerechnet werden, schrieb das Bistum St. Gallen, «dass die religiöse Bildung in der Volksschule verdunstet». Die Regierung stellte sich hinter die Kirchen. Diese hätten «grosses Verdienst als Partner in der Schule», sagt Alexander Kummer, Leiter des Amts für Volksschule.
Insgesamt, ergänzt Religionspädagoge Kuno Schmid, stärke das Fach ERG im Lehrplan 21 den Bereich religiöse Bildung. Er stellt fest, dass die Motivation der Lehrpersonen wieder zugenommen habe. Sie müssen sich indes umstellen. Es genüge nicht mehr, sagt Schmid, die Schüler moralisch erziehen zu wollen. Verlangt sei heute ein gemeinsames Reflektieren über ethische Normen.


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