Der Kanton Thurgau versucht mit
rechtlich fragwürdigen Mitteln, den Lehrplan 21 durchzusetzen. Eltern sprechen
von «Gehirnwäsche» durch die Behörden. Lehrern, die sich wehren, wird das Maul
verboten.
Nein zu einer guten Volksschule, Weltwoche, 17.11. von Daniela Niederberger
Wenn es
um den Lehrplan 21 geht, werden nette Schulleiterinnen und brave
Schulpräsidenten plötzlich zu kleinen Machiavellis. Im Thurgau wird am 27.
November über das umstrittene Regelwerk abgestimmt, das selbständiges
Lernen in den Vordergrund stellt und die Lehrer zu Coaches macht. Mit der
Initiative «Ja zu einer guten Thurgauer Volksschule», über die abgestimmt wird,
wollen Kritiker den Lehrplan 21 verhindern. Für die Schulbehörden steht viel
auf dem Spiel, die Einführung des neuen Lehrplans ist bereits geplant.
Entsprechend werden Eltern und widerborstige Lehrer bearbeitet.
Eine
Mutter aus Pfyn ging wie gewohnt an einen Elternabend der Primarschule. «Ich
habe vier Kinder und war schon ein paarmal dabei. Meistens geht es um den
Schulweg und solche Dinge. Aber nein: Es ging Vollgas um den Lehrplan 21. Die
reinste Gehirnwäsche! Der Schulpräsident sprach sowie der Schulleiter.» Eine
andere Mutter, die ebenfalls da war, sagt: «Überall hingen Plakate, es war wie
an einer Werbeveranstaltung. Uns wurde ‹verklickert›, dass die Lehrer im Prinzip
schon jetzt nach Lehrplan 21 unterrichteten und sie sich das nicht mehr nehmen
lassen wollten.»
«Einschüchternde Wirkung»
Ähnlich
nichtsahnend begab sich eine Mutter aus Weinfelden an einen Elternabend. Dort
traten ebenfalls die Schuloberen auf und «schwärmten, was der Lehrplan 21 für
eine tolle Sache sei und man solle doch bitte dafür abstimmen. Die Lehrer
stünden alle dahinter. Mir lüpfte es schier den Hut. Ich fühlte mich genötigt.
Und dass der Schulleiter die Meinung aller Lehrer vertrat, fand ich eine
Frechheit. Ich glaube nicht, dass alle Lehrer dahinterstehen.» Für die Eltern
gab es keine Gelegenheit, sich zu äussern.
Den
Kindern werden Flyer verteilt, die sie zu Hause abgeben sollen, oder, wie in
Rickenbach bei Wil, Schulblätter, auf denen vorne gelb umrahmt prangt:
«Bildungsbremse – Nein zur schädlichen Volksinitiative». Auf zwei Seiten stellt
die Schulbehörde ihren Standpunkt dar: Die Schüler müssten sich veränderten
gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen «flexibel und kompetent»
anpassen. Zudem habe man schon sehr viel Geld ausgegeben für den Lehrplan 21.
Die
Gegenseite spricht von «einseitiger Propaganda». Der Berufsschullehrer Lutz
Wittenberg gehört zum Initiativkomitee. Dass die Schulbehörden an Elternabenden
und via Kinder die Eltern direkt bearbeiten, empfindet er als «undemokratisch»,
denn: «Wir haben diese Kanäle nicht.»
Schulpräsident
Leo Haas verteidigt die Stellungnahme in Schulblättern: «Das ist legal. Wir
sind ja direkt betroffen.» Die Abstimmung sei eine «matchentscheidende» Sache.
Auch Felix Züst, Präsident des Verbandes Thurgauer Schulgemeinden, glaubt
nicht, dass unzulässige Propaganda betrieben wird: «In der Abstimmung über den
Atomausstieg machen die Betreiber der AKW auch ihren Einfluss geltend. Es ist nur
aussergewöhnlich, weil man das von der Schule nicht gewohnt ist.»
Die
Eltern bearbeiten und dafür sorgen, dass sich unbotmässige Lehrer still
verhalten: Das scheint die zweispurige Strategie zu sein. Eine
Primarschullehrerin schrieb einen Leserbrief pro Initiative. Da fragte die
Schulpräsidentin allen Ernstes, ob die Lehrerin das überhaupt dürfe. Die
Lehrerin, die nicht mit Namen zitiert werden möchte: «Ich war kürzlich an einer
Podiumsdiskussion in Bottighofen. Da stand ein Lehrer auf und sagte, es störe
ihn, dass man die Lehrer in einem Mail gebeten habe, sich nicht öffentlich zur
Initiative zu äussern.» Sie selber spürt einen «subtilen Druck»: «Wir können in
den Pausen nicht mehr frei reden, seit die Schulleiter auch immer auf dem
Pausenplatz sind.» Die Lehrer finden Flyer und Kleber in ihren Fächern vor.
«Vielen stösst diese Beeinflussung sauer auf», sagt die Lehrerin.
«Im
Thurgau sagt kaum ein Lehrer seine Meinung», sagt Lutz Wittenberg vom
Unterstützungskomitee. «Wir fragten Lehrpersonen, die hinter uns stehen, an, ob
wir sie in den Abstimmungsunterlagen zitieren dürften. Die Reaktion: ‹Mit
meinem Namen? Sicher nicht! Ich muss da noch arbeiten.›»
Die
Schulbehörden behaupten gerne, dass alle Lehrer hinter ihnen stünden. Eine
andere Primarlehrerin erzählt: «Der Schulpräsident wollte auf der Homepage
etwas gegen die Initiative posten, und zwar ‹im Namen der Lehrpersonen›. Doch
kein Einziger von uns wurde gefragt. Ich ging zur Schulleiterin und sagte, dass
ich das nicht wolle.»
Ist das
alles rechtens? Andreas Glaser ist Staatsrechtsprofessor an der Universität
Zürich und Experte für Demokratiefragen. «Die Schulbehörden haben ein grösseres
Eigeninteresse und dürfen eine Stellungnahme abgeben. Diese muss sachlich und
verhältnismässig sein. Im konkreten Fall sehe ich Probleme.» Zum Schulblatt im
Thek sagt er: «Das Kind als Kanal zu benutzen, um die Eltern zu erreichen, ist
schlechter Stil. Ist die Information sachlich, geht es, auch wenn ich es als
grenzwertig ansehe.»
Wenn an
einem Elternabend von Schulvertretern «eine flammende Rede gehalten wird und
der Raum mit Plakaten vollgeklebt ist, so ist das nicht mehr verhältnismässig.
Das hat eine einschüchternde Wirkung und dient nicht einem ausgewogenen
Meinungsaustausch. Hier wird die Erforderlichkeit überschritten.»
Und das
Mail an die Lehrer? «Lehrer haben zwar eine Treuepflicht ihrem Arbeitgeber
gegenüber. Dass sie sich aber als Privatperson nicht mehr öffentlich äussern
dürfen, geht zu weit. Man könnte ihnen jedoch verbieten, sich als Vertreter der
Schule zu äussern.»
Sie mögen
sich im rechtlichen Graubereich bewegen, aber schlau sind die Behörden allemal.
Schlau war, in den Lenkungsausschuss zur Installierung des Lehrplans 21 die
wichtigsten Vertreter des Lehrerverbandes, des Verbandes der Schulpräsidenten
und des Schulleiterverbandes zu berufen. «Die stehen jetzt Gewehr bei Fuss»,
sagt Lutz Wittenberg. Das erklärt, weshalb die Lehrergewerkschaft Bildung
Thurgau fast geschlossen gegen die Initiative ist.
Rückschritt ins letzte Jahrhundert
Der
Lehrplan 21 möchte, dass die Schülerinnen und Schüler sich ihr Wissen zu einem
guten Teil selbst erarbeiten, im eigenen Tempo. Die Lehrer bieten
Hilfestellungen und einen «offenen Unterricht», also keinen Frontalunterricht.
Alle drei bis vier Jahre sollten die Schüler festgelegte Ziele erreicht haben.
Eine
Lehrerin, die seit 25 Jahren unterrichtet, sagt: «Das ist die totale
Überforderung. Ich höre oft von Eltern, dass die Kinder vor ihren Wochenplänen
sitzen und nicht wissen, was sie machen müssen.»
Sie
befürchtet, dass die Schere zwischen den Schülern noch mehr aufgeht. «In einer
zweiten Klasse arbeitet der eine mit dem Erstklassstoff, ein anderer ist schon
auf Viertklassniveau. Für einen Lehrer ist die individuelle Zuwendung bei
zwanzig Schülern nicht möglich. Jeder Praktiker weiss das.» Zudem wüssten die
Eltern nicht mehr, wo ihr Kind stehe.
Deshalb
wollen die Initianten Jahrgangsziele einführen. Für die Propheten des Lehrplans
21 ein Rückschritt ins letzte Jahrhundert. Felix Züst: «Die Kinder sind
individueller, und die Gesellschaft ist heterogener als früher. Auch aufgrund
der Reife ist es nicht machbar, dass Ende Jahr alle auf dem gleichen Stand
sind.»
Die
langjährige Lehrerin entgegnet: «Wir Lehrer arbeiten ohnehin alle mit
Jahreszielen.» Zwar gibt es diese offiziell seit 1996 im Kanton Thurgau nicht
mehr. Sie wurden durch Stufenziele ersetzt: Ende dritter und Ende sechster
Klasse müssen die Schüler dieses oder jenes können. Doch: «Wir teilten im Team
den Stoff auf die einzelnen Jahre auf. In jeder Schule gibt es einen solchen
selbstgemachten Lehrplan. Sonst könnte man nicht vernünftig arbeiten.»
Manche
Lehrerinnen und Lehrer glauben, dass die Sache mit dem Lehrplan 21 nicht so
heiss gegessen wird, wie sie gekocht wurde, und sie so weitermachen können wie
bisher. Doch Obacht! Die Thurgauer Schulleiter haben jetzt den «Classroom
Walkthrough». Ein neues «Führungsinstrument zur nachhaltigen
Unterrichtsentwicklung, das jährlich zehn bis fünfzehn Unterrichtsbesuche durch
den Schulleiter à sieben bis zehn Minuten vorsieht», wie die Thurgauer Zeitung
jüngst berichtete. Kontrolle ist alles.
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