18. November 2016

Gehirnwäsche und Maulkörbe im Thurgau

Der Kanton Thurgau versucht mit rechtlich fragwürdigen Mitteln, den Lehrplan 21 durchzusetzen. Eltern sprechen von «Gehirnwäsche» durch die Behörden. Lehrern, die sich wehren, wird das Maul verboten. 
Nein zu einer guten Volksschule, Weltwoche, 17.11. von Daniela Niederberger


Wenn es um den Lehrplan 21 geht, werden nette Schulleiterinnen und brave Schulpräsidenten plötzlich zu kleinen Machiavellis. Im Thurgau wird am 27.   November über das umstrittene Regelwerk abgestimmt, das selbständiges Lernen in den Vordergrund stellt und die Lehrer zu Coaches macht. Mit der Initiative «Ja zu einer guten Thurgauer Volksschule», über die abgestimmt wird, wollen Kritiker den Lehrplan 21 verhindern. Für die Schulbehörden steht viel auf dem Spiel, die Einführung des neuen Lehrplans ist bereits geplant. Entsprechend werden Eltern und widerborstige Lehrer bearbeitet.

Eine Mutter aus Pfyn ging wie gewohnt an einen Elternabend der Primarschule. «Ich habe vier Kinder und war schon ein paarmal dabei. Meistens geht es um den Schulweg und solche Dinge. Aber nein: Es ging Vollgas um den Lehrplan 21. Die reinste Gehirnwäsche! Der Schulpräsident sprach sowie der Schulleiter.» Eine andere Mutter, die ebenfalls da war, sagt: «Überall hingen Plakate, es war wie an einer Werbeveranstaltung. Uns wurde ‹verklickert›, dass die Lehrer im Prinzip schon jetzt nach Lehrplan 21 unterrichteten und sie sich das nicht mehr nehmen lassen wollten.»

«Einschüchternde Wirkung»
Ähnlich nichtsahnend begab sich eine Mutter aus Weinfelden an einen Elternabend. Dort traten ebenfalls die Schuloberen auf und «schwärmten, was der Lehrplan 21 für eine tolle Sache sei und man solle doch bitte dafür abstimmen. Die Lehrer stünden alle dahinter. Mir lüpfte es schier den Hut. Ich fühlte mich genötigt. Und dass der Schulleiter die Meinung aller Lehrer vertrat, fand ich eine Frechheit. Ich glaube nicht, dass alle Lehrer dahinterstehen.» Für die Eltern gab es keine Gelegenheit, sich zu äussern.

Den Kindern werden Flyer verteilt, die sie zu Hause abgeben sollen, oder, wie in Rickenbach bei Wil, Schulblätter, auf denen vorne gelb umrahmt prangt: «Bildungsbremse – Nein zur schädlichen Volksinitiative». Auf zwei Seiten stellt die Schulbehörde ihren Standpunkt dar: Die Schüler müssten sich veränderten gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen «flexibel und kompetent» anpassen. Zudem habe man schon sehr viel Geld ausgegeben für den Lehrplan 21.

Die Gegenseite spricht von «einseitiger Propaganda». Der Berufsschullehrer Lutz Wittenberg gehört zum Initiativkomitee. Dass die Schulbehörden an Elternabenden und via Kinder die Eltern direkt bearbeiten, empfindet er als «undemokratisch», denn: «Wir haben diese Kanäle nicht.»

Schulpräsident Leo Haas verteidigt die Stellungnahme in Schulblättern: «Das ist legal. Wir sind ja direkt betroffen.» Die Abstimmung sei eine «matchentscheidende» Sache. Auch Felix Züst, Präsident des Verbandes Thurgauer Schulgemeinden, glaubt nicht, dass unzulässige Propaganda betrieben wird: «In der Abstimmung über den Atomausstieg machen die Betreiber der AKW auch ihren Einfluss geltend. Es ist nur aussergewöhnlich, weil man das von der Schule nicht gewohnt ist.»

Die Eltern bearbeiten und dafür sorgen, dass sich unbotmässige Lehrer still verhalten: Das scheint die zweispurige Strategie zu sein. Eine Primarschullehrerin schrieb einen Leserbrief pro Initiative. Da fragte die Schulpräsidentin allen Ernstes, ob die Lehrerin das überhaupt dürfe. Die Lehrerin, die nicht mit Namen zitiert werden möchte: «Ich war kürzlich an einer Podiumsdiskussion in Bottighofen. Da stand ein Lehrer auf und sagte, es störe ihn, dass man die Lehrer in einem Mail gebeten habe, sich nicht öffentlich zur Initiative zu äussern.» Sie selber spürt einen «subtilen Druck»: «Wir können in den Pausen nicht mehr frei reden, seit die Schulleiter auch immer auf dem Pausenplatz sind.» Die Lehrer finden Flyer und Kleber in ihren Fächern vor. «Vielen stösst diese Beeinflussung sauer auf», sagt die Lehrerin.

«Im Thurgau sagt kaum ein Lehrer seine Meinung», sagt Lutz Wittenberg vom Unterstützungskomitee. «Wir fragten Lehrpersonen, die hinter uns stehen, an, ob wir sie in den Abstimmungsunterlagen zitieren dürften. Die Reaktion: ‹Mit meinem Namen? Sicher nicht! Ich muss da noch arbeiten.›»

Die Schulbehörden behaupten gerne, dass alle Lehrer hinter ihnen stünden. Eine andere Primarlehrerin erzählt: «Der Schulpräsident wollte auf der Homepage etwas gegen die Initiative posten, und zwar ‹im Namen der Lehrpersonen›. Doch kein Einziger von uns wurde gefragt. Ich ging zur Schulleiterin und sagte, dass ich das nicht wolle.»

Ist das alles rechtens? Andreas Glaser ist Staatsrechtsprofessor an der Universität Zürich und Experte für Demokratiefragen. «Die Schulbehörden haben ein grösseres Eigeninteresse und dürfen eine Stellungnahme abgeben. Diese muss sachlich und verhältnismässig sein. Im konkreten Fall sehe ich Probleme.» Zum Schulblatt im Thek sagt er: «Das Kind als Kanal zu benutzen, um die Eltern zu erreichen, ist schlechter Stil. Ist die Information sachlich, geht es, auch wenn ich es als grenzwertig ansehe.»

Wenn an einem Elternabend von Schulvertretern «eine flammende Rede gehalten wird und der Raum mit Plakaten vollgeklebt ist, so ist das nicht mehr verhältnismässig. Das hat eine einschüchternde Wirkung und dient nicht einem ausgewogenen Meinungsaustausch. Hier wird die Erforderlichkeit überschritten.»

Und das Mail an die Lehrer? «Lehrer haben zwar eine Treuepflicht ihrem Arbeitgeber gegenüber. Dass sie sich aber als Privatperson nicht mehr öffentlich äussern dürfen, geht zu weit. Man könnte ihnen jedoch verbieten, sich als Vertreter der Schule zu äussern.»
Sie mögen sich im rechtlichen Graubereich bewegen, aber schlau sind die Behörden allemal. Schlau war, in den Lenkungsausschuss zur Installierung des Lehrplans 21 die wichtigsten Vertreter des Lehrerverbandes, des Verbandes der Schulpräsidenten und des Schulleiterverbandes zu berufen. «Die stehen jetzt Gewehr bei Fuss», sagt Lutz Wittenberg. Das erklärt, weshalb die Lehrergewerkschaft Bildung Thurgau fast geschlossen gegen die Initiative ist.

Rückschritt ins letzte Jahrhundert
Der Lehrplan 21 möchte, dass die Schülerinnen und Schüler sich ihr Wissen zu einem guten Teil selbst erarbeiten, im eigenen Tempo. Die Lehrer bieten Hilfestellungen und einen «offenen Unterricht», also keinen Frontalunterricht. Alle drei bis vier Jahre sollten die Schüler festgelegte Ziele erreicht haben.

Eine Lehrerin, die seit 25 Jahren unterrichtet, sagt: «Das ist die totale Überforderung. Ich höre oft von Eltern, dass die Kinder vor ihren Wochenplänen sitzen und nicht wissen, was sie machen müssen.»

Sie befürchtet, dass die Schere zwischen den Schülern noch mehr aufgeht. «In einer zweiten Klasse arbeitet der eine mit dem Erstklassstoff, ein anderer ist schon auf Viertklassniveau. Für einen Lehrer ist die individuelle Zuwendung bei zwanzig Schülern nicht möglich. Jeder Praktiker weiss das.» Zudem wüssten die Eltern nicht mehr, wo ihr Kind stehe.

Deshalb wollen die Initianten Jahrgangsziele einführen. Für die Propheten des Lehrplans 21 ein Rückschritt ins letzte Jahrhundert. Felix Züst: «Die Kinder sind individueller, und die Gesellschaft ist heterogener als früher. Auch aufgrund der Reife ist es nicht machbar, dass Ende Jahr alle auf dem gleichen Stand sind.»

Die langjährige Lehrerin entgegnet: «Wir Lehrer arbeiten ohnehin alle mit Jahreszielen.» Zwar gibt es diese offiziell seit 1996 im Kanton Thurgau nicht mehr. Sie wurden durch Stufenziele ersetzt: Ende dritter und Ende sechster Klasse müssen die Schüler dieses oder jenes können. Doch: «Wir teilten im Team den Stoff auf die einzelnen Jahre auf. In jeder Schule gibt es einen solchen selbstgemachten Lehrplan. Sonst könnte man nicht vernünftig arbeiten.»


Manche Lehrerinnen und Lehrer glauben, dass die Sache mit dem Lehrplan 21 nicht so heiss gegessen wird, wie sie gekocht wurde, und sie so weitermachen können wie bisher. Doch Obacht! Die Thurgauer Schulleiter haben jetzt den «Classroom Walkthrough». Ein neues «Führungsinstrument zur nachhaltigen Unterrichtsentwicklung, das jährlich zehn bis fünfzehn Unterrichtsbesuche durch den Schulleiter à sieben bis zehn Minuten vorsieht», wie die Thurgauer Zeitung jüngst berichtete. Kontrolle ist alles.

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