19. November 2016

Fünf Lern-Mythen

In wenigen Wochen veröffentlicht die OECD die Resultate der Pisa-Studie 2015. Der Schwerpunkt der alle drei Jahre stattfindenden Tests mit 15-jährigen Schülern aus 72 Ländern liegt dieses Jahr auf den Kenntnissen in Naturwissenschaften, Lesen, Mathematik sowie den Fähigkeiten der Schüler im Bereich der Finanzen. Die Pisa-Tests sind immer auch ein Prüfstein für die Lernmethoden in den von Reformen gebeutelten Schulstuben. Doch allzu oft herrschen ideologische Vorstellungen darüber vor, wie Schüler am besten lernen, die keine wissenschaftliche Basis haben.
Lernen in Bewegung: Das Konzept der verschiedenen Lerntypen ist wissenschaftlich nicht haltbar, Bild: Keystone
Fünf Lern-Mythen, die wissenschaftlich widerlegt sind, Tages Anzeiger, 17.11. von Matthias Meili

Der neuseeländische Erziehungswissenschaftler John Hattie hat in der bisher umfangreichsten und viel zitierten Arbeit über 800 Meta-Analysen von insgesamt 50'000 Studien ausgewertet, welche die Wirksamkeit von Massnahmen im Bereich der Schule testeten. Darin sind die Resultate von über 200 Millionen Schülern weltweit eingeflossen. Sein epochales Buch «Visible Learning» wurde 2009 veröffentlicht, 2013 ist es unter dem Titel «Lernen sichtbar machen» erschienen. Dabei konnte Hattie zum Beispiel zeigen, dass die Lehrer-Schüler-Beziehung oder ein gutes Feedback der Lehrer entscheidende Erfolgsfaktoren sind. Andererseits wurden auch Methoden als Mythen ohne wissenschaftliche Grundlage entlarvt. Wir präsentieren fünf populäre Mythen, die nichts bringen:
1. Selber entdecken macht Schüler besser
Die Idee, dass Kinder am besten lernen, was sie selber entdecken und erfahren, ist weitverbreitet. In der Pädagogik spricht man auch von minimal angeleitetem Lernen, experimentellem Unterricht, entdeckendem Lernen und anderen Konzepten.

Forscher um den niederländischen Erziehungswissenschaftler Paul Kirschner konnten in einer umfassenden Arbeit 2006 jedoch zeigen, dass ein experimenteller Unterricht, in dem die Lehrer nur minimale Anleitungen gaben, nahezu ohne Wirkung bleibt. Dies gelte vor allem für Schüler der Unter- bis Mittelstufe, schreiben die Forscher. Bei Schülern mit beträchtlichem Vorwissen sei das angeleitete Lernen zumindest ebenbürtig, wenn nicht sogar leicht im Vorteil.

Die Übersichtsstudie von John Hattie zeigte, dass Schüler von Lehrern, die aktiv unterrichten, im Durchschnitt dreimal bessere Leistungen erbringen, als wenn die Lehrer nur die Lernumgebung optimal gestalten.

2. Selbstbestimmtes Lernen ist förderlich
Eine weitere weitverbreitete Vorstellung ist, dass ein selbstbestimmter Unterricht effektiver ist. Dabei sollen die Schüler das lernen, was sie gerade interessiert, weil sie solche Stoffe angeblich besser aufnehmen können.

Eine Meta-Analyse, die 2008 von amerikanischen Forschern um Richard Niemic durchgeführt wurde, ergab jedoch keinen Effekt auf die Leistung der Schüler, wenn sie in einem computerunterstützten Unterricht das Thema selber auswählen konnten. Auch John Hattie konnte zeigen, dass ein gelenkter und fordernder Unterricht bezogen auf die Leistungen der Schüler effektiver ist als eine ungelenkte und erleichternde Lehrweise.

Interessanterweise zeigte sich jedoch ein kleiner, aber positiver Effekt, wenn die Schüler triviale Dinge wie zum Beispiel die Farbe des Kugelschreibers selber auswählen konnten.

3. Auf den Lerntyp Rücksicht nehmen
Nicht alle Menschen lernen auf gleiche Art und Weise. Eine beliebte Hypothese aus der Lernpsychologie unterscheidet zwischen den visuellen, auditiven und kinästhetischen Lerntypen. Während die einen sich die Dinge besser über visuelle Reize einprägen können, lernen andere über das Ohr und wiederum andere brauchen dazu Bewegung. An manchen Schulen geistert deshalb die Idee herum, dass sich die Lehrer diesen Lerntypen anpassen sollten, um einen guten Lernerfolg zu erreichen.
  
Erkenntnisse aus der Forschung zeigen jedoch, dass eine Anpassung an den Lerntyp keine Vorteile bringt. Verschiedene Forscher, so auch der englische Erziehungswissenschaftler Frank Coffield, stellen das Konzept aus methodischen Gründen sogar gänzlich infrage und haben gezeigt, dass die Effekte eines darauf angepassten Unterrichts vernachlässigbar sind.

4. Repetieren hilft, überspringen bringt nichts
Wenn ein Kind mit dem Schulstoff nicht mehr nachkommt oder wenn es entwicklungsmässig noch nicht so weit ist, wird es oft eine Klasse zurückversetzt. Das Kind soll so mehr Zeit bekommen, um den Schulstoff stressfrei zu erwerben oder um die Schulreife erst noch entwickeln zu können.

Die Forschung zeigt jedoch, dass eine Rückversetzung im Allgemeinen wenig hilft, wie eine Meta-Analyse von Jan Hughes gezeigt hat. Die Leistung eines rückversetzten Kindes ist nicht besser, als wenn es nicht rückversetzt worden wäre. Hughes fand aber auch keine signifikant nachteiligen Effekte einer Rückversetzung. Bei der Analyse der einzelnen Fälle und der betroffenen Schulen zeigte sich jedoch, dass die rückversetzten Kinder kaum je durch zusätzliche Massnahmen unterstützt werden.

Auf der anderen Seite des Spektrums können hochbegabte Kinder zuweilen eine Klasse überspringen. Im Gegensatz zum Repetieren zeigte sich diese Massnahme jedoch als sehr effektiv. Verschiedene Studien zeigen, dass überspringende Kinder fast denselben Level wie die besten Kinder der neuen Klasse erreichen. Zudem haben hochbegabte Kinder, die man nicht überspringen lässt, mehr soziale Probleme.

5. Zu viel Zucker macht hyperaktiv
Viele Eltern und Lehrer glauben, dass die Ernährung einen wichtigen Einfluss auf das Verhalten der Schüler hat. So herrscht die Meinung vor, dass Zucker Hyperaktivität auslöst und dementsprechend zu einem störenden Verhalten der Schüler führt. Auch Nahrungsmittelzusätze sollen denselben Effekt haben.
  

Jedoch fand eine Meta-Analyse von 16 doppelblinden und placebokontrollierten Studien, welche amerikanische Forscher 1995 veröffentlichten, dass Zucker keinen Einfluss auf die kognitiven Fähigkeiten der Kinder hatte. Auch John Hattie fand in seiner Auswertung keinen oder nur einen kleinen Effekt der Diät. Wenn trotzdem ein auffälliges Verhalten vorliegt, liegt dies daran, dass die Eltern (oder die Kinder selbst) daran glauben, dass Zucker hyperaktiv macht, weil dies ihnen immer wieder gepredigt wird.

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