Die freie Schulwahl hat es schwer. Doch Debatten über Reformitis,
übertherapierte Kinder und bevormundete Eltern bringen die Ansichten vieler
Leute ins Wanken. Jugendpsychologe Allan Guggenbühl über die drängendsten
Probleme.
Reformwahn: Geht die Volksschule unter? Tagblatt der Stadt Zürich,
22.11. von Isabella Seemann
Vor 42 Jahren haben Sie Ihre Ausbildung zum Lehrer abgeschlossen. Wie
hat sich die Schule verändert?
Allan Guggenbühl: Sie durchlief eine
Professionalisierungswelle. Vieles, was Lehrpersonen früher nach bestem
Gutdünken erledigt haben, wurde formalisiert, standardisiert und
verschriftlicht: Weiterbildung, Elterngespräche, Schülerbeurteilung etc. Die
Schule wurde dadurch bürokratisiert. Ob die Qualität der Arbeit sich verbessert
hat, ist zweifelhaft. Im Gegenteil: Zeit und Energie wurden von der spontanen
Arbeit mit den Kindern abgezogen. Ausserdem wurden der Schule Aufgaben
aufgebürdet, die sie nur beschränkt wahrnehmen kann: die Förderung der Sozial-,
der Gesundheits- oder der Medienkompetenz. Wichtige Themen! Sie zu
pädagogischen Inhalten zu erklären, macht jedoch wenig Sinn, da sich ihre
Inhalte ändern und sie im Rahmen unserer Lerngesellschaft bereits multimedial
vermittelt werden. Die Schule überschätzt ihren Einfluss.
Was hat eine überforderte Schule zur Folge?
Eine Folge ist, dass
in störrischem Verhalten, in Disziplin- oder Lernschwierigkeiten rasch ein zu
behandelndes Problem oder ein Normbruch gesehen wird. Vergessen wird, dass die
Entwicklung der Kinder kaum geradlinig verläuft. Kinder benehmen sich hie und da
schlecht, und manche lesen bis 18 kein Buch. Ihre Entwicklung enthält auch
rebellische Phasen. Vieles ist genetisch bedingt und nicht beeinflussbar.
Kinder brauchen darum Lehrpersonen, die sie begleiten, gerne haben und
Forderungen stellen. Damit dies möglich ist, braucht es Freiräume und Zeit, um
eine Beziehung aufzubauen. Heute wirken jedoch oft zu viele Fachpersonen auf
die Kinder ein. Effektive Förderung wird dann schwierig.
Wie konnte es so weit kommen?
Die Lehrer können
nichts dafür. Das Problem ist, dass die Schule zu einem Aktionsfeld der Politik
und der Wissenschaften wurde, es wurden vermeintliche Probleme identifiziert,
damit man sich mit einem Programm profilieren und Forderungen stellen kann:
zwei Fremdsprachen, Medienkompetenz, Gewaltprävention. Was die Kinder brauchen
und aufnehmen können, wurde vernachlässigt.
Mehr als die Hälfte der Kinder braucht sonderpädagogische Massnahmen.
Auch eine Folge?
Es ist ein
Armutszeugnis, wenn eine Gesellschaft bei der Hälfte der nächsten Generation
ein Defizit feststellt! Die erste Botschaft, die diese Kinder von der
Gesellschaft empfangen, ist: Etwas stimmt mit dir nicht, du brauchst eine
Behandlung. Kinder brauchten jedoch eine positive Rückmeldung, wenn wir sie
aufs Leben vorbereiten wollen, keine Diagnose.
Wie könnte man das Schweizer Bildungssystem fairer gestalten?
Ich bin ein
Verfechter der Volksschule. Die Klassengemeinschaft ist für die Integration
fremder Kinder wichtig und erlaubt auch Lernprozesse ohne Mitwirkung der
Lehrpersonen. Das Problem ist jedoch, dass die Schule sich selber abzuschaffen
droht, da sie sich mit unrealistischen Zielsetzungen verzettelt, bürokratisiert
wurde und den Stoff ins Zentrum setzt. Denn: Ein Grossteil der Kinder würde
wahrscheinlich mehr lernen, wenn sie einfach eine Stunde täglich privaten
Unterricht genössen und die restliche Zeit eigenen Interessen nachgingen. Die
Volksschule wurde Anfang 19. Jahrhundert erfunden. Damals war die Schule Träger
und Quelle des Wissens, heute ist es überall verfügbar, neugierige Menschen
können es sich selber herunterladen.
Vorderhand müssen wir mit der Schule leben, die wir haben. Was können
die Eltern tun, damit das Lernen erfolgreicher wird?
Das Wichtigste ist,
dass sie selber eine starke Bindung zum Kind aufbauen und Interesse an ihrer
Entwicklung zeigen. Auch die Unterstützung der Lehrpersonen ist wichtig. Sie
sind das Herz und die Seele der Schule, dank ihrem Einsatz entwickeln sich
Kinder. Doch auch Probleme gehören zur Schule. Statt sogleich Schuldzuweisungen
zu machen, kann man dem Kind pragmatisch sagen: Da musst du jetzt durch, mach
das Beste draus, konzentriere dich auf das Wesentliche.
Was wäre Ihr Nummer-1-Tipp an die Schulverantwortlichen?
Kinder haben eine
Seele, sie dürfen nicht zu einer Manipuliermasse der Ambitionen der Erwachsenen
werden. Die Schule muss wieder das Kind, seine Bedürfnisse und Psychologie in
den Mittelpunkt stellen.
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