24. November 2016

Feedback statt Diagnose

Die freie Schulwahl hat es schwer. Doch Debatten über Reformitis, übertherapierte Kinder und bevormundete Eltern bringen die Ansichten vieler Leute ins Wanken. Jugendpsychologe Allan Guggenbühl über die drängendsten Probleme.
Reformwahn: Geht die Volksschule unter? Tagblatt der Stadt Zürich, 22.11. von Isabella Seemann


Vor 42 Jahren haben Sie Ihre Ausbildung zum Lehrer abgeschlossen. Wie hat sich die Schule verändert?

Allan Guggenbühl: Sie durchlief eine Professionalisierungswelle. Vieles, was Lehrpersonen früher nach bestem Gutdünken erledigt haben, wurde formalisiert, standardisiert und verschriftlicht: Weiterbildung, Elterngespräche, Schülerbeurteilung etc. Die Schule wurde dadurch bürokratisiert. Ob die Qualität der Arbeit sich verbessert hat, ist zweifelhaft. Im Gegenteil: Zeit und Energie wurden von der spontanen Arbeit mit den Kindern abgezogen. Ausserdem wurden der Schule Aufgaben aufgebürdet, die sie nur beschränkt wahrnehmen kann: die Förderung der Sozial-, der Gesundheits- oder der Medienkompetenz. Wichtige Themen! Sie zu pädagogischen Inhalten zu erklären, macht jedoch wenig Sinn, da sich ihre Inhalte ändern und sie im Rahmen unserer Lerngesellschaft bereits multimedial vermittelt werden. Die Schule überschätzt ihren Einfluss.

Was hat eine überforderte Schule zur Folge?
Eine Folge ist, dass in störrischem Verhalten, in Disziplin- oder Lernschwierigkeiten rasch ein zu behandelndes Problem oder ein Normbruch gesehen wird. Vergessen wird, dass die Entwicklung der Kinder kaum geradlinig verläuft. Kinder benehmen sich hie und da schlecht, und manche lesen bis 18 kein Buch. Ihre Entwicklung enthält auch rebellische Phasen. Vieles ist genetisch bedingt und nicht beeinflussbar. Kinder brauchen darum Lehrpersonen, die sie begleiten, gerne haben und Forderungen stellen. Damit dies möglich ist, braucht es Freiräume und Zeit, um eine Beziehung aufzubauen. Heute wirken jedoch oft zu viele Fachpersonen auf die Kinder ein. Effektive Förderung wird dann schwierig.
Wie konnte es so weit kommen?
Die Lehrer können nichts dafür. Das Problem ist, dass die Schule zu einem Aktionsfeld der Politik und der Wissenschaften wurde, es wurden vermeintliche Probleme identifiziert, damit man sich mit einem Programm profilieren und Forderungen stellen kann: zwei Fremdsprachen, Medienkompetenz, Gewaltprävention. Was die Kinder brauchen und aufnehmen können, wurde vernachlässigt.
Mehr als die Hälfte der Kinder braucht sonderpädagogische Massnahmen. Auch eine Folge?
Es ist ein Armutszeugnis, wenn eine Gesellschaft bei der Hälfte der nächsten Generation ein Defizit feststellt! Die erste Botschaft, die diese Kinder von der Gesellschaft empfangen, ist: Etwas stimmt mit dir nicht, du brauchst eine Behandlung. Kinder brauchten jedoch eine positive Rückmeldung, wenn wir sie aufs Leben vorbereiten wollen, keine Diagnose.
Wie könnte man das Schweizer Bildungssystem fairer gestalten?
Ich bin ein Verfechter der Volksschule. Die Klassengemeinschaft ist für die Integration fremder Kinder wichtig und erlaubt auch Lernprozesse ohne Mitwirkung der Lehrpersonen. Das Problem ist jedoch, dass die Schule sich selber abzuschaffen droht, da sie sich mit unrealistischen Zielsetzungen verzettelt, bürokratisiert wurde und den Stoff ins Zentrum setzt. Denn: Ein Grossteil der Kinder würde wahrscheinlich mehr lernen, wenn sie einfach eine Stunde täglich privaten Unterricht genössen und die restliche Zeit eigenen Interessen nachgingen. Die Volksschule wurde Anfang 19. Jahrhundert erfunden. Damals war die Schule Träger und Quelle des Wissens, heute ist es überall verfügbar, neugierige Menschen können es sich selber herunterladen.
Vorderhand müssen wir mit der Schule leben, die wir haben. Was können die Eltern tun, damit das Lernen erfolgreicher wird?
Das Wichtigste ist, dass sie selber eine starke Bindung zum Kind aufbauen und Interesse an ihrer Entwicklung zeigen. Auch die Unterstützung der Lehrpersonen ist wichtig. Sie sind das Herz und die Seele der Schule, dank ihrem Einsatz entwickeln sich Kinder. Doch auch Probleme gehören zur Schule. Statt sogleich Schuldzuweisungen zu machen, kann man dem Kind pragmatisch sagen: Da musst du jetzt durch, mach das Beste draus, konzentriere dich auf das Wesentliche.
Was wäre Ihr Nummer-1-Tipp an die Schulverantwortlichen?
Kinder haben eine Seele, sie dürfen nicht zu einer Manipuliermasse der Ambitionen der Erwachsenen werden. Die Schule muss wieder das Kind, seine Bedürfnisse und Psychologie in den Mittelpunkt stellen.

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