Der
Lehrplan 21 sei nichts weniger als ein Paradigmenwechsel, sagen die einen. Die
anderen wiegeln ab: Es ändere sich nichts. Was gilt nun? Eine Aussensicht.
Humboldt oder McKinsey? Journal 21, 24.11. von Carl Bossard
Ein
bewährtes Rezept: Wer das Neue propagieren und verkaufen will, karikiert und
diffamiert das Alte. Genau so macht es der Präsident der Deutschschweizer
Erziehungsdirektorenkonferenz, der Schaffhauser Christian Amsler, mit dem
Lehrplan 21 und dem bisherigen Unterricht. „Früher wurde schlicht etwas
‘durchgenommen’ “, stellt er lapidar fest. Heute dagegen würde mit den
Kompetenzen „das Zusammenwirken von Wissen, Können und Wollen“ geschult, betont
er voller Euphorie.(1)
Früher
passives, heute aktives Lernen
So
einfach geht das. Man konstruiert einen plakativen Gegensatz und stellt den
Status quo typischerweise so schlimm wie möglich dar: Bis heute nahm man etwas
durch; in Zukunft schule man endlich Kompetenzen. Auslöser sei der Lehrplan 21.
Er führe von der alten zur neuen Schule, vom verstaubten zum zeitgemässen
Unterricht. So mindestens lässt sich Amslers Statement deuten. Sein salopper
Satz setzt ganze Generationen gewissenhafter Lehrerinnen und Lehrer unter
Generalverdacht.
Mit
seiner Aussage steht er nicht allein. Vor einiger Zeit war in der Zeitschrift
ph-Akzente der Pädagogischen Hochschule Zürich zu lesen: „Während Lernen in der
Schule früher oft die passive Übernahme von passivem Wissen bedeutete, geht es
im Unterricht heute um die aktive Auseinandersetzung mit Lernzielen und
Lerninhalten.“ Auch hier eine unselige Dichotomie: früher passives Konsumieren
von Stoff – heute (endlich) aktives Lernen und Konstruieren.
Das
Modewort „Kompetenz“
Diese
„früheren“ Pädagogen fragen sich zu Recht, ob sie mit ihren
fertigkeitsorientierten Lernzielen nicht auch Können geschult hätten – und sie
fragen vielleicht weiter, warum von einem Paradigmenwechsel die Rede sei und
was der Lehrplan 21 mit seinen Kompetenzen wirklich Neues bringe. Nicht umsonst
seien Einführungen in den Lehrplan 21, so der Originalton von der Basis, oft
verlorene Zeit – und für die Kantone wohl verlorenes Geld.
Das
Wort „Kompetenz“ bedeutete früher einmal „Zuständigkeit“. Doch in der
Zwischenzeit wurde es als betriebswirtschaftlich-erziehungswissenschaftlicher
Doppelbalg zum geschwollenen Ersatzwort für „Können“ und verkam zu einem
„Schlagwort“.(2) Jürgen Oelkers, emeritierter Zürcher Ordinarius für Pädagogik,
gibt zu bedenken: Der Modebegriff „Kompetenz“ muss heute „für alles herhalten,
was irgendwie innovativ klingt und doch selten das traditionelle Begriffspaar
„Wissen und Können“ übersteigt.“(3)
Verzettelung
Zuerst
kannte die Pädagogik nur drei Kompetenzen: die Sozial-, die Methoden- und die
Selbstkompetenz. Dann kam noch die Sachkompetenz dazu. Und weil das Wort
Kompetenz eben alles meint und damit eigentlich nichts aussagt, muss es
aufgesplittert werden in verschiedene Teilkompetenzen. Darum umfasst die zweite
Fassung des Lehrplans 21 auf 470 Seiten 363 Kompetenzen, unterteilt in über
2300 Kompetenzstufen.
Der
Homo sapiens wird so zum Homo competens. In der Folge gibt es eigentlich nichts
mehr, wozu wir nicht kompetent gemacht werden können: Teamkompetenz,
interreligiöse Kompetenz, Neugierkompetenz, Stresskompetenz,
Darstellungskompetenz, Unterstreichkompetenz, Hilfe-Annahme-Kompetenz usw. usf.
Probleme
lösen können
Als
Vater des heutigen Kompetenzbegriffes gilt Prof. Franz E. Weinert,
Gründungsrektor des Max-Planck-Instituts für psychologische Forschung in
München. Viele Wissenschaftler haben seine präzisen Ideen allerdings verdreht
und verwässert. Weinert wollte die Schule wegbringen von einer oft einseitigen
Dominanz des Wissens. Fähigkeiten fördern und schulen, das war seine Devise:
Junge Menschen müssen Probleme lösen können. Dazu brauchen sie Wissen, Willen
und Motivation.
Es ist
die alte Erkenntnis, die pflichtbewusste Lehrerinnen und Lehrer immer geleitet
hat: Man muss etwas wissen, man muss etwas können, und beides zusammen soll
junge Menschen besser denken und handeln lassen. Darin enthalten sind die „drei
grossen G“: Grundkenntnisse, Grundfertigkeiten und Grundhaltungen. Diese Trias
kann eigentlich gar nicht veralten, weil sie so etwas wie ein Nonplusultra
darstellt. Eine Art Naturgesetz – wie die pädagogischen Gesetzestafeln vom
didaktischen Berg Sinai. Sie sind kurz, knapp und konkret.
Die
Angst vor dem Zufälligen
Der
Lehrplan 21 bringt vieles und Umfassendes. Doch die Grundskepsis bleibt: Wer so
viel bringt, bringt allen etwas. Alles aber ist der Feind von etwas. Oder
anders gesagt: Wenn die Fülle der Vorgaben so umfassend wirkt, werden sie im
Alltag kaum Realität. Nicht umsonst meinte die Basel SP-Ständerätin Anita Fetz
in der ZEIT: „Eine überambitionierte Bürokratenmaus hat einen Dokumentenberg
geboren.“
Sie
spricht damit aus, was nicht wenige befürchten: Die vielen Vorgaben führen
dazu, dass der Wissens- und Könnensaufbau eher zufällig bleiben wird und das
Systematische zu kurz kommt. Jugendliche aber brauchen kognitive
Ordnungsstrukturen, Denkprozesse benötigen klare Wissensstrukturen. „Wenn man
die Schule in unzählige Einzelkompetenzen zerlegt, zerfällt die Gestalt des
Unterrichts irgendwann zu Staub“, gibt Ralph Fehlmann, Fachdidaktiker an der
Universität Zürich, zu bedenken.
Wissen
und Können verknüpfen
Realitätsbezogene
Lehrerinnen und Lehrer wussten es schon immer: Können oder eben Kompetenz kann
nur mit Allgemein- und Fachwissen erarbeitet werden – einem Wissen, das nicht
additive Kenntnisse meint, sondern geordnetes Strukturwissen. Dazu braucht es
eine klare Unterrichts- und Lehrstrategie: Wie vermittle und schule ich als
Lehrer verstandenes und anwendbares Wissen? Das Reflektieren und Beschreiben
des eigenen Lernprozesses, bekannt als metakognitives Denken, fördert und
stärkt diese Lehrstrategie.
Ein
solcher Unterricht ist nicht mit dem blossen Nachvollzug von Schulwissen
gleichzusetzen. Schon immer ging es um das Verstehen, Durcharbeiten und
Anwenden von Inhalten durch die Schülerinnen und Schüler, also um zunehmendes
Können oder um kontinuierlich verbesserte Kompetenz. Darin liegt das Geheimnis
eines lernwirksamen Unterrichts. Auch in der alten Schule. Dazu braucht es keinen
Paradigmenwechsel.
Wider
den Geist der Beliebigkeit
Wer
allerdings den Lehrplan 21 betrachtet, erhält nicht selten den Eindruck von
Beliebigkeit und Zufälligkeit. Es macht den Eindruck, als komme es in der
Schule nicht so sehr auf die Geometrie, die Grammatik der deutschen Sprache,
das Kreieren und Verstehen von Texten, die Geschichte unserer Herkunft als
solche an, sondern primär auf den Erwerb von Kompetenzen wie das „Lernen des
Lernens“ oder das Googeln von Informationen. Das ist nicht prinzipiell falsch,
aber Kompetenzen ergeben sich eben erst als Nebeneffekt intensiven Nachdenkens
und Arbeitens an Inhalten. Wissen und Können entstehen nicht beiläufig, sondern
als Ergebnis von Engagement. Bei einem solchen Unterricht werden Lehrer auch
nicht zu Verwaltern von Kompetenzen und zu Lernbegleitern degradiert. Sie
bleiben, was sie immer waren: Pädagogen.
Schule
und Unterricht haben eben mehr als lediglich einen instrumentellen Sinn; sie
vermitteln mehr als messbare und anwendbare Kompetenzen – mit dem kalten Kalkül
ökonomischer Nützlichkeit und der Employability. Das wäre der schulische
McKinsey.
Technokratischer
Geist
Bildung
lässt sich nicht in der Hast rascher Erledigung erwerben; sie ist mehr als
fachliche Qualifikation und „Fitsein für...“. Unserem humanistischen
Menschenbild entspricht es in keiner Weise, Kinder und Jugendliche in
Kompetenzen zu zerlegen. Der Dekonstruktion des Menschen in Teilkompetenzen
wohnt ein technokratischer Geist inne; da atmet etwas Seelenloses.
Darum
müsste der Lehrplan 21 ein stärkeres Augenmerk auf die bildungsphilosophischen
Ziele der Schule legen und sie humanistisch abstützen. Gerade die heutige Zeit
bräuchte eine stärkere Umorientierung hin zu Werten, wie sie Wilhelm von
Humboldt vertreten hat: Bildung als Kultivierung seiner selbst und als
Fähigkeit umfassender Orientierung – in einer Welt, die aus den Fugen gerät.
Humboldt statt McKinsey lautet der Imperativ der Stunde.
(1)
Christian Amsler, Bildung für Nachhaltige Entwicklung im Lehrplan 21 – für
unsere Kinder und für die Zukunft, in: ilz.ch 3/2016, S. 3
(2)
Rolf Dubs, Die Defizite des Lehrplans 21, in: Schweiz am Sonntag, 2.11.2014
(3)
Jürgen Oelkers (2009), Die Persönlichkeit im Lehrberuf und wie man sie bildet.
Vortrag an der PH Zug, 27.10.2009, Msc. S. 9
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