Ein Mausklick genügt, und die Welt ist auf unserem Bildschirm. Doch
Fakten erklären nichts. Wir müssen sie zum Reden bringen. Dazu braucht es
Wissen. Und das kann man nicht auf Festplatten speichern.
Bildungsverantwortliche reden uns ein, Wissen könne man googeln, Illustration: Gut
Wozu wissen - lieber googeln, NZZ, 5.10. von Thomas Ribi
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Wie viel Grad hat ein rechter Winkel? 30, 45, 60 oder 90? Lachen Sie
nicht! Die richtige Antwort ist 100 Euro wert. Jedenfalls beim Fernsehquiz «Wer
wird Millionär?». Und wenn Sie fünfzehn Fragen später wissen, wem die Welt den
Satz «Ich denke, also bin ich» verdankt, gewinnen Sie vielleicht sogar eine
Million. Zugegeben, ganz so einfach geht's dann doch nicht. Denn zwischenhinein
gibt es richtig fiese Fragen: Heisst «Video» «Ich rieche», «Ich lache», «Ich
weine» oder «Ich sehe»? Findet man einen Kalmus bei der IAA, im Schuhgeschäft,
an einem See oder in der Nationalgalerie? Und ist Wolfgang Schreyer ein
Schriftsteller, ein Sänger oder ein Physiker? Da braucht es schon ein bisschen
mehr, um sich das wohlwollende Kopfnicken von Günther Jauch und ein paar Euro
zu verdienen.
Nur, was braucht es denn eigentlich? Wissen? Aber was heisst das? Und
ist es tatsächlich Wissen? Oder nur Versatzstücke von Wissen? Was man früher
als Bildung bezeichnete, stellt das Konzept der Sendung jedenfalls schon damit
infrage, dass es keinen Kanon gibt. Wichtig und unwichtig, bedeutend und
unbedeutend gibt es nicht. Alles wird gleich behandelt. Vom Göttervater Zeus
geht es über Schalke 04 zum Mayonnaise-Rezept, von da über ein Goethe-Zitat zur
Trennung von Angelina Jolie und zum Nahostkonflikt. Alles schön kompakt. Als
Antwort reicht ein Wort. Ob ich wirklich nur dann bin, wenn ich denke, spielt
genauso wenig eine Rolle wie die Frage, wie ein rechter Winkel definiert ist.
Hauptsache, das Stichwort stimmt. Der Zuschauer staunt, was man alles wissen
kann, und lehnt sich beruhigt zurück, weil man das alles gar nicht wissen muss.
Um aufs Gaspedal zu drücken, brauche ich schliesslich keine Ahnung zu haben,
was ein Turbolader ist, um den Kindern bei den Hausaufgaben zu helfen, nützt es
wenig, wenn ich Schillers «Bürgschaft» auswendig kann, und die ganze
Philosophiegeschichte von Platon bis Wittgenstein bringt mich beim Ausfüllen
der Steuererklärung keinen Schritt weiter. Also, was soll's?
Was man wissen kann
Wissen, so legt das Fernsehquiz nahe, ist etwas für Zirkuskünstler,
nicht für den Alltag. Ein Luxus, ein Spass, der sportliche Bedürfnisse
befriedigt, im besten Fall ein bisschen Prestige bringt, praktisch aber kaum
verwertbar ist. Genau das reden uns auch Bildungsfachleute und Politiker ein.
Und zwar mit Erfolg. Was heute zähle, sei nicht Wissen, sondern Kompetenz,
lautet ihr Mantra. Gefragt sei nicht Bildung, verlangt seien konkrete
Fähigkeiten. Wissen, das klingt nach bildungsbürgerlichem Dünkel. Es verbreitet
Modergeruch, steht im Ruf, tot, nutzlos und elitär zu sein. Ein Ballast, mit
dem man sich verbaut, was in Wirtschaft und Gesellschaft Erfolg verheisst:
Tatkraft, Risikobereitschaft, Entscheidungsfreudigkeit. Die Welt gehört nicht
dem, der weiss, sondern dem, der kann. Was man lernt, muss direkt anwendbar
sein. Und wenn man etwas wissen muss: Google macht's leicht. Ein paar
Mausklicks genügen, und man hat das Wissen der ganzen Welt auf dem Bildschirm.
Darum sollen Schüler und Studenten kein unnötiges Wissen anhäufen. Sondern
lernen, wie man sich Wissen beschafft. Von dieser Haltung ist auch der Lehrplan
21 durchdrungen.
Ein erstaunliches Credo für eine Gesellschaft, die sich als
Wissensgesellschaft bezeichnet und Bildung als wichtigsten Rohstoff preist. Die
Wissensgesellschaft scheint nicht auf Menschen angewiesen zu sein, die etwas
wissen. Und Wissen ist offenbar auf Festplatten und Servern besser aufgehoben
als in den Köpfen. Die müssen frei sein für Wichtigeres. Für das lebenslange
Lernen zum Beispiel. Dazu sind wir ja verpflichtet. Auch das bleut man uns
unablässig ein. Doch was wir lebenslang lernen sollen, bleibt schleierhaft.
Zwar ist da dann plötzlich von Wissen die Rede. Von Wissen allerdings, das
nicht viel wert ist. Denn, auch das gehört ins Repertoire bildungspolitischer
Sonntagsreden: Nichts veraltet heute so rasch wie Wissen. Es ist überholt,
bevor es sich gesetzt hat. Was uns laufend in den Händen zerrinnt, ist
allerdings meist angewandtes Wissen. Fertigkeiten, neudeutsch «Skills». Das
Wissen, das dahintersteht und die Grundlagen dafür liefert, ist selbst heute
meist viel beständiger. Doch das spielt keine Rolle, wenn es darum geht, zu
rechtfertigen, dass man Wissen nicht haben, sondern nur verwalten muss. Und
dass sich der Rest von selber ergibt.
Nur, ist das, was auf Festplatten und in Datenbanken gespeichert ist,
wirklich Wissen? Die Frage stellt kaum jemand. Dabei ist sie zentral. Und die
Antwort heisst: nein. Was in Computern verwahrt wird, ist nicht Wissen, sondern
Information. Worte, Zahlen, Bilder. Eine unüberschaubare Flut von Daten. Damit
daraus Wissen entsteht, müssen die Daten gesichtet, nach sinnvollen Kriterien
geordnet, klug ausgewählt, gewichtet und interpretiert werden. So interpretiert
werden, dass sie in einer sinnvollen Beziehung stehen zu den Problemen, die wir
lösen wollen. Wissen ist mehr als eine Ansammlung von Daten. Und mehr als
Information. Wissen heisst erkennen. Heisst, Informationen zu einer
konsistenten Beschreibung der Realität verknüpfen. Dank Information finden wir
uns in der Welt zurecht. Wissen hilft uns, die Welt zu verstehen.
Daten geben keine Antworten. Sie sprechen auch nicht für sich, sondern
müssen zum Reden gebracht werden. Und zwar von uns. Wir können die Antworten
auf unsere Fragen nicht pfannenfertig aus Datenbanken abgreifen. Wir müssen sie
uns erarbeiten. Indem wir die richtigen Fragen stellen. Indem wir Informationen
auswerten, sie mit anderen Informationen verknüpfen, mit dem eigenen Vorwissen
abgleichen. Indem wir abwägen, kombinieren, Analogien bilden, Hypothesen wagen,
Schlüsse ziehen. Auch wenn uns intelligente Prozessoren mehr und mehr dabei
helfen: Entscheiden, verstehen, Sinn stiften, das kann und darf uns niemand
abnehmen, wenn wir trotz immer intelligenteren Computern Herr im Haus bleiben
wollen.
Genau dafür brauchen wir Wissen. Wissen, das Orientierung schafft, das
uns hilft, Unwesentliches von Wesentlichem zu unterscheiden, und uns das
vermittelt, was man etwas altertümlich als Weltverständnis bezeichnen könnte.
Niemand kann überall Experte sein, wo er sich bewegt und Entscheide fällen
muss. Doch das war vor hundert Jahren nicht anders. Und dass Wissen nie
abgeschlossen sein kann, ist weiss Gott nicht erst seit gestern bekannt. Daraus
den Schluss zu ziehen, dass man den Erwerb von Wissen auf ein erträgliches
Minimum beschränken soll, blieb einer Gesellschaft vorbehalten, die vor lauter
wirtschaftlichen, politischen und sozialen Sachzwängen den Kurs verloren hat.
Was man wissen muss
Natürlich sind Bildungsentwürfe nicht in Stein gemeisselt.
Selbstverständlich verlangt die rasch fortschreitende Digitalisierung zum Teil
nach anderen Fähigkeiten als eine Zeit, in der Schüler auf Schiefertafeln
schrieben und Ingenieure mit Rechenschiebern hantierten. Nur, wo Wissen fast
explosionsartig zunimmt – auch das gab es schon früher –, da braucht es
Distanz. Wer verstehen will, muss einordnen. Das ist weder mit rein
funktionalem Wissen noch mit plattem Lexikonwissen möglich. Und oft ist gerade
das Wissen, das in einer auf unmittelbaren Nutzen ausgerichteten Sicht als
unwesentlich gilt, entscheidend, wenn es darum geht, ein Problem aus
ungewohnter Perspektive zu betrachten. Eine Zeile aus einem Celan-Gedicht kann
dem Denken eine neue Richtung geben, auch wenn es um Mikroprozessoren geht. Und
Thukydides' Analyse des Peloponnesischen Kriegs lehrt mehr über das Wesen
politischer Macht als die «Tagesschau». Wer «Ich denke, also bin ich»
sekundenschnell mit «Descartes» quittiert, punktet vielleicht beim
Tischgespräch oder gewinnt ein Quiz. Wem der Satz die Grundlegung der
menschlichen Erkenntnisfähigkeit bewusstmacht, wird seine Arbeit mit dem
kritischen Abstand tun, der ihm erlaubt, in etwas, das alle sehen, das
Verborgene zu erkennen, das auf neues Terrain führt. Er versteht ein bisschen
mehr von der Welt. Und das heisst auch: Er denkt selbstbestimmter und
entscheidet autonomer.
Wie oft habe ich schon den stumpfsinnigen Satz gehört: Ich muss nichts wissen, ich muss nur wissen, wo man es nachschlägt. Der Text von Ribi führt uns vor Augen, welche Irrmeinungen die momentane Bildungsdiskussion dominieren.
AntwortenLöschenwunderbar geschrieben
AntwortenLöschenRibi entzaubert das Konstrukt "Können statt Wissen", das dem Lehrplan 21 zugrunde liegt.
AntwortenLöschenRibi entzaubert das Konstrukt "Können statt Wissen", das dem Lehrplan 21 zugrunde liegt.
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