Die Schule steht stark im Fokus der öffentlichen Diskussion und in der
Kritik. Zwar machen sehr viele Schulen, Lehrpersonen, Schulleitende und Eltern
ihre Arbeit gut. Das ist erfreulich. Trotzdem stelle ich einige Veränderungen
fest. So sind viele Lehrpersonen überlastet, und so manche leiden unter
Burnout-Symptomen. Es ist erstaunlich, was Lehrer heute – neben dem
eigentlichen Berufsauftrag, dem Unterrichten – nebenbei noch alles zu
bewältigen haben: unzählige Qualitäts- und Projektgruppen, Schulevents,
Sitzungen und Absprachen mit diversen Fachpersonen, Elterngespräche,
administrative Aufgaben usw. Eine Kompensation dafür hat nicht stattgefunden,
d. h., die Lehrpersonen leisten diese Arbeit immer noch zusätzlich, häufig nach
dem anstrengenden Unterricht. Hilferufe der Lehrkräfte und der Berufsverbände
verhallen bis jetzt ungehört.
Für eine gute Schule, NZZ, 5.10. Gastkommentar von Jürg Frick
Dazu kommen überhöhte Erwartungen: Die Ansprüche an Schule und Lehrer
sind massiv gestiegen. Lehrer müssen jedes Kind individuell abholen und optimal
fördern, sie müssen Methodenvielfalt praktizieren, die Kinder zu möglichst
guten Noten bringen. Die Bildungsbehörden ziehen pausenlos neue Reformen und
Projekte durch, die erarbeitet und umgesetzt werden müssen. Statt dass die
Schule endlich einmal etwas zur Ruhe kommt und die Lehrpersonen sich mit den
drängendsten inhaltlichen Themen beschäftigen (Klassenführung, Integration von
Kindern, Zusammenarbeit mit Fachkräften in der Schule, Elternkontakte), stehen
die nächsten Projekte an: der Lehrplan 21 und der neue Berufsauftrag.
Ein dritter Punkt sind die Eltern, die heute vielfach unter massivem
wirtschaftlichem und psychischem Druck stehen, den sie an die Kinder und die
Schule weitergeben. Lehrpersonen werden immer häufiger mit heftigen Angriffen
und Respektlosigkeiten konfrontiert. Ein Elternpaar erwartet vom Lehrer für den
Sohn in Mathematik eine Sechs, alles andere ist inakzeptabel – schliesslich
sind sie ja gute Steuerzahler. Ein anderer wütender Vater droht, mit dem Anwalt
wiederzukommen, und will dafür sorgen, dass die Lehrerin sofort aus dem Verkehr
gezogen wird – von einer Frau lässt er sich sowieso nichts sagen. Ein weiteres
Elternpaar droht mit den Medien. Wie sollen solche Kinder in Ruhe lernen können,
wenn sie zu Hause hören, wie die Lehrpersonen vom Vater oder von der Mutter als
unfähige Idioten bezeichnet werden? Andere Eltern wiederum sind zu wenig in der
Lage, ihre Kinder angemessen zu betreuen, zu beaufsichtigen und zu unterstützen
– sie delegieren die Erziehungs- und Bildungsarbeit an die Schule. Hier wären
wirkungsvolle Unterstützungs- und Entlastungsmassnahmen für Eltern angezeigt.
Zu viele Schülerinnen und Schüler sind zudem nicht genügend auf die
Anforderungen der Schule vorbereitet, und sie treten mit teilweise gänzlich
falschen Vorstellungen, Überzeugungen und Ansprüchen in die Schule ein. Viele
Kinder weisen eine zu geringe Frustrationstoleranz auf, schmeissen die Sache
hin, wenn es nicht auf Anhieb klappt, verweigern sich bei jeder Anforderung.
Ihre Selbststeuerung, die Selbstkontrolle über ihre Gefühle und ihr
Einfühlungsvermögen sind unterentwickelt. Viele dieser Kinder haben zu Hause
gelernt, dass sich die Erwachsenen (zu häufig) an sie angepasst haben und sie
selber kaum eine Anpassungsleistung vollbringen mussten: Es findet eine
fehlgeleitete Ausrichtung der Eltern auf die Kinder statt. Hier wäre eine
wichtige Vorbereitungsarbeit schon vor der Schule, ja vor dem Kindergarten mit
den Eltern zu leisten.
Zu viele Aufgaben und zu wenig Unterstützung durch die Bildungsbehörde
und von Schulleitungen verschlimmern die geschilderte Problematik zusätzlich.
Viele unzufriedene Eltern gelangen heute direkt an die Schulleitung oder die
Schulpflege. Die Umgehung der Lehrperson allein wäre noch nicht so
problematisch, wenn Schulleitungen die Aussagen der Eltern kritisch
hinterfragen und von Lehrpersonen ihre Sicht der Dinge einholen würden. In
vielen Fällen geben sie Eltern allerdings vorzeitig recht, knicken bei Forderungen,
Vorwürfen und Drohungen rasch ein, übernehmen die Aussagen der Eltern.
Lehrpersonen brauchen starke Schulleitungen und -behörden mit einem breiten
Rücken und einem systemischen Blick. In vielen Fällen werden den Lehrpersonen
auch die nötigen Ressourcen für die individuelle Förderung aus Spargründen
verwehrt.
Die Sparmassnahmen werden zum Bumerang, die geschilderten Zustände
werden sich verschlimmern. Statt zu sparen, wären deutlich mehr Investitionen
in das Kerngeschäft der Schule zu tätigen: kleinere Klassen, mehr und rasche
und unbürokratische Unterstützung bei «anspruchsvollen» Schülern und Eltern,
eine bessere Einbindung und Unterstützung der Eltern bei ihrer
Erziehungsaufgabe usw. Für eine gute Schule müssen alle Beteiligten ihren
Beitrag leisten. Dazu gehören natürlich auch die Lehrpersonen, die ihre
Unterrichts- und ihre Beziehungskompetenz weiterentwickeln müssen, oder die
Pädagogische Hochschule als Ausbildungsstätte, die noch vertiefter die
Erfordernisse der Schulpraxis berücksichtigen sollte – die beiden
letztgenannten Akteure sind hier ausgeklammert, weil sie in den Medien und der
Öffentlichkeit schon seit längerem regelmässig thematisiert und kritisiert
werden.
Jürg Frick ist langjähriger Dozent und Berater an der Pädagogischen
Hochschule Zürich.
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