5. Oktober 2016

Mehr Unterstützung für Lehrer

Die Schule steht stark im Fokus der öffentlichen Diskussion und in der Kritik. Zwar machen sehr viele Schulen, Lehrpersonen, Schulleitende und Eltern ihre Arbeit gut. Das ist erfreulich. Trotzdem stelle ich einige Veränderungen fest. So sind viele Lehrpersonen überlastet, und so manche leiden unter Burnout-Symptomen. Es ist erstaunlich, was Lehrer heute – neben dem eigentlichen Berufsauftrag, dem Unterrichten – nebenbei noch alles zu bewältigen haben: unzählige Qualitäts- und Projektgruppen, Schulevents, Sitzungen und Absprachen mit diversen Fachpersonen, Elterngespräche, administrative Aufgaben usw. Eine Kompensation dafür hat nicht stattgefunden, d. h., die Lehrpersonen leisten diese Arbeit immer noch zusätzlich, häufig nach dem anstrengenden Unterricht. Hilferufe der Lehrkräfte und der Berufsverbände verhallen bis jetzt ungehört.
Für eine gute Schule, NZZ, 5.10. Gastkommentar von Jürg Frick


Dazu kommen überhöhte Erwartungen: Die Ansprüche an Schule und Lehrer sind massiv gestiegen. Lehrer müssen jedes Kind individuell abholen und optimal fördern, sie müssen Methodenvielfalt praktizieren, die Kinder zu möglichst guten Noten bringen. Die Bildungsbehörden ziehen pausenlos neue Reformen und Projekte durch, die erarbeitet und umgesetzt werden müssen. Statt dass die Schule endlich einmal etwas zur Ruhe kommt und die Lehrpersonen sich mit den drängendsten inhaltlichen Themen beschäftigen (Klassenführung, Integration von Kindern, Zusammenarbeit mit Fachkräften in der Schule, Elternkontakte), stehen die nächsten Projekte an: der Lehrplan 21 und der neue Berufsauftrag.

Ein dritter Punkt sind die Eltern, die heute vielfach unter massivem wirtschaftlichem und psychischem Druck stehen, den sie an die Kinder und die Schule weitergeben. Lehrpersonen werden immer häufiger mit heftigen Angriffen und Respektlosigkeiten konfrontiert. Ein Elternpaar erwartet vom Lehrer für den Sohn in Mathematik eine Sechs, alles andere ist inakzeptabel – schliesslich sind sie ja gute Steuerzahler. Ein anderer wütender Vater droht, mit dem Anwalt wiederzukommen, und will dafür sorgen, dass die Lehrerin sofort aus dem Verkehr gezogen wird – von einer Frau lässt er sich sowieso nichts sagen. Ein weiteres Elternpaar droht mit den Medien. Wie sollen solche Kinder in Ruhe lernen können, wenn sie zu Hause hören, wie die Lehrpersonen vom Vater oder von der Mutter als unfähige Idioten bezeichnet werden? Andere Eltern wiederum sind zu wenig in der Lage, ihre Kinder angemessen zu betreuen, zu beaufsichtigen und zu unterstützen – sie delegieren die Erziehungs- und Bildungsarbeit an die Schule. Hier wären wirkungsvolle Unterstützungs- und Entlastungsmassnahmen für Eltern angezeigt.

Zu viele Schülerinnen und Schüler sind zudem nicht genügend auf die Anforderungen der Schule vorbereitet, und sie treten mit teilweise gänzlich falschen Vorstellungen, Überzeugungen und Ansprüchen in die Schule ein. Viele Kinder weisen eine zu geringe Frustrationstoleranz auf, schmeissen die Sache hin, wenn es nicht auf Anhieb klappt, verweigern sich bei jeder Anforderung. Ihre Selbststeuerung, die Selbstkontrolle über ihre Gefühle und ihr Einfühlungsvermögen sind unterentwickelt. Viele dieser Kinder haben zu Hause gelernt, dass sich die Erwachsenen (zu häufig) an sie angepasst haben und sie selber kaum eine Anpassungsleistung vollbringen mussten: Es findet eine fehlgeleitete Ausrichtung der Eltern auf die Kinder statt. Hier wäre eine wichtige Vorbereitungsarbeit schon vor der Schule, ja vor dem Kindergarten mit den Eltern zu leisten.

Zu viele Aufgaben und zu wenig Unterstützung durch die Bildungsbehörde und von Schulleitungen verschlimmern die geschilderte Problematik zusätzlich. Viele unzufriedene Eltern gelangen heute direkt an die Schulleitung oder die Schulpflege. Die Umgehung der Lehrperson allein wäre noch nicht so problematisch, wenn Schulleitungen die Aussagen der Eltern kritisch hinterfragen und von Lehrpersonen ihre Sicht der Dinge einholen würden. In vielen Fällen geben sie Eltern allerdings vorzeitig recht, knicken bei Forderungen, Vorwürfen und Drohungen rasch ein, übernehmen die Aussagen der Eltern. Lehrpersonen brauchen starke Schulleitungen und -behörden mit einem breiten Rücken und einem systemischen Blick. In vielen Fällen werden den Lehrpersonen auch die nötigen Ressourcen für die individuelle Förderung aus Spargründen verwehrt.

Die Sparmassnahmen werden zum Bumerang, die geschilderten Zustände werden sich verschlimmern. Statt zu sparen, wären deutlich mehr Investitionen in das Kerngeschäft der Schule zu tätigen: kleinere Klassen, mehr und rasche und unbürokratische Unterstützung bei «anspruchsvollen» Schülern und Eltern, eine bessere Einbindung und Unterstützung der Eltern bei ihrer Erziehungsaufgabe usw. Für eine gute Schule müssen alle Beteiligten ihren Beitrag leisten. Dazu gehören natürlich auch die Lehrpersonen, die ihre Unterrichts- und ihre Beziehungskompetenz weiterentwickeln müssen, oder die Pädagogische Hochschule als Ausbildungsstätte, die noch vertiefter die Erfordernisse der Schulpraxis berücksichtigen sollte – die beiden letztgenannten Akteure sind hier ausgeklammert, weil sie in den Medien und der Öffentlichkeit schon seit längerem regelmässig thematisiert und kritisiert werden.

Jürg Frick ist langjähriger Dozent und Berater an der Pädagogischen Hochschule Zürich.


Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen