22. Oktober 2016

Verschulung des Kindergartens

Die meisten Kinderzimmer seien übersät mit Spielsachen, sagt Erziehungswissenschafterin Margrit Stamm. Diese Reizüberflutung behindere Kreativität und Spiellust.
Margrit Stamm in ihrem Büro in Bern. Bild: Annick Ramp
"Kinder sollen sich auch langweilen", NZZaS, 16.10. von René Donzé 
NZZ am Sonntag: Wann haben Sie das letzte Mal gespielt?
Margrit Stamm: Das war vor einigen Wochen, als wir in einer Berghütte zusammensassen. Wir spielten das Geografiespiel, bei dem man Berge, Seen und Städte mit einem bestimmten Anfangsbuchstaben möglichst schnell aufschreiben muss. Das war sehr lustig, zumal wir eine Gruppe von Erwachsenen waren, die sich zuvor noch nie gesehen hatten.

Was bedeutet Ihnen persönlich das Spiel?
Als Kind war mir spielen sehr wichtig. Ich habe im Sommer im Garten Hütten gebaut, mit Freunden Theater gespielt oder bei einer Freundin in ihrem grossen Puppenhaus mit den Bäbis gespielt. Später haben wir zu Hause sehr viel gejasst. Mein Vater war ein leidenschaftlicher Jasser. Das hat mir sehr viel gebracht in der Mathematik, ich bin sehr schnell im Zusammenzählen. Heute spiele ich aber kaum mehr.

Warum?
Das ist schwer zu sagen. Mit unseren Kindern haben wir noch gespielt. Doch dann ist es irgendwie abhandengekommen. Vielleicht bin ich einfach gesättigt.

Kann man eigentlich generell sagen, dass jedes Kind spielen will?
So gesehen stimmt das nicht ganz. Der Spieltrieb ist nicht einfach angeboren. Das Spielen muss gelernt werden. Jedes Neugeborene bringt aber eine gesunde Neugier mit ins Leben, die im Normalfall später zum Spiel führt. Wenn man bei einem Kind diese Neugier jedoch unterdrückt, dann wird es auch nicht spielen.

Warum ist das Spielen aus Ihrer Sicht für die Entwicklung der Kinder wichtig?
Kinder erwerben im Spiel alle Kompetenzen, die sie brauchen, um im schulischen und ausserschulischen Leben zu bestehen. Im freien Spiel versenken sie sich freiwillig in den Lebensernst und üben dabei fürs Leben. Sie organisieren sich, müssen Entscheidungen treffen, müssen sich verständigen, müssen sich einigen. Spielen fördert die Intelligenz, die Sozialkompetenz, die Selbstkompetenz.

Was passiert, wenn ein Kind nicht spielt?
Wer als Kind nicht spielen kann, hat später Probleme beim Lernen. Das ist gut belegt. Wenn das selbstbestimmte Spiel fehlt, haben die Kinder auch mehr Mühe, sich zu organisieren oder kreativ tätig zu sein. Sie werden zu unselbständigen Erwachsenen, die immer auf Befehle warten.

Was ist denn ein gutes Spiel?
Die Kinder sollen spielen, was und wie sie wollen. Ganz wichtig ist, dass die Erwachsenen nur eine zweitrangige Rolle spielen. Sie müssen vielleicht am Anfang etwas nachhelfen, eine Initialzündung geben. Doch dann sollten sie sich unbedingt zurückhalten. Vor allem sollte kein Fördergedanke dahinter stehen. Spass und Freude sind die wichtigsten Faktoren des Spiels.

Welche Rolle sollen die Eltern einnehmen? Sollen sie mit den Kindern spielen oder sie in Ruhe lassen?
Spielen muss gelernt werden. Eltern sollten viel mit ihren Kindern spielen und ihnen zeigen, wie das geht. Und sie sollten die Umgebung der Kinder spielfreundlich gestalten mit entsprechenden Materialien und Freiheiten. Heute sind 90 Prozent der Kinderzimmer übersät mit Spielzeug. Ein Zuviel behindert die Kreativität. Wenn die Kinder ins Spielen kommen, sollte man sich auch wieder zurückziehen und sie gewähren lassen.

Was unterdrückt die Spiellust?
In erster Linie ist es die Reizüberflutung. Die Kinder haben zu viel Ablenkung, sei es durch ein Übermass an Spielsachen oder durch digitale Geräte und den Fernseher. Gleichzeitig haben sie immer weniger Zeit zum Spielen. Dazu kommt noch die Ängstlichkeit der Eltern. Sie wollen ihren Kinder kaum mehr Freiheiten zugestehen, aus Sorge, dass ihnen etwas passieren könnte.

Besteht nicht die Gefahr, dass den Kindern langweilig wird, wenn man ihnen ihre Spielsachen wegräumt?
Nietzsche sagte: Die Langeweile ist die Windstille der Seele. Ich meine, aus der Langeweile entsteht auch Kreativität. Kinder sollen sich auch langweilen.

Oft aber sind gelangweilte Kinder schwer zu ertragen. Sie nörgeln und quengeln.
O ja. Ich mag mich gut erinnern, dass es unserem Sohn oft langweilig war, wenn seine Schwester weg war. Es ist mir nicht gelungen, ihm diese Langeweile zu lassen. Ich habe stets etwas mit ihm unternommen. Heute würde ich versuchen, das auszuhalten.

Ein schnelles Rezept gegen Langeweile sind Handy, Tablet, Computer.
Es ist natürlich einfach, quengelnde Kinder damit zum Schweigen zu bringen. Früher haben wir auf langen Autofahrten Spiele erfunden, um tote Zeit zu überbrücken: Autonummern verglichen oder im Dezember nach Tannenbäumen mit Beleuchtung Ausschau gehalten. Ich verstehe es aber, wenn Eltern heute so ausgelaugt sind, dass sie nicht mehr spielen mögen und auch die Langeweile der Kinder nicht aushalten. Sie sind zeitlich unter Druck, müssen Familie und Beruf unter einen Hut bringen.

Sind elektronische Spiele des Teufels?
Ich habe eigentlich nichts gegen Tablets und Computer, es braucht einfach ein gesundes Nebeneinander. Und es braucht Zeiten und Zonen, wo die Geräte ausgeschaltet werden. Hier sollten die Erwachsenen Vorbilder sein: Wenn die Eltern ständig am Bildschirm hängen, wie sollen die Kinder dann davon überzeugt werden, nach draussen spielen zu gehen?

Eine deutsche Studie besagt, dass die Zeit zum freien Spielen in den letzten zwanzig Jahren um rund einen Drittel abgenommen hat.
Das ist tatsächlich ein grosses Problem. Heute wird das Leben der Kinder durchorganisiert: Von der Kita über den Musikunterricht, den Sportklub bis zur Schule mit Mittagstisch. Die Freiräume der Kinder haben massiv abgenommen.

Wie wichtig ist denn der Faktor Zeit?
Er ist der wichtigste Faktor. In einer anderen deutschen Studie sagen Kinder, sie wünschten sich, mehr mit ihren Eltern zu Hause zu sein. Doch wenn diese Eltern dann einmal etwas Zeit haben, dann nutzen sie diese, um das Kind in irgendwelche Kurse oder Trainings zu fahren oder sie sonst wie zu fördern. Damit wollen sie dem Kind zwar etwas Gutes tun, doch nehmen sie ihm etwas Wichtiges weg: frei verfügbare Zeit.

Ist Spiel bloss Freizeitbeschäftigung?
Eben nicht. Auch in der Schule sollte das Spiel seinen Platz haben. Es ist eine sehr wichtige Lernform, die die anderen Methoden sinnvoll ergänzt. Leider aber hat es in der Primarschule und in der Oberstufe keine etablierte Funktion. Der Zeitgeist ist ungünstig für Spielereien. Heute wird immer mehr gemessen und diagnostiziert. Das beginnt ja bereits im Kindergarten. Das Spiel steht im Widerspruch zu diesem Trend.

Der Kindergarten gehört ja seit Harmos offiziell auch zur Schule.
Die Verschulung des Kindergartens ist tatsächlich ein Problem. Kürzlich habe ich Unterlagen aus dem Kanton Zürich gesehen, die einen Morgen im Kindergarten skizzieren. Er ist mit Lektionen durchgetaktet, und am Schluss ist dann noch von 11 bis 11 Uhr 30 Spielen vorgesehen. Auch der Kindergarten ist lernzielorientiert geworden. Kindergärtnerinnen, die die Kinder häufig frei spielen lassen, müssen sehr selbstbewusst sein. Viele Eltern finden das eine Zeitverschwendung, unnötig. Es passt nicht in unseren Zeitgeist, den Leistungswettbewerb, die Orientierung am Können.

Jetzt wurde jahrelang Frühförderung gepredigt, und nun sagen Sie, dass die frühe Förderung den Kindern die Zeit stiehlt. Das widerspricht sich doch.
Nein, das widerspricht sich nicht. Wir Forscher waren einfach zu wenig differenziert. Die Frühförderung ist gut. Es gibt nicht ein Entweder-oder. Man kann ein Kind früh fördern, aber man muss schauen, dass die Freiräume für das Kind erhalten bleiben. Das wurde zu wenig kommuniziert.

Sie waren eine Vorkämpferin dieser Frühförderung. Höre ich da auch etwas Selbstkritik?
Eindeutig. Es ist ein Hype um das Thema entstanden, der ungesund ist. Frühförderung ist zwar sehr wichtig für benachteiligte Kinder aus bildungsfernen Familien. Das Problem ist aber, dass vor allem gut situierte, bildungsambitionierte Eltern darauf aufgesprungen sind. Und sie übertreiben es oft. Die Benachteiligten hingegen fallen nach wie vor durch die Maschen. Der Graben ging eigentlich eher auf statt zu.

Müsste man nicht einfach das freie Spielen als Teil der Frühförderung verstehen?
Das ist durchaus so. Wenn man Kinder fragt, was sie am liebsten tun, sagen sie meistens: draussen spielen. Aber sie wollen nicht auf einen durchgeplanten, sicheren Spielplatz. Sie wollen den Waldrand, den Hinterhof, den Bach, wo sie ihre Phantasie ausleben können. Frühförderung heisst eben nicht nur Kurse. Frühförderung heisst auch Freiraum, Freizeit, Freiheit.


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