Bis die
Vergewaltigung geschah, war schulische Aufklärung in Rhäzüns kein Thema. Das
war Elternsache. Punkt. Doch dann packten zwei Knaben im Alter von 10 und 14
Jahren ein fünfjähriges Mädchen und vergingen sich nacheinander an ihm.
Ausgerechnet hier musste es passieren. Nicht etwa in einer städtischen
Agglomeration, sondern in einem beschaulichen Dorf im Bündner Rheintal. Das hat
vor zehn Jahren mediale Wellen bis ins Ausland geworfen. Auf einen Schlag hat
sich die Sexualisierung der Kinder ins Bewusstsein vieler Erwachsenen gebohrt.
Die Schule tut sich schwer mit dem Thema Sexualität, Bild: Andreas Gefe und Julia Ambroschütz
Was hat Sex mit Schule zu tun? NZZaS, 2.10. von René Donzé
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«Der
Fall Rhäzüns hat gezeigt, was passieren kann, wenn Sexualität gegenüber Kindern
totgeschwiegen wird», sagt Susanna Siegrist, Sexualpädagogin und Leiterin der
Fachstelle Adebar in Chur. «Sie können nicht mit dem umgehen, was sie im
Internet sehen, was sie von älteren Kollegen hören. Das kann zu einem
problematischen Sexualverhalten führen.» Heute habe die Mehrheit der
elfjährigen Buben schon pornografische Bilder und Filme gesehen, weiss sie aus
ihrer Arbeit an den Schulen. Eine Erhebung der Zürcher Fachstelle «Lust und
Frust» ergab, dass 94 Prozent der 13-jährigen Buben und 50 Prozent der
gleichaltrigen Mädchen schon Pornos konsumiert haben. «Viele von ihnen haben
aber noch nie ein Mädchen an der Hand gehalten», beschreibt Sexualpädagoge
Thomas Bächler, freier Mitarbeiter für Bubenarbeit bei Adebar, das
Spannungsfeld, in dem sich viele Schüler befinden. Oder pointierter
ausgedrückt: «Die Jungs kennen den Tittenfick, wissen aber nicht das Geringste
über Verhütung.» Wir sitzen im Restaurant Grond in Sils-Maria und essen Capuns.
Die Sonne scheint, doch es ist kühl, und Wolken über Maloja kündigen Regen an.
Siegrist, Bächler und Ruth Niederreiter sind ins Engadin gereist, um
Schülerinnen und Schüler aufzuklären.
Pimpel,
Zipfeli und Pistulino
Rhäzüns
hat im Kanton Graubünden zum Umdenken geführt. Die Gemeinde beschloss, mit der
Sexualpädagogik schon auf Stufe Kindergarten und Primarschule anzusetzen. Die
Fachstelle Adebar – von Landeskirchen, Frauenzentrale und Kanton vor 41 Jahren
zum Zweck der Familien- und Sexualberatung sowie der Aufklärung gegründet –
erarbeitete eigens dafür ein Konzept. Zuvor war sie nur vereinzelt auf der
Oberstufe, in Gymnasien und Berufsschulen tätig. «Es braucht leider oft eine
Notlage, bis man uns einschaltet», sagt Siegrist. Etwa, weil Knaben auf dem
Pausenplatz Mädchen massiv sexuell belästigen, im Schulzimmer onanieren oder
weil die Sexualisierung der Schülersprache die Lehrer alarmiert. Adebar macht
aber keine Feuerwehrübungen, sondern setzt auf längerfristiges Engagement: In
der Regel werden die Kinder im Kindergarten, in der dritten und der sechsten
Klasse besucht. Mittlerweile sind es über hundert Klassen im ganzen Kanton.
Die
sechsjährige Anna* kniet im Silser Kindergarten am Boden und denkt nach. Vor
sich zwei Blatt Papier, auf denen die Umrisse eines Mädchenkörpers zu sehen
sind – einmal von vorne, einmal von hinten. Sie soll grüne Punkte überall
dorthin kleben, wo sie gerne berührt wird. Die roten Punkte dort, wo fremde
Hände nichts zu suchen haben. Wie ist das nun mit dem Po? Sie entscheidet sich
für den grünen Punkt. «Hast du das wirklich gern?», fragt Ruth Niederreiter.
Anna schüttelt den Kopf und wechselt auf den roten Punkt. Dieselbe Farbe kommt
auf die Vagina, während Arme und Gesicht einen grünen Punkt erhalten.
Vieles
dreht sich an diesem Morgen um Selbstbestimmung und Abgrenzung. Begeistert
singen die Kleinen zum Lied ab CD: «Küsschen hier und Küsschen da, das ist
manchmal wunderbar. Doch wenn ich nicht will, dann sag ich: Nein!» Bei «Nein!»
stampfen alle fest auf den Boden. Sichtbar Spass macht auch das
Körper-König-Spiel, bei dem ein Kind mit einer Krone auf dem Stuhl sitzen und
«Stopp!» rufen darf, wenn ihm ein anderes zu nahe kommt. «Aufklärung in diesem
Alter ist vor allem Prävention vor Übergriffen», sagt Niederreiter. «Die Kinder
sollen erfahren, dass sie selber über ihren Körper bestimmen und nicht alles in
Ordnung ist, was die Erwachsenen mit ihnen machen wollen.» Denn: Auch wenn der
Rhäzünser Fall spektakulär war, die meisten Übergriffe geschehen im familiären
Umfeld.
Die
gelernte Hebamme und Sexualpädagogin zeigt den Kindern aber auch anhand einer
Puppe und eines Beutels wie ein Kindlein geboren wird. Ebenfalls zur Sprache
kommen die Geschlechtsteile: «Schlitzli, Pipi, Pimpel, Zipfeli» sagen die
Kinder zu ihnen. «Pistulino» ruft ein Bub mit portugiesischen Eltern.
Niederreiter: «Ich verrate euch jetzt, welche Begriffe wir dafür im
Kindergarten verwenden: Vagina und Penis.»
Wie
die Adebar-Fachleute in Graubünden gehen heute im ganzen Land Sexualpädagogen
in die Schulen. Die Dachorganisation «Sexuelle Gesundheit Schweiz» zählt über
hundert Beratungsstellen zu ihren Mitgliedern, die sich mit Aufklärung, Aids,
Familienplanung und so weiter beschäftigen. Viele haben auch ein Angebot für
Schulen – vor allem in der Romandie, wo Aufklärungslektionen mit externen
Fachleuten Pflicht sind. In der Deutschschweiz hingegen entscheidet jede Schule
für sich, ob sie auf externe Dienste zurückgreifen will oder ob sie den
sexualkundlichen Unterricht den Lehrerinnen überlassen will. Im Kanton Zürich
haben einzelne Schulhäuser dafür ausgereifte Konzepte, andere greifen das Thema
gar nicht auf.
«Die
Sexualerziehung ist in der Schweiz in vielen Kantonen inhaltlich wie
organisatorisch zu wenig deutlich beschrieben und wird zum Teil ungenügend
umgesetzt», schreibt die Eidgenössische Kommission für Kinder- und Jugendfragen
in ihrem Bericht von 2009. «Eine systematische Verankerung der Sexualerziehung
in den Lehrplänen fehlt.» Zudem würden die Lehrer in der Ausbildung selten spezifisch
auf diese Aufgaben vorbereitet, «obwohl sie im Schulalltag immer wieder mit der
Thematik Sexualität konfrontiert werden». Nur gerade ein Drittel der Schweizer
Primarschüler erhält Sexualerziehung, auf der Sekundarstufe ist es mittlerweile
die Mehrheit, wie eine Situationsanalyse der Pädagogischen Hochschule Luzern
2007 ergab.
Die
Schule tut sich noch immer schwer mit ihrer Suche nach dem richtigen Weg, wie
sie im Bereich der Sexualität ihren Bildungs- und Erziehungsauftrag wahrnehmen
kann, ohne zu sehr in die Erziehungshoheit der Eltern einzugreifen. Auf diesem
Gebiet geht es oft mehr um Weltanschauungen und Moralvorstellungen als um die
Frage, welches Wissen die Schüler wann vermittelt erhalten sollen.
Kampf
gegen Sittenverderbnis
Das
war schon vor 50 Jahren so, als Dorothea Meili im zürcherischen Schleinikon
ihre ersten Aufklärungslektionen für Primarschüler durchführte. «Zu jener Zeit
mussten die Kinder ihre Sexualität zusammen mit der Windjacke in die Garderobe
hängen. Im Schulzimmer war sie nicht willkommen», sagt Meili. Aufklärung im
Unterricht war verboten. «Begonnen hat alles mit einem Märchen», erzählt die
aktive Rentnerin, die noch immer Vorträge hält. «Ein Mädchen wollte von mir
wissen, warum die Mutter vom Schneewittchen tot ist.» Meili erzählte, dass
früher viele Frauen bei der Geburt gestorben seien. Die Kinder fragten weiter:
Wie kam das Baby in die Mutter? Wo kam es heraus? Und so begann sie, ihren
Schülern die biologischen Zusammenhänge der Fortpflanzung zu erklären. Die
Schulpflege habe beide Augen zugedrückt. Schliesslich war die Junglehrerin im
Dorf geschätzt, half in den Ferien sogar bei der Heuet mit.
Meili
war eine Pionierin. Sie wurde vom damaligen Zürcher Erziehungsdirektor Alfred
Gilgen in eine Arbeitsgruppe gerufen, die das Fach «Biblische Geschichte und
Sittenlehre» in «Biblische Geschichte und Lebenskunde» umgestaltete. Und unter
Lebenskunde fiel neu auch die Sexualität. Erste Handreichungen für Lehrer
wurden geschaffen und in den Schulen erprobt – begleitet von heftigen Widerständen.
«Die Sexologen greifen nach unseren Kindern», warnte der «Verein besorgter
Eltern» von Niklaus Oertly. Mit seiner Kampfschrift «Aufblick» kämpfte der
Verein gegen Sittenverderbnis, Lüsternheit und Gottlosigkeit. In einem Porträt,
das das Schweizer Fernsehen über ihn drehte, sprach Oertly von Homosexualität
als Sünde, vor der man sich durch Hinwendung zu Jesus Christus befreien könne.
Der Platz der Mütter sei zu Hause bei den Kindern. Wenn sich eine Frau
beruflich entfalten wolle, solle sie ledig bleiben.
Das
widersprach diametral dem Weltbild von Meili, das von der Gleichberechtigung
der Geschlechter und der sexuellen Neigungen geprägt war. «Wenn ich Vorträge
vor Lehrern oder Eltern hielt, versuchten die Kritiker uns mit Flugblättern und
Wortmeldungen zu stören», erinnert sich Meili. Auch bei Diskussionssendungen in
Radio und Fernsehen prallten die beiden Welten aufeinander.
Meili
wurde später Dozentin für Didaktik der Lebenskunde, und damit auch der
Sexualpädagogik, am Zürcher Oberseminar. Der «Verein besorgter Eltern» ging in
den achtziger Jahren, nach dem frühen Tod Oertlys, im Verein «Jugend und
Familie» auf. Die Fronten blieben über die Jahrzehnte die gleichen: auf der
einen Seite Pädagogen, die Kinder und Jugendliche aufklären wollten, auf der
anderen evangelikale, konservative und rechtsbürgerliche Kreise. Der Verein
«Jugend und Familie» stand auch hinter der Initiative «Schutz vor
Sexualisierung in Kindergarten und Primarschule». Sexualkunde in der Schule
sollte bis zum neunten Lebensjahr der Kinder verboten sein und danach bis zum
zwölften Lebensjahr freiwillig stattfinden. Ihr Sinnbild des Verderbens war die
«Sexbox» mit Plüsch-Vagina und Holzpenis, die in Basel im Unterricht eingesetzt
wurde. Die Initiative wurde 2015 zurückgezogen. Erreicht haben die Initianten,
dass das Kompetenzzentrum für Sexualpädagogik in Luzern schliessen musste, weil
sich das Bundesamt für Gesundheit aus der Finanzierung zurückzog. Und die
Erziehungsdirektoren mussten versprechen, dass auch mit dem neuen Lehrplan 21
keine Sexualerziehung im Kindergarten stattfindet: «Sexualkundeunterricht
beginnt in der Regel gegen Ende der Primarschulzeit und wird auf der
Sekundarstufe fortgeführt», schrieben sie 2011 in einer Medienmitteilung.
Wie
die Mädchen die Buben sehen
In
Sils Maria hat Susanna Siegrist keine Holzpenisse dabei, wenn sie die
Schülerinnen und Schüler der dritten und vierten Klasse besucht. Dafür coole
Plastic-Enten: Alle Kinder dürfen sich eine auswählen und ihr auf einem Zettel
einen geheimen Wunsch anvertrauen. Dann befassen sie sich mit dem jeweils
anderen Geschlecht: Die Buben sollen auf einem Plakat aufschreiben, wie Mädchen
sind und was sie haben. Und umgekehrt. Nach einer Viertelstunde werden die
Resultate präsentiert. Die Mädchen finden Knaben «schön, mutig, gaga, lustig,
doof, intelligent, laut, muskulös». Sie haben dunkle Kleider, Popo, Penis,
Sixpack und kurze Haare. Die Knaben bezeichnen Mädchen als «Tussis, zum Teil
nett, ruhiger, kitzliger». Sie haben längere Haare, Brüste und eine Vagina.
Siegrist
bespricht mit den Kindern anhand von Zeichnungen die Entwicklung vom Buben zum
Mann und vom Mädchen zur Frau. Gespannt hören sie zu. «Warum werden die Hüften
und der Po des Mädchens breiter in der Pubertät?», fragt die Sexualpädagogin.
Sandra: «Weil die Frau Kraft braucht, um das Baby zu tragen.» Thomas: «Damit
sie besser aussieht.» Gelächter. «Wie heisst es, wenn das Blut bei der Scheide
rauskommt?» Rosanna: «Periode oder Tage.» «Und wozu ist das gut?» Betretenes
Schweigen. Siegrist: «Der Körper bereitet sich darauf vor, dass er später
Kinder kriegen kann.» Sandra: «Wann bekommt man das?» Siegrist erklärt, dass
dies zwischen 9 und 16 der Fall sein kann. Später an diesem Morgen geht es um
die Zeugung und die Geburt und darum, dass beim Geschlechtsverkehr rund 200
Millionen Samen zur Eizelle gelangen wollen. «Der Schnellste schafft es. Ihr
seid also alle aus dem Gewinnersamen eures Papas entstanden.» Sandra stolz:
«Also dann konnte mein Samen sehr schnell schwimmen und gut Fussball spielen.»
Die
zwei Doppellektionen vergehen wie im Flug. In der ersten Hälfte geht es um
Sexualaufklärung, in der zweiten um Prävention. Die Kinder erhalten eine
Broschüre mit dem Titel: «Trau dich! Du bist stark!» Darin geht es um gute und
schlechte Geheimnisse, um das Recht, «Nein» zu sagen, um Situationen, die
unangenehm sind. Mit Leidenschaft spielen die Kinder eine Szene nach: Ein Mann
setzt sich im Bus ganz eng neben ein Mädchen und sagt: «Ich glaube, ich kenne
deine Mutter, sie ist genauso hübsch wie du . . .» Das Mädchen steht auf und
bittet eine Frau um Hilfe, diese wiederum wendet sich an den Fahrer, der den
Bus stoppt und den Mann rauswirft: «Bei uns werden keine Mädchen belästigt.»
Von
Liebe keine Rede
Ein
wichtiger Aspekt der Sexualpädagogik ist heute die Prävention. Die Kinder
sollen lernen, sich vor Übergriffen zu schützen, sie sollen nicht ahnungslos
der sexualisierten Welt ausgesetzt sein, der sie immer früher begegnen. Sie
brauchen Einordnungshilfen: Was hat Porno mit der Realität, was hat Sex mit
Liebe zu tun? Und sie brauchen natürlich korrektes biologisches Wissen. Vor
allem auf der Sekundarstufe geht es zudem um den Umgang mit den neuen Medien:
Was ist legal, und was ist illegal? Welche Bilder soll ich aufnehmen, posten,
weiterverbreiten?
Diese
Sachlichkeit ist weit entfernt von der Wucht, mit der die erste
Aufklärungswelle in den 1970er Jahren aus Deutschland in die Schweiz gekommen
war. Freie Liebe, Gleichberechtigung, Selbstbestimmung der Frau, Homosexualität
waren die Schlagworte, die sich mit der 68er Bewegung verbreiteten – befeuert
von der Entwicklung der Verhütungspille. Damals zeigten die Lehrbücher
Fotografien, die nach heutigen Massstäben als Kinderpornografie gelten: etwa
nackte Mädchen und Buben, die gegenseitig ihre Körper erkunden. «Die Autoren
wollten mit der Sexualerziehung die Welt verändern», sagt Dorothea Meili. Es
ging um die Auflösung gesellschaftlicher Muster. Das schürte Abwehrreflexe,
nicht nur in fundamentalen Kreisen.
Erst
mit dem Aufkommen von Aids setzte sich vor gut 25 Jahren die Erkenntnis durch,
dass Aufklärung mehr nützt als schadet. In der Oberstufe vieler Kantone wurde
HIV/Aids-Prävention obligatorisch. So wurde in der Schule Sex zum Thema. Ein
Meilenstein zwar, doch nicht nur ein positiver. «Plötzlich wurde nur noch über
negative Aspekte der Sexualität gesprochen: Krankheit und Tod standen im
Vordergrund», sagt die ehemalige Dozentin Dorothea Meili. «Von Liebe,
Beziehungen und Kummer war keine Rede.» Sie beobachtete, dass es einige Lehrer
gab, die der Aufgabe nicht gewachsen waren: «Der verklemmteste Chnuschti musste
plötzlich über Sex sprechen, das kam nicht immer gut.»
Heute
werden an der Pädagogischen Hochschule Zürich alle angehenden Sekundarlehrer
auf ihre Aufgabe vorbereitet, während die Module für angehende
Primarlehrerinnen freiwillig sind. Lukas Geiser ist dort als Dozent für
Sexualpädagogik zuständig, früher war er für die Fachstelle «Lust und Frust» an
Schulen unterwegs. An diesem Montag empfängt Geiser 15 junge
Sekundarlehrerinnen und -lehrer zu einem Weiterbildungstag. Auf den Tisch
entleert er einen «Grabbelsack» – einen Stoffbeutel, den er, je nach Thema und
Alter der Schüler, mit Gegenständen füllt: Pillen, Kondome, Dildo, Nuggi,
Rasierer, Deo, Binden, Tampons, Büchlein zum Kamasutra. Er legt die Dinger auf
dem Tisch aus und verdeckt sie nach einer Minute wieder. Die Lehrer müssen
auswendig aufsagen, was sie gesehen haben und darüber diskutieren, welche
Gegenstände für welches Alter passen. «Solche Übungen regen das Gespräch über
die Pubertät oder Sex und Verhütung an», sagt Geiser.
Für
Junglehrer selbstverständlich
Heute
gibt es in der Oberstufe kaum ein Thema, das nicht zur Sprache kommt. Die
jungen Lehrer diskutieren darüber, wie sie mit den vielen Fragen umgehen
sollen. «Die Schüler bringen mich zum Teil an die Grenze», sagt eine
Junglehrerin. «Manchmal machen sie mich mit ihren homophoben Äusserungen auch
wütend», sagt eine andere. «Sprecht Themen aktiv und direkt an, dann nehmt ihr
ihnen den Wind aus den Segeln», rät Geiser.
Die
Lehrer sind bei der Gestaltung ihres Unterrichts weitgehend auf sich gestellt,
weil weder ein offizielles Lehrmittel existiert noch differenzierte Vorgaben im
Lehrplan gemacht werden. Das soll sich mit dem Lehrplan 21 ändern (Kasten). Im
Moment empfiehlt das Zürcher Volksschulamt unter anderem das umstrittene
deutsche Lehrmittel «Sexualpädagogik der Vielfalt» als Hilfe. Erst kürzlich
geriet es in die Schlagzeilen, weil sich in einer der darin beschriebenen
Übungen die Schüler ein «Puff für alle» ausdenken sollen – ein Bordell, das die
Bedürfnisse verschiedener Anspruchsgruppen befriedigt: Homosexuelle,
Heterosexuelle, Behinderte. Laut der Zielsetzung sollen sich die Jugendlichen
«mit Sexualitäten und deren Lusterfüllung» auseinandersetzen.
Weitere
Lektionen thematisieren das Porno-Verständnis der Jugend, sexuelle Praktiken
und das sexuelle Vokabular. «Wir bilden die Lehrerinnen und Lehrer so aus, dass
sie wissen, welche Methoden in diesem Buch für ihre Schüler und überhaupt für
die Schule angemessen sind und welche überhaupt nicht passen», sagt Geiser. Er
hat das Lehrmittel «Erste Liebe» mitverfasst. Dieses besteht aus neun
Videoporträts von Jugendlichen, die über ihre ersten sexuellen Erfahrungen
sprechen. Die anschliessenden Lektionen befassen sich mit Flirten, dem ersten
Mal, Schlussmachen, Liebeskummer, sexueller Vielfalt, Grenzen und Respekt.
Die
Teilnehmer der Weiterbildung diskutieren weniger über einzelne Übungen als
vielmehr über Grundsätzliches: Ist nun die Biologielehrerin oder der
Deutschlehrer zuständig für das Thema? Soll man Sexualkunde in
geschlechtergetrennten Gruppen unterrichten? Sind Prüfungen sinnvoll? Nur
einmal erfährt Geiser heftigen Widerspruch: Als er rät, die Eltern früh und
gründlich genug über den geplanten Sexualunterricht zu informieren. «Das
braucht keine Absicherung, das ist Teil des Lehrplans. Punkt», sagt eine
Lehrerin. «Damit wird dem Thema unnötig viel Gewicht verliehen», sagt ein
Lehrer und ein weiterer: «So wird doch nur ein Hype um etwas gemacht, das
eigentlich ganz selbstverständlich ist und zu unserem Lehrauftrag gehört.»
Väter
sind abwesend
Es
ist Dienstagabend. Die beiden Fachfrauen von Adebar haben ihren Arbeitstag in
Sils Maria beendet und stehen nun auf der Bühne in der Aula des Schulhauses
Grevas in St. Moritz.Rund 300 Mütter und Väter sind gekommen, um zu hören, was
die beiden ihren Kindern in Zukunft erzählen wollen. Kürzlich haben die Schulen
Pontresina, Samedan und St. Moritz entschieden, ebenfalls am Programm
«Sexualpädagogik als Prävention» teilzunehmen. Nicht, weil etwas Schlimmes
vorgefallen sei, wie der Schulleiter betont, sondern einfach, weil es an der
Zeit sei. «Es ist uns wichtig, dass Sie wissen, was wir mit Ihren Kindern
machen», sagt Siegrist zu den Anwesenden, vor allem Frauen. Fast zwei Stunden sprechen
sie über Sex, Aufklärung, Liebe, Beziehungen und die Entwicklung der Kinder.
Interessant
ist die von ihnen gezeigte Statistik, von wem die Kinder heute am häufigsten
aufgeklärt werden. An erster Stelle steht die Schule. Fragt man die Kinder
jedoch, von wem sie am liebsten aufgeklärt würden, kommen überraschende
Antworten: Die Mädchen wünschen sich die Mutter als erste Ansprechperson. Bei
den Buben liegt der Vater immerhin an dritter Stelle, noch vor der Mutter. In
der Realität aber tragen die Väter kaum etwas zur Aufklärung ihrer Söhne bei.
Am Ende des Abends wäre Zeit für Fragen oder Protest. Die Eltern im Saal
bleiben ruhig, einige gehen an den Büchertisch und holen sich Inspiration fürs
nächste Gespräch mit ihrem Kind.
*
Alle Kindernamen geändert.
Leider entwickelt sich die Sexualaufklärung immer mehr zurück. Ein Beispiel ist die Bravo: Früher konnten sich dort Jugendliche mit harmlosen Aktfotos von anderen Jugendlichen vergleichen. Jetzt hat die Bravo die Altersgrenze für die Models von 16 auf 18 Jahre angehoben. Wer als Jugendlicher jetzt wissen möchte, wie Gleichaltrige nackt aussehen, gerät dann schnell auf die schlimmsten Internetseiten, statt eine legale und harmlose Möglichkeit in einer Jugendzeitschrift zu haben, im Rahmen einer Aufklärungskampagne. Darum habe ich auf Change.org, Suchwort "Sexualaufklärung" eine Petition an die Bravo gestartet, um sie dazu zu bringen, die Altersgrenze für die Models wieder von 18 auf 16 (mit Erlaubnis der Eltern der Models) herabzusetzen, weil das in Deutschland noch immer legal wäre.
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