30. Oktober 2016

Überflüssige Reformen vermeiden

Bildungsforscher Ulrich Trautwein über unheilvolle Ideologien in der deutschen Bildungslandschaft. 
Trautwein: Misstrauen bei Heilsversprechen, die nicht wissenschaftlich belegt sind. Bild: Cira Moro
Lehrer im Reformstress, Spiegel, 28.10. von Jan Friedmann

SPIEGEL: Im jüngsten Schulleistungsvergleich zwischen den Bundesländern, einer Nachfolgestudie von Pisa, schneiden Bayern und Sachsen wieder sehr gut ab. Warum sind diese Länder so erfolgreich?

Trautwein: Schulsysteme sind dann erfolgreich, wenn die Verantwortlichen ambitionierte Ziele formulieren, den Unterricht in den Mittelpunkt stellen und überflüssige Reformen vermeiden. Das sind neben anderen Faktoren allgemeine Qualitätsmerkmale, die in Bayern und Sachsen besonders ausgeprägt sind.

SPIEGEL: Diese Absichten würde wohl jeder Bildungspolitiker teilen. Woran aber ist zu erkennen, ob eine Schulreform notwendig oder überflüssig ist?

Trautwein: Ich bin immer dann misstrauisch, wenn mit einer Reform bestimmte Heilsversprechen verbunden sind, aber nicht wissenschaftlich belegt ist, dass die Maßnahme auch die Qualität des Unterrichts verbessert.

SPIEGEL: Welche Schulreformen bewerten Sie mit einer solchen Skepsis?

Trautwein: Bei der Gymnasialzeit zwischen acht und neun Jahren hin- und herzuwechseln. Neue Schultypen zu schaffen. Die etablierte Anordnung des Lernens umzuwerfen und beispielsweise den Frontalunterricht oder etablierte Lehrbücher abzuschaffen. Solche Maßnahmen sind in der Regel nicht durch Erfolg bei den Schülerleistungen gekrönt.

SPIEGEL: In der neuen Studie des Instituts zur Qualitätsentwicklung im Bildungswesen (IQB) schneidet Baden-Württemberg überraschend schlecht ab, ein traditionell leistungsorientiertes Bundesland. Widerlegt das nicht Ihre These?

Trautwein:
Frühere Schulvergleiche haben gezeigt, dass Baden-Württemberg schon seit Jahren stagniert, während sich andere Bundesländer weiterentwickeln. In jüngster Zeit ist die Unruhe hinzugekommen, welche die Schulreformen der vorigen grün-roten Landesregierung ins Schulsystem gebracht haben.


SPIEGEL: Linke Reformer haben die Schulen im Ländle ruiniert?

Trautwein: Wie gesagt: Das Land stagniert schon länger, nun haben die Neuntklässler im Vergleich zu früher schlechtere Werte erzielt, zumindest im Fach Deutsch. Einige Maßnahmen der grün-roten Landesregierung zu Beginn der Legislaturperiode waren ideologisch motiviert. Sie hat die verbindliche Schulempfehlung nach der Grundschule abgeschafft, nach der sich Eltern und Schüler richten mussten. Außerdem hat sie mit der Gemeinschaftsschule einen neuen Schultyp etabliert.

SPIEGEL: Gemeinschaftsschüler waren bei dem Test in Deutsch, Englisch und Französisch nicht dabei. Und die anderen Neuntklässler kamen zu einem Zeitpunkt auf die weiterführenden Schulen, als die verbindliche Empfehlung noch existierte. Das kann also keine Rolle spielen.

Trautwein: Für den einzelnen Schüler trifft das zu. Jedoch hat es eine Signalwirkung fürs gesamte Schulsystem, Notenhürden abzuschaffen. Es gab in Baden-Württemberg viele Propheten, die gesagt haben: Schule muss vor allem Spaß machen, wir hängen Leistung zu hoch.

SPIEGEL: Grün-Rot kam in Stuttgart erst 2011 an die Macht, vorher regierte immer die CDU. Hat die in der Schulpolitik alles richtig gemacht?

Trautwein: Sie war nur begrenzt bereit, Probleme wahrzunehmen und anzugehen. Und wo sie es tat, fand sie nicht immer die besten Lösungen. Lehrkräfte waren vom Bildungsplan 2004 überfordert und fühlten sich von der Politik alleingelassen: Zum ersten Mal sollten Schüler vor allem Kompetenzen lernen und nicht nur einen bestimmten Stoff. Außerdem haben sich die konservativen Schulpolitiker lange der Ganztagsschule verweigert, aus ideologischen Gründen, und damit die Chancen verpasst, die der Ganztag gerade auch für schwächere Schüler bietet. Die CDU hat zudem lange versäumt, auf die schwindenden Schülerzahlen an Hauptschulen adäquat zu reagieren.

SPIEGEL: Baden-Württemberg bietet bei den Schultypen eine große Vielfalt an, nach der Grundschule können Viertklässler auf ein Gymnasium, eine Gemeinschaftsschule, eine Realschule, eine Werkrealschule oder eine Hauptschule wechseln. Mindert das die Qualität?

Trautwein: Es fällt schon auf, dass Bayern und Sachsen vergleichsweise stabile und einfache Schulsysteme haben. Sachsen ist traditionell zweigliedrig, mit Gymnasien einerseits und Oberschulen andererseits. In Bayern funktioniert vielerorts noch das dreigliedrige Schulsystem aus Hauptschule, Realschule und Gymnasium. Weniger ist hier sicherlich mehr. Aber letztlich lässt sich guter Unterricht in jeder Schulstruktur verwirklichen.

SPIEGEL: Wodurch?

Trautwein: Dadurch, dass Schüler Lernzeit bekommen und diese auch wirklich nutzen. Dass sie sich von ihren Lehrern motiviert fühlen und dass ihr Fortschritt regelmäßig überprüft wird. Das alles spielt sich im Unterricht ab, zwischen Lehrern und Schülern oder zwischen Schülerinnen und Schülern untereinander.

SPIEGEL: Auch das würden wohl die meisten Schulverantwortlichen sofort unterschreiben. Wo also liegt der Fehler bei Eingriffen in die Abläufe?

Trautwein: Wir unterscheiden in der Forschung zwischen den Sichtstrukturen und den Tiefenstrukturen des Unterrichts. Sichtstruktur ist all das, was Ihnen sofort auffällt, wenn Sie in eine Stunde kommen: Spricht die Lehrkraft, oder leitet sich die Klasse selbst an? Wird der Stoff im Frontal- oder im Gruppenunterricht vermittelt? Bekommen die Schüler Hausaufgaben, oder erledigen sie alles in der Schule? Baden-Württemberg hat in jüngster Zeit zu stark auf diese Sichtstrukturen geschaut und vermeintlich moderne Formen wie den offenen Unterricht gefördert. Dabei entscheiden sie nicht über die Qualität des Lernens. Ein Pädagoge kann auch mit traditionellem Unterricht Erfolge erzielen.

SPIEGEL: Und die Tiefe?

Trautwein: Dazu gehört etwa, ob die Lehrkraft auch wirklich zur Verfügung steht, um den Stoff zu vermitteln. Oder ob sie mit anderen Dingen abgelenkt ist: der Organisation von Schulstunden etwa oder damit, die Klasse zur Ruhe zu bringen. Zur Tiefenstruktur gehört auch, dass es Lehrkräften gelingt, dass die Schüler wirklich über den Lernstoff nachdenken.

SPIEGEL: Hat Bildungspolitik überhaupt Einfluss auf solche Faktoren?

Trautwein: Es würde fürs Erste helfen, solche Maßnahmen zu unterlassen, die davon ablenken. Strukturreformen belasten die Kollegien und können dafür sorgen, dass die Lehrerinnen und Lehrer Aufgaben falsch priorisieren. Sie planen und sitzen in Konferenzen, anstatt den Unterricht vorzubereiten oder einzelne Schüler zu fördern. Sie sind abgelenkt vom Kerngeschäft.

SPIEGEL: Dürfen Politiker nach dieser Logik überhaupt nichts in den Schulen verändern?

Trautwein: Sie sollten es sich besser überlegen und die Effekte regelmäßig überprüfen. Ein Beispiel: In Baden-Württemberg existieren verschiedene Methoden des Lesen- und Schreibenlernens nebeneinander. Zum Teil hängen die einzelnen Pädagogischen Hochschulen im Südwesten abweichenden Methoden an. Dabei existieren kaum fundierte wissenschaftliche Studien, die beispielsweise belegen würden, dass Schreiben nach Hören mit einer Anlauttabelle bei den meisten Schülern besser funktioniert als die Alternativen. Trotzdem wird das an etlichen Schulen so gelehrt, und die Schulbürokratie schaut zu. Das wäre so, als ob in einem Krankenhaus Schul- und Alternativmedizin gleichberechtigt nebeneinander praktiziert werden dürften. Es ist wichtig, die Effizienz zu überprüfen und Qualität zu sichern. Andere Länder haben früher als Baden-Württemberg angefangen, ein professionelles Bildungsmonitoring sowie funktionierende Fortbildungssysteme aufzubauen.

SPIEGEL: Wer ist hier vorbildlich?

Trautwein: Bayern hat traditionell eine gut funktionierende Schulaufsicht. Aber auch Hamburg oder Schleswig-Holstein sind zu nennen, Bundesländer, die in den vergangenen Jahren stark aufgeholt haben. Brandenburg hat aus schwachen Ergebnissen in Englisch die richtigen Konsequenzen gezogen und in die Fortbildung investiert. Wichtig ist auch, dass Schulen professionell geleitet werden: An der Universität Kiel gibt es einen Studiengang für angehende Schulleiterinnen und Schulleiter. Auch in Bayern kommen Führungskräfte in der Regel erst an die Schulen, nachdem sie einen Vorbereitungskurs am Bayerischen Staatsinstitut durchlaufen haben.

SPIEGEL: Anstatt solche positiven Beispiele hervorzuheben, bringen Leistungsvergleiche einzelne Bundesländer in Nöte. Sollten wir besser auf Studien wie Pisa oder den IQB-Bildungstrend verzichten?

Trautwein: Im Gegenteil, die internationalen und auch die nationalen Leistungsvergleiche sind enorm hilfreich, besonders durch die Zeitreihen. Es geht häufig die Klage, dass sowieso immer das Gleiche herauskäme: Bayern oben, Bremen unten. Doch das stimmt nur bedingt, wie nun das Beispiel Baden-Württembergs zeigt: Es bewegt sich eben doch etwas. Solche Tests belegen die Dynamik eines Schulsystems. Es hilft nichts, sich zu beschweren, wenn die Diagnose anders ausfällt als erwünscht.

SPIEGEL: Geben die Schülerleistungen nicht einfach die sozialen Strukturen eines Bundeslandes wieder? Arm versus Reich, ein geringerer Migrantenanteil in Ostdeutschland, die die Ergebnisse verzerren?

Trautwein: Es stimmt, die soziale Herkunft eines Schülers beeinflusst dessen Schulleistungen. Wenn die Forschung solche Faktoren herausrechnet, werden die Unterschiede zwischen den Bundesländern zwar geringer, aber die Ranglisten kehren sich nicht um.

SPIEGEL: Wie beeinflusst der Anteil der Migranten das Abschneiden?

Trautwein: Der soziale Status prägt stärker als das Herkunftsland. In Ländern mit selektiver Zuwanderung wie Kanada schneiden Migranten in Leistungstests teilweise besser ab als Schüler ohne Migrationshintergrund. Migrantinnen und Migranten gehören in unser Schulsystem, wir haben die Aufgabe, sie bestmöglich zu beschulen.

SPIEGEL: Sollten die Bundesländer für eine bessere Schulqualität zusätzliche Lehrer einstellen?

Trautwein: Der Ruf nach neuen Stellen ist oft der erste Reflex der Lehrerverbände. Doch ohne den Unterricht zu verbessern, wird es nicht gehen. Dazu gehört neben systematischer Fortbildung auch, Lehrer sorgfältig auszuwählen. Baden-Württemberg hatte in den vergangenen Jahren einen hohen Bedarf an Pädagogen: Praktisch jeder, der mit dem Referendariat fertig wurde, bekam direkt eine Stelle auf Lebenszeit, es gab kaum einen Bewerberüberhang. Das ist auf Dauer nicht gut.

SPIEGEL: Was raten Sie der Politik?

Trautwein: Es wird künftig in der Konkurrenz der Bundesländer um Arbeitskräfte und Familien noch wichtiger werden, ein attraktives und leistungsfähiges Schulsystem vorweisen zu können. Ich würde der Politik allerdings raten, mit langem Atem zu agieren. Es dauert bisweilen Jahre, bis sich Verbesserungen in den Leistungen niederschlagen, genauso wie es Jahre dauert, bis Probleme sichtbar werden. Insgesamt ist Deutschland auf einem guten Weg: Die Bundesrepublik hat sich seit der ersten Pisa-Studie im Jahr 2000 immer weiter verbessert. Die Anstrengung lohnt sich.


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