Trautwein: Misstrauen bei Heilsversprechen, die nicht wissenschaftlich belegt sind. Bild: Cira Moro
Lehrer im Reformstress, Spiegel, 28.10. von Jan Friedmann
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Trautwein: Schulsysteme
sind dann erfolgreich, wenn die Verantwortlichen ambitionierte Ziele
formulieren, den Unterricht in den Mittelpunkt stellen und überflüssige Reformen
vermeiden. Das sind neben anderen Faktoren allgemeine Qualitätsmerkmale, die in
Bayern und Sachsen besonders ausgeprägt sind.
SPIEGEL: Diese
Absichten würde wohl jeder Bildungspolitiker teilen. Woran aber ist zu
erkennen, ob eine Schulreform notwendig oder überflüssig ist?
Trautwein: Ich bin immer
dann misstrauisch, wenn mit einer Reform bestimmte Heilsversprechen verbunden
sind, aber nicht wissenschaftlich belegt ist, dass die Maßnahme auch die
Qualität des Unterrichts verbessert.
SPIEGEL: Welche Schulreformen
bewerten Sie mit einer solchen Skepsis?
Trautwein: Bei der
Gymnasialzeit zwischen acht und neun Jahren hin- und herzuwechseln. Neue
Schultypen zu schaffen. Die etablierte Anordnung des Lernens umzuwerfen und
beispielsweise den Frontalunterricht oder etablierte Lehrbücher abzuschaffen.
Solche Maßnahmen sind in der Regel nicht durch Erfolg bei den Schülerleistungen
gekrönt.
SPIEGEL: In der neuen
Studie des Instituts zur Qualitätsentwicklung im Bildungswesen (IQB) schneidet Baden-Württemberg überraschend schlecht ab,
ein traditionell leistungsorientiertes Bundesland. Widerlegt das nicht Ihre
These?
Trautwein:
Frühere
Schulvergleiche haben gezeigt, dass Baden-Württemberg schon seit Jahren
stagniert, während sich andere Bundesländer weiterentwickeln. In jüngster Zeit
ist die Unruhe hinzugekommen, welche die Schulreformen der vorigen grün-roten
Landesregierung ins Schulsystem gebracht haben.
SPIEGEL: Linke
Reformer haben die Schulen im Ländle ruiniert?
Trautwein: Wie gesagt:
Das Land stagniert schon länger, nun haben die Neuntklässler im Vergleich zu
früher schlechtere Werte erzielt, zumindest im Fach Deutsch. Einige Maßnahmen
der grün-roten Landesregierung zu Beginn der Legislaturperiode waren
ideologisch motiviert. Sie hat die verbindliche Schulempfehlung nach der
Grundschule abgeschafft, nach der sich Eltern und Schüler richten mussten.
Außerdem hat sie mit der Gemeinschaftsschule einen neuen Schultyp etabliert.
SPIEGEL: Gemeinschaftsschüler
waren bei dem Test in Deutsch, Englisch und Französisch nicht dabei. Und die
anderen Neuntklässler kamen zu einem Zeitpunkt auf die weiterführenden Schulen,
als die verbindliche Empfehlung noch existierte. Das kann also keine Rolle
spielen.
Trautwein: Für den
einzelnen Schüler trifft das zu. Jedoch hat es eine Signalwirkung fürs gesamte
Schulsystem, Notenhürden abzuschaffen. Es gab in Baden-Württemberg viele
Propheten, die gesagt haben: Schule muss vor allem Spaß machen, wir hängen
Leistung zu hoch.
SPIEGEL: Grün-Rot kam
in Stuttgart erst 2011 an die Macht, vorher regierte immer die CDU. Hat die in
der Schulpolitik alles richtig gemacht?
Trautwein: Sie war nur
begrenzt bereit, Probleme wahrzunehmen und anzugehen. Und wo sie es tat, fand
sie nicht immer die besten Lösungen. Lehrkräfte waren vom Bildungsplan 2004
überfordert und fühlten sich von der Politik alleingelassen: Zum ersten Mal
sollten Schüler vor allem Kompetenzen lernen und nicht nur einen bestimmten
Stoff. Außerdem haben sich die konservativen Schulpolitiker lange der
Ganztagsschule verweigert, aus ideologischen Gründen, und damit die Chancen
verpasst, die der Ganztag gerade auch für schwächere Schüler bietet. Die CDU
hat zudem lange versäumt, auf die schwindenden Schülerzahlen an Hauptschulen
adäquat zu reagieren.
SPIEGEL: Baden-Württemberg
bietet bei den Schultypen eine große Vielfalt an, nach der Grundschule können
Viertklässler auf ein Gymnasium, eine Gemeinschaftsschule, eine Realschule,
eine Werkrealschule oder eine Hauptschule wechseln. Mindert das die Qualität?
Trautwein: Es fällt
schon auf, dass Bayern und Sachsen vergleichsweise stabile und einfache
Schulsysteme haben. Sachsen ist traditionell zweigliedrig, mit Gymnasien
einerseits und Oberschulen andererseits. In Bayern funktioniert vielerorts noch
das dreigliedrige Schulsystem aus Hauptschule, Realschule und Gymnasium.
Weniger ist hier sicherlich mehr. Aber letztlich lässt sich guter Unterricht in
jeder Schulstruktur verwirklichen.
SPIEGEL: Wodurch?
Trautwein: Dadurch, dass
Schüler Lernzeit bekommen und diese auch wirklich nutzen. Dass sie sich von
ihren Lehrern motiviert fühlen und dass ihr Fortschritt regelmäßig überprüft
wird. Das alles spielt sich im Unterricht ab, zwischen Lehrern und Schülern
oder zwischen Schülerinnen und Schülern untereinander.
SPIEGEL: Auch das
würden wohl die meisten Schulverantwortlichen sofort unterschreiben. Wo also
liegt der Fehler bei Eingriffen in die Abläufe?
Trautwein: Wir
unterscheiden in der Forschung zwischen den Sichtstrukturen und den
Tiefenstrukturen des Unterrichts. Sichtstruktur ist all das, was Ihnen sofort
auffällt, wenn Sie in eine Stunde kommen: Spricht die Lehrkraft, oder leitet
sich die Klasse selbst an? Wird der Stoff im Frontal- oder im Gruppenunterricht
vermittelt? Bekommen die Schüler Hausaufgaben, oder erledigen sie alles in der
Schule? Baden-Württemberg hat in jüngster Zeit zu stark auf diese
Sichtstrukturen geschaut und vermeintlich moderne Formen wie den offenen
Unterricht gefördert. Dabei entscheiden sie nicht über die Qualität des
Lernens. Ein Pädagoge kann auch mit traditionellem Unterricht Erfolge erzielen.
SPIEGEL: Und die
Tiefe?
Trautwein: Dazu gehört
etwa, ob die Lehrkraft auch wirklich zur Verfügung steht, um den Stoff zu
vermitteln. Oder ob sie mit anderen Dingen abgelenkt ist: der Organisation von
Schulstunden etwa oder damit, die Klasse zur Ruhe zu bringen. Zur
Tiefenstruktur gehört auch, dass es Lehrkräften gelingt, dass die Schüler
wirklich über den Lernstoff nachdenken.
SPIEGEL: Hat
Bildungspolitik überhaupt Einfluss auf solche Faktoren?
Trautwein: Es würde fürs
Erste helfen, solche Maßnahmen zu unterlassen, die davon ablenken.
Strukturreformen belasten die Kollegien und können dafür sorgen, dass die
Lehrerinnen und Lehrer Aufgaben falsch priorisieren. Sie planen und sitzen in
Konferenzen, anstatt den Unterricht vorzubereiten oder einzelne Schüler zu
fördern. Sie sind abgelenkt vom Kerngeschäft.
SPIEGEL: Dürfen
Politiker nach dieser Logik überhaupt nichts in den Schulen verändern?
Trautwein: Sie sollten
es sich besser überlegen und die Effekte regelmäßig überprüfen. Ein Beispiel:
In Baden-Württemberg existieren verschiedene Methoden des Lesen- und
Schreibenlernens nebeneinander. Zum Teil hängen die einzelnen Pädagogischen
Hochschulen im Südwesten abweichenden Methoden an. Dabei existieren kaum
fundierte wissenschaftliche Studien, die beispielsweise belegen würden, dass
Schreiben nach Hören mit einer Anlauttabelle bei den meisten Schülern besser
funktioniert als die Alternativen. Trotzdem wird das an etlichen Schulen so
gelehrt, und die Schulbürokratie schaut zu. Das wäre so, als ob in einem
Krankenhaus Schul- und Alternativmedizin gleichberechtigt nebeneinander
praktiziert werden dürften. Es ist wichtig, die Effizienz zu überprüfen und
Qualität zu sichern. Andere Länder haben früher als Baden-Württemberg
angefangen, ein professionelles Bildungsmonitoring sowie funktionierende
Fortbildungssysteme aufzubauen.
SPIEGEL: Wer ist hier
vorbildlich?
Trautwein: Bayern hat
traditionell eine gut funktionierende Schulaufsicht. Aber auch Hamburg oder
Schleswig-Holstein sind zu nennen, Bundesländer, die in den vergangenen Jahren
stark aufgeholt haben. Brandenburg hat aus schwachen Ergebnissen in Englisch
die richtigen Konsequenzen gezogen und in die Fortbildung investiert. Wichtig
ist auch, dass Schulen professionell geleitet werden: An der Universität Kiel
gibt es einen Studiengang für angehende Schulleiterinnen und Schulleiter. Auch
in Bayern kommen Führungskräfte in der Regel erst an die Schulen, nachdem sie
einen Vorbereitungskurs am Bayerischen Staatsinstitut durchlaufen haben.
SPIEGEL: Anstatt
solche positiven Beispiele hervorzuheben, bringen Leistungsvergleiche einzelne
Bundesländer in Nöte. Sollten wir besser auf Studien wie Pisa oder den
IQB-Bildungstrend verzichten?
Trautwein: Im Gegenteil,
die internationalen und auch die nationalen Leistungsvergleiche sind enorm
hilfreich, besonders durch die Zeitreihen. Es geht häufig die Klage, dass
sowieso immer das Gleiche herauskäme: Bayern oben, Bremen unten. Doch das
stimmt nur bedingt, wie nun das Beispiel Baden-Württembergs zeigt: Es bewegt
sich eben doch etwas. Solche Tests belegen die Dynamik eines Schulsystems. Es
hilft nichts, sich zu beschweren, wenn die Diagnose anders ausfällt als
erwünscht.
SPIEGEL: Geben die
Schülerleistungen nicht einfach die sozialen Strukturen eines Bundeslandes
wieder? Arm versus Reich, ein geringerer Migrantenanteil in Ostdeutschland, die
die Ergebnisse verzerren?
Trautwein: Es stimmt, die
soziale Herkunft eines Schülers beeinflusst dessen Schulleistungen. Wenn die
Forschung solche Faktoren herausrechnet, werden die Unterschiede zwischen den
Bundesländern zwar geringer, aber die Ranglisten kehren sich nicht um.
SPIEGEL: Wie
beeinflusst der Anteil der Migranten das Abschneiden?
Trautwein: Der soziale
Status prägt stärker als das Herkunftsland. In Ländern mit selektiver
Zuwanderung wie Kanada schneiden Migranten in Leistungstests teilweise besser
ab als Schüler ohne Migrationshintergrund. Migrantinnen und Migranten gehören
in unser Schulsystem, wir haben die Aufgabe, sie bestmöglich zu beschulen.
SPIEGEL: Sollten die
Bundesländer für eine bessere Schulqualität zusätzliche Lehrer einstellen?
Trautwein: Der Ruf nach
neuen Stellen ist oft der erste Reflex der Lehrerverbände. Doch ohne den
Unterricht zu verbessern, wird es nicht gehen. Dazu gehört neben systematischer
Fortbildung auch, Lehrer sorgfältig auszuwählen. Baden-Württemberg hatte in den
vergangenen Jahren einen hohen Bedarf an Pädagogen: Praktisch jeder, der mit
dem Referendariat fertig wurde, bekam direkt eine Stelle auf Lebenszeit, es gab
kaum einen Bewerberüberhang. Das ist auf Dauer nicht gut.
SPIEGEL: Was raten Sie
der Politik?
Trautwein: Es wird
künftig in der Konkurrenz der Bundesländer um Arbeitskräfte und Familien noch
wichtiger werden, ein attraktives und leistungsfähiges Schulsystem vorweisen zu
können. Ich würde der Politik allerdings raten, mit langem Atem zu agieren. Es
dauert bisweilen Jahre, bis sich Verbesserungen in den Leistungen
niederschlagen, genauso wie es Jahre dauert, bis Probleme sichtbar werden.
Insgesamt ist Deutschland auf einem guten Weg: Die Bundesrepublik hat sich seit
der ersten Pisa-Studie im Jahr 2000 immer weiter verbessert. Die Anstrengung
lohnt sich.
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