28. Oktober 2016

Unterschiede zwischen Deutsch- und Westschweiz

Punkt 10 Uhr morgens öffnet sich ein Röstigraben über den Vorplatz der zweisprachigen Primarschule Schönberg in der Stadt Freiburg. Der Gong läutet das Ende der grossen Pause für die deutschsprachigen und den Beginn der récréation für die französischsprachigen Schüler ein. Johlend stürmen Erstere in Richtung des Eingangs mit der Aufschrift «Deutsche Primarklassen». Einige Treppenstufen weiter unten öffnet sich eine zweite Tür, die mit «classes primaires françaises» angeschrieben ist. Lukas, Mia und Anna müssen zurück ins Schulzimmer, Bühne frei für Emilie, Loïc und Jean!
In der Westschweiz gibt es mehr Frontalunterricht, Bild: Karin Hofer
Schule ist nicht gleich "école", NZZ, 28.10. von Andrea Kucera



Autonomie contra Kontrolle
Es fällt auf, dass auf einmal die Unihockeyschläger, Fussbälle, Stelzen und Frisbees verschwunden sind, die noch vor kurzem in Gebrauch waren. Die Spielsachen werden den französischsprachigen Kindern nicht etwa vorenthalten, weil die Deutschschweizer nicht teilen mögen, sondern weil die französischsprachige Schulleitung keine Gerätschaften zur Verfügung stellen will. Sie hat Angst, die Sachen könnten zu Schaden kommen oder die Kinder sich verletzen. Also werden Schläger, Bälle und Stelzen in einem Schopf eingeschlossen, bevor Emilie, Loïc und Jean den Pausenplatz in Beschlag nehmen. Die Schulleitung der deutschsprachigen Sektion handhabt den Umgang mit den Sportgeräten gelassener: Sie setzt grundsätzlich auf das Verantwortungsbewusstsein der Primarschüler und nimmt das Risiko eines kaputten Schlägers in Kauf.

Das unterschiedliche Pausenplatz-Regime steht sinnbildlich für die schulkulturellen Differenzen zwischen der Deutsch- und der Westschweiz. Während in den deutschsprachigen Schulen Partizipation und Autonomie der Schüler grossgeschrieben werden, ist der Westschweizer Ansatz stärker auf Kontrolle und hierarchische Strukturen ausgerichtet. Das zeigt sich nicht nur auf dem Pausenplatz, sondern vor allem in den Schulstuben: Im deutschsprachigen Kantonsteil haben längst altersdurchmischtes Lernen, individuelle Lernziele und Werkstatt-Unterricht Einzug gehalten. In der Westschweiz hält sich der Frontalunterricht hartnäckiger. Es wird mehr klassische Wissensvermittlung und weniger Projektarbeit praktiziert.

«Der Westschweizer Ansatz ist institutionalisierter, hierarchischer und strukturierter», bestätigt der Freiburger Bildungsdirektor Jean-Pierre Siggen. «Ein bisschen mehr à la française.» Die Deutschschweizer Schule sei unternehmerischer und lasse dem Individuum mehr Autonomie. Reformen würden dort auch mal von der Basis angestossen, in der französischsprachigen Schweiz funktioniere die Volksschule hingegen mehrheitlich nach dem Top-down-Prinzip. Eigentlich erstaunlich im Lichte solcher Aussagen, dass den Deutschschweizern nach wie vor das Vorurteil anhaftet, diszipliniert, organisiert und hierarchisch zu sein, während den Westschweizern nachgesagt wird, sie betrieben eher ein Laissez-faire.

Kann ein Kind spielend lernen?
Bleibt die Frage, woher diese Unterschiede kommen. «Die Reformpädagogik, welche die Erziehung aus der Perspektive des Kindes heraus denkt, hat in der Deutschschweiz viel stärker Einzug gehalten als in der französischsprachigen Schweiz», sagt Lukas Lehman. Er ist Abteilungsleiter Grundausbildung an der pädagogischen Hochschule (PH) des Kantons Freiburg, an der sowohl die angehenden französischsprachigen wie die künftigen deutschsprachigen Primarlehrer studieren. Bezeichnend sei etwa, sagt Lehmann, dass man auf Deutsch vom Kindergarten spreche, in der Westschweiz dagegen vom «degré préscolaire», von der Vorschulstufe. «Der Leistungsgedanke ist in der Romandie stärker ausgeprägt», sagt er. «Spielen als Lernform ist hingegen kaum bekannt.»

Zu reden geben die unterschiedlichen pädagogischen Ansätze dieser Tage in Freiburg, weil im Sommer das Reglement zum neuen Schulgesetz in Kraft getreten ist. Es soll die Praxis in den Freiburger Schulstuben vereinheitlichen, also die Differenz zwischen den zwei Ansätzen ausgleichen. Dass dabei mehr Konzepte der Deutschschweizer Schule von den Französischsprachigen übernommen wurden als umgekehrt, kommt nicht überall gut an. Für Diskussionsstoff sorgt etwa die Abschaffung der obligatorischen Prüfung gegen Ende der sechsten Primarklasse. Dem eintägigen Test – PPO genannt – hatten sich jeweils im März alle französischsprachigen Schüler zu unterziehen. Die besten 25 Prozent wurden für das Vorgymnasium zugelassen, was später den Übertritt ans Gymnasium erlaubte. Alle anderen Schüler kamen an die normale Orientierungsschule, womit ihnen der Zugang zur Matur ein für allemal verbaut war.

In Zweierreihe einstehen
Seit diesem Sommer ist der Einstufungstest Vergangenheit. «Wir haben uns von der Deutschschweizer Praxis inspirieren lassen und die Durchlässigkeit erhöht», sagt Siggen. Nun sorgt sich der französischsprachige FDP-Grossrat Didier Castella um die Qualität des französischsprachigen Unterrichtswesens. Leistung müsse schliesslich evaluiert werde, schreibt er in einer parlamentarischen Anfrage. Die offizielle Antwort des Staatsrates auf Castellas Schreiben liegt noch nicht vor. Auf Anfrage sagt Siggen, er befürchte keine Qualitätseinbussen, sondern sei überzeugt, dass die frühe Weichenstellung durch die PPO mehr geschadet als genützt habe.

Der Augenschein an der Primarschule Schönberg hält noch eine weitere Überraschung bereit: Als der Gong um 10 Uhr 20 das Ende der Pause für die Westschweizer Kinder einläutet, stürmen Emilie, Loïc und Jean nicht wie die Deutschschweizer Schüler nach drinnen. Stattdessen stellen sich die Kinder klassenweise an einem bestimmten Ort auf dem Pausenplatz in eine Zweierreihe. Kurz darauf werden sie von einer Lehrerin abgeholt und ins Schulhaus geführt. Händchen haltend geht es zurück ins Klassenzimmer.


1 Kommentar:

  1. Da kann man unsere Westschweizer Compatriotes nur beglückwünschen, dass sie - wie übrigens auch Frankreich - der amerikanischen Kulturhegemonie die Stirne bieten und nicht jeden Unsinn mitmachen. Die Menschen und vorallem die Heranwachsenden brauchen Strukturen, um sich orientieren zu können. Daran hat sich nichts geändert. Die Auswüchse des Larifari und Laisser faire kennen wird ja bereits. Dass sich das nicht nur im sozialen Umgang sondern auch in der Qualität der Leistungen negativ niederschlägt, dürfte niemanden überraschen. Wie wäre es, wenn diejenigen, die den Röstigraben beklagen, von ihrem hohen Ross herunter steigen und von der Westschweiz etwas lernen würden?

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