Punkt 10 Uhr
morgens öffnet sich ein Röstigraben über den Vorplatz der zweisprachigen Primarschule Schönberg in der Stadt Freiburg. Der Gong läutet
das Ende der grossen Pause für die deutschsprachigen und den Beginn der
récréation für die französischsprachigen Schüler ein. Johlend stürmen Erstere
in Richtung des Eingangs mit der Aufschrift «Deutsche Primarklassen». Einige
Treppenstufen weiter unten öffnet sich eine zweite Tür, die mit «classes primaires
françaises» angeschrieben ist. Lukas, Mia und Anna müssen zurück ins
Schulzimmer, Bühne frei für Emilie, Loïc und Jean!
In der Westschweiz gibt es mehr Frontalunterricht, Bild: Karin Hofer
Schule ist nicht gleich "école", NZZ, 28.10. von Andrea Kucera
|
Autonomie
contra Kontrolle
Es
fällt auf, dass auf einmal die Unihockeyschläger, Fussbälle, Stelzen und
Frisbees verschwunden sind, die noch vor kurzem in Gebrauch waren. Die
Spielsachen werden den französischsprachigen Kindern nicht etwa vorenthalten,
weil die Deutschschweizer nicht teilen mögen, sondern weil die
französischsprachige Schulleitung keine Gerätschaften zur Verfügung stellen
will. Sie hat Angst, die Sachen könnten zu Schaden kommen oder die Kinder sich
verletzen. Also werden Schläger, Bälle und Stelzen in einem Schopf
eingeschlossen, bevor Emilie, Loïc und Jean den Pausenplatz in Beschlag nehmen.
Die Schulleitung der deutschsprachigen Sektion handhabt den Umgang mit den
Sportgeräten gelassener: Sie setzt grundsätzlich auf das
Verantwortungsbewusstsein der Primarschüler und nimmt das Risiko eines kaputten
Schlägers in Kauf.
Das
unterschiedliche Pausenplatz-Regime steht sinnbildlich für die schulkulturellen
Differenzen zwischen der Deutsch- und der Westschweiz. Während in den
deutschsprachigen Schulen Partizipation und Autonomie der Schüler
grossgeschrieben werden, ist der Westschweizer Ansatz stärker auf Kontrolle und
hierarchische Strukturen ausgerichtet. Das zeigt sich nicht nur auf dem
Pausenplatz, sondern vor allem in den Schulstuben: Im deutschsprachigen
Kantonsteil haben längst altersdurchmischtes Lernen, individuelle Lernziele und
Werkstatt-Unterricht Einzug gehalten. In der Westschweiz hält sich der
Frontalunterricht hartnäckiger. Es wird mehr klassische Wissensvermittlung und
weniger Projektarbeit praktiziert.
«Der
Westschweizer Ansatz ist institutionalisierter, hierarchischer und
strukturierter», bestätigt der Freiburger Bildungsdirektor Jean-Pierre Siggen.
«Ein bisschen mehr à la française.» Die Deutschschweizer Schule sei
unternehmerischer und lasse dem Individuum mehr Autonomie. Reformen würden dort
auch mal von der Basis angestossen, in der französischsprachigen Schweiz
funktioniere die Volksschule hingegen mehrheitlich nach dem Top-down-Prinzip.
Eigentlich erstaunlich im Lichte solcher Aussagen, dass den Deutschschweizern
nach wie vor das Vorurteil anhaftet, diszipliniert, organisiert und
hierarchisch zu sein, während den Westschweizern nachgesagt wird, sie betrieben
eher ein Laissez-faire.
Kann
ein Kind spielend lernen?
Bleibt
die Frage, woher diese Unterschiede kommen. «Die Reformpädagogik, welche die
Erziehung aus der Perspektive des Kindes heraus denkt, hat in der
Deutschschweiz viel stärker Einzug gehalten als in der französischsprachigen
Schweiz», sagt Lukas Lehman. Er ist Abteilungsleiter Grundausbildung an der
pädagogischen Hochschule (PH) des Kantons Freiburg, an der sowohl die
angehenden französischsprachigen wie die künftigen deutschsprachigen
Primarlehrer studieren. Bezeichnend sei etwa, sagt Lehmann, dass man auf
Deutsch vom Kindergarten spreche, in der Westschweiz dagegen
vom «degré préscolaire», von der Vorschulstufe. «Der Leistungsgedanke ist in
der Romandie stärker ausgeprägt», sagt er. «Spielen als Lernform ist hingegen
kaum bekannt.»
Zu
reden geben die unterschiedlichen pädagogischen Ansätze dieser Tage in
Freiburg, weil im Sommer das Reglement zum neuen Schulgesetz in
Kraft getreten ist. Es soll die Praxis in den Freiburger Schulstuben
vereinheitlichen, also die Differenz zwischen den zwei Ansätzen ausgleichen.
Dass dabei mehr Konzepte der Deutschschweizer Schule von den
Französischsprachigen übernommen wurden als umgekehrt, kommt nicht überall gut
an. Für Diskussionsstoff sorgt etwa die Abschaffung der obligatorischen Prüfung
gegen Ende der sechsten Primarklasse. Dem eintägigen Test – PPO genannt –
hatten sich jeweils im März alle französischsprachigen Schüler zu unterziehen.
Die besten 25 Prozent wurden für das Vorgymnasium zugelassen, was später den
Übertritt ans Gymnasium erlaubte. Alle anderen Schüler kamen an die normale
Orientierungsschule, womit ihnen der Zugang zur Matur ein für allemal verbaut
war.
In
Zweierreihe einstehen
Seit
diesem Sommer ist der Einstufungstest Vergangenheit. «Wir haben uns von der
Deutschschweizer Praxis inspirieren lassen und die Durchlässigkeit erhöht»,
sagt Siggen. Nun sorgt sich der französischsprachige FDP-Grossrat Didier
Castella um die Qualität des französischsprachigen Unterrichtswesens. Leistung
müsse schliesslich evaluiert werde, schreibt er in einer parlamentarischen
Anfrage. Die offizielle Antwort des Staatsrates auf Castellas Schreiben liegt
noch nicht vor. Auf Anfrage sagt Siggen, er befürchte keine Qualitätseinbussen,
sondern sei überzeugt, dass die frühe Weichenstellung durch die PPO mehr
geschadet als genützt habe.
Der
Augenschein an der Primarschule Schönberg hält noch eine weitere Überraschung
bereit: Als der Gong um 10 Uhr 20 das Ende der Pause für die Westschweizer
Kinder einläutet, stürmen Emilie, Loïc und Jean nicht wie die Deutschschweizer
Schüler nach drinnen. Stattdessen stellen sich die Kinder klassenweise an einem
bestimmten Ort auf dem Pausenplatz in eine Zweierreihe. Kurz darauf werden sie
von einer Lehrerin abgeholt und ins Schulhaus geführt. Händchen haltend geht es
zurück ins Klassenzimmer.
Da kann man unsere Westschweizer Compatriotes nur beglückwünschen, dass sie - wie übrigens auch Frankreich - der amerikanischen Kulturhegemonie die Stirne bieten und nicht jeden Unsinn mitmachen. Die Menschen und vorallem die Heranwachsenden brauchen Strukturen, um sich orientieren zu können. Daran hat sich nichts geändert. Die Auswüchse des Larifari und Laisser faire kennen wird ja bereits. Dass sich das nicht nur im sozialen Umgang sondern auch in der Qualität der Leistungen negativ niederschlägt, dürfte niemanden überraschen. Wie wäre es, wenn diejenigen, die den Röstigraben beklagen, von ihrem hohen Ross herunter steigen und von der Westschweiz etwas lernen würden?
AntwortenLöschen