24. Oktober 2016

Didaktikmoden als Ausfluss von Wunschdenken

Bald jedes Jahr werden neue Lehr- und Lernmethoden propagiert und verschwinden ebenso bald wieder in der Versenkung. Dabei ist gegen Neuerungen an sich nichts einzuwenden. Aber sie müssen organisch gewachsen sein, müssen auf Bewährtem aufbauen. Und hier liegt in unserem Schulsystem zurzeit vieles im Argen; an die Stelle einer bedachten Weiterentwicklung der Pädagogik ist von Seiten der Politiker, durch die rasanten gesellschaftlichen Veränderungen verunsichert, eine Reformwut getreten, die aus den Schulen Dauerbaustellen macht. Das ärgert nicht nur die Lehrer, die sich zunehmend entmündigt fühlen.
Reformwütige Politiker, genervte Lehrer, St. Galler Tagblatt, 20.10. von Mario Andreotti


In der Klasse sitzen Kinder verschiedener Altersgruppen. Warum sie zusammensitzen, ist nicht klar, da jedes Kind einzeln lernt. Ab und zu steht ein Kind auf und läuft zu einem Fach, aus dem es einen Arbeitsbogen zieht, um damit zu seinem Platz zurückzukehren. Die Lehrerin hält sich zurück, kümmert sich vielleicht um ein Kind, das mit seinem Arbeitsbogen nicht klarkommt, oder geht umher und kontrolliert, ob alle etwas tun. Wo das funktioniert, ist eine solche Klasse eine imponierende, summende Lernmaschine. Wo es nicht funktioniert – ein Chaos.

«Selbstbestimmtes Lernen» oder «offener Unterricht» nennt sich diese seit Jahren praktizierte, neue Unterrichtsform, in der nicht mehr der Lehrer den Unterricht führt, sondern die Schüler den Lernstoff allein oder in Gruppen erarbeiten. Der Lehrer ist dabei nur noch Coach, Begleiter von Lernprozessen. Es handelt sich um eine der neuen Methoden, die eine Alternative zum klassischen Frontalunterricht, also zum lehrerzentrierten Unterricht, sein wollen. Ihm wird vorgeworfen, er erzeuge ein träges Wissen, das den Anforderungen einer Welt, die sich dauernd wandle, widerspreche. Um sich in einer Gesellschaft zurechtzufinden, in der sich Information und Wissen rapide vermehren und verändern, müssten Schüler lernen, Handlungs- und Anwendungskompetenzen zu entwickeln – und nicht vom Lehrer vorstrukturiertes Sachwissen zu reproduzieren.

Das mag schlüssig klingen. Nur sind uns die Reformpädagogen bis heute den Beweis schuldig geblieben, dass Schüler in einem offenen Unterricht besser lernen als im Frontalunterricht. Die zurzeit vorherrschende Didaktikmode ist denn auch weniger das Ergebnis experimenteller Arbeit als vielmehr Ausfluss von Wunschdenken. Neuere Studien über Unterrichtsformen belegen, dass der Frontalunterricht insgesamt bessere Schülerleistungen sichert als selbstbestimmtes, offenes Lernen. Das erklärt sich zum einen wohl daraus, dass frontales Unterrichten im Klassenverband eine schnelle, präzise und kompakte Darstellung von Lerngegenständen ermöglicht, und zum andern, dass der Lehrer unmittelbar motivierend auf die Schüler wirken kann. Dazu kommt, dass viele «einfache» Lerninhalte, wie Benennungen, Formeln, Vokabeln usw., sich für andere Unterrichtsformen schlichtweg nicht eignen. Und nicht zuletzt erlaubt allein der Frontalunterricht, von ihm abweichende Lernformen einzubauen. Was den guten Lehrer ja gerade auszeichnet.

Wer das Glück hatte, eine gute Lehrerin oder einen guten Lehrer zu erleben, weiss, wie wichtig die Lehrerpersönlichkeit für den Lernerfolg ist. Gerade in den letzten Jahren konnte in Studien immer wieder nachgewiesen werden, dass für die Lernleistung weniger die Methode oder irgendwelche Technik als vielmehr der Lehrer entscheidend ist. Mit Qualität und Aura der Lehrperson steht und fällt jedes Unterrichtskonzept. Ja, ohne ein besonderes Charisma ist weder durch einen Unterricht im Klassenverband noch durch andere Unterrichtsformen etwas zu erreichen. Am Lehrer und seiner Fähigkeit, mit einer Gruppe zu interagieren, aus einer Ansammlung von Individuen eine Lerngruppe zu schaffen, hängt alles. Eine der wenigen pädagogischen Erkenntnisse, die nie veralten.


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