Bald jedes Jahr werden neue Lehr- und Lernmethoden propagiert und
verschwinden ebenso bald wieder in der Versenkung. Dabei ist gegen Neuerungen
an sich nichts einzuwenden. Aber sie müssen organisch gewachsen sein, müssen
auf Bewährtem aufbauen. Und hier liegt in unserem Schulsystem zurzeit vieles im
Argen; an die Stelle einer bedachten Weiterentwicklung der Pädagogik ist von
Seiten der Politiker, durch die rasanten gesellschaftlichen Veränderungen
verunsichert, eine Reformwut getreten, die aus den Schulen Dauerbaustellen
macht. Das ärgert nicht nur die Lehrer, die sich zunehmend entmündigt fühlen.
Reformwütige Politiker, genervte Lehrer, St. Galler Tagblatt, 20.10. von Mario Andreotti
In der Klasse sitzen Kinder verschiedener Altersgruppen. Warum sie
zusammensitzen, ist nicht klar, da jedes Kind einzeln lernt. Ab und zu steht
ein Kind auf und läuft zu einem Fach, aus dem es einen Arbeitsbogen zieht, um
damit zu seinem Platz zurückzukehren. Die Lehrerin hält sich zurück, kümmert
sich vielleicht um ein Kind, das mit seinem Arbeitsbogen nicht klarkommt, oder
geht umher und kontrolliert, ob alle etwas tun. Wo das funktioniert, ist eine
solche Klasse eine imponierende, summende Lernmaschine. Wo es nicht
funktioniert – ein Chaos.
«Selbstbestimmtes Lernen» oder «offener Unterricht» nennt sich diese
seit Jahren praktizierte, neue Unterrichtsform, in der nicht mehr der Lehrer
den Unterricht führt, sondern die Schüler den Lernstoff allein oder in Gruppen
erarbeiten. Der Lehrer ist dabei nur noch Coach, Begleiter von Lernprozessen.
Es handelt sich um eine der neuen Methoden, die eine Alternative zum
klassischen Frontalunterricht, also zum lehrerzentrierten Unterricht, sein
wollen. Ihm wird vorgeworfen, er erzeuge ein träges Wissen, das den
Anforderungen einer Welt, die sich dauernd wandle, widerspreche. Um sich in
einer Gesellschaft zurechtzufinden, in der sich Information und Wissen rapide
vermehren und verändern, müssten Schüler lernen, Handlungs- und
Anwendungskompetenzen zu entwickeln – und nicht vom Lehrer vorstrukturiertes
Sachwissen zu reproduzieren.
Das mag schlüssig klingen. Nur sind uns die Reformpädagogen bis heute
den Beweis schuldig geblieben, dass Schüler in einem offenen Unterricht besser
lernen als im Frontalunterricht. Die zurzeit vorherrschende Didaktikmode ist
denn auch weniger das Ergebnis experimenteller Arbeit als vielmehr Ausfluss von
Wunschdenken. Neuere Studien über Unterrichtsformen belegen, dass der
Frontalunterricht insgesamt bessere Schülerleistungen sichert als
selbstbestimmtes, offenes Lernen. Das erklärt sich zum einen wohl daraus, dass
frontales Unterrichten im Klassenverband eine schnelle, präzise und kompakte
Darstellung von Lerngegenständen ermöglicht, und zum andern, dass der Lehrer
unmittelbar motivierend auf die Schüler wirken kann. Dazu kommt, dass viele
«einfache» Lerninhalte, wie Benennungen, Formeln, Vokabeln usw., sich für
andere Unterrichtsformen schlichtweg nicht eignen. Und nicht zuletzt erlaubt
allein der Frontalunterricht, von ihm abweichende Lernformen einzubauen. Was
den guten Lehrer ja gerade auszeichnet.
Wer das Glück hatte, eine gute Lehrerin oder einen guten Lehrer zu
erleben, weiss, wie wichtig die Lehrerpersönlichkeit für den Lernerfolg ist. Gerade
in den letzten Jahren konnte in Studien immer wieder nachgewiesen werden, dass
für die Lernleistung weniger die Methode oder irgendwelche Technik als vielmehr
der Lehrer entscheidend ist. Mit Qualität und Aura der Lehrperson steht und
fällt jedes Unterrichtskonzept. Ja, ohne ein besonderes Charisma ist weder
durch einen Unterricht im Klassenverband noch durch andere Unterrichtsformen
etwas zu erreichen. Am Lehrer und seiner Fähigkeit, mit einer Gruppe zu
interagieren, aus einer Ansammlung von Individuen eine Lerngruppe zu schaffen,
hängt alles. Eine der wenigen pädagogischen Erkenntnisse, die nie veralten.
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