Wir leben
also, so kann man es lesen, in einem postfaktischen Zeitalter. Ungeniert können
Populisten Lügen verbreiten, ihre Anhänger wissen das und jubeln trotzdem oder
vielleicht gerade deshalb. Dem Wahrheitsfreund graut, zumal er ja, so muss man
den erschütterten Kommentaren zu «post-truth politics» entnehmen, in einer Zeit
gross geworden ist, in der Wahrheit in der Politik noch eine entscheidende
Kategorie war und sich die Wähler an den besseren und faktengetreuen Argumenten
orientierten.
Feine Fakten, NZZ, 12.10. von Konrad Paul Liessmann
Natürlich
stimmt diese in die Vergangenheit projizierte Idylle nicht. In der Politik
wurde immer schon gelogen, und immer schon haben die Anhänger dieser Politik
dies augenzwinkernd akklamiert. Die Lügen, mit denen Colin Powell, Tony Blair
und George W. Bush vor aller Weltöffentlichkeit ihre Kriegsabenteuer
schmackhaft machten, die bis heute Abertausende von Menschen das Leben kosten,
hatten keine Konsequenzen; und hat man den legendären Satz von Jean-Claude
Juncker, der sich gerne als moralische Instanz gibt, schon vergessen: «Wenn es
ernst wird, muss man lügen»? Und als es darum ging, gute Stimmung für
Flüchtlinge zu erzeugen, scheuten auch Qualitätsmedien nicht davor zurück,
jenseits der Fakten von gut ausgebildeten Frauen und jungen Ärzten zu schwärmen,
die nun ins Land kämen.
Aber
abgesehen davon: Erfreut sich eine postfaktische Attitüde gerade in
progressiven Kreisen nicht seit langem grosser Beliebtheit? Man erinnere sich
an die Attraktivität des Konstruktivismus, der Wahrheit für die Erfindung eines
Lügners hielt, oder an die Nonchalance, mit der in Genderdebatten Verweise auf
biologische Fakten ignoriert und ins rechtskonservative Eck abgeschoben werden.
Die neue Campus-Kultur, in der es von Mikroaggressionen und Trigger-Warnings
wimmelt, lebt doch davon, dass Fakten nichts, die Gefühle und Befindlichkeiten
der Betroffenen aber alles zählen. Und überhaupt: Gilt «Faktenwissen» nicht
seit langem in der modernen Pädagogik und Didaktik als entbehrlich, ja als
schädlich, da jugendliche Gehirne keinesfalls mit Wissen belastet werden
dürfen, wenn es doch um Kompetenzen und Emotionen geht? Dass man nichts mehr
wissen muss, weil die Digital Natives alles googeln können, war eine dieser
verheerenden reformpädagogischen Ideen, die nun anfangen, sich bitter zu rächen.
Allerdings:
Zwischen einer postfaktischen Politik und einer postfaktischen Wissenschaft und
ihrer Didaktik gibt es gravierende Unterschiede. Es mag sein, dass es in Zeiten
sozialer Netzwerke und ihrer Filterblasen für Politiker leichter ist zu lügen,
ohne damit Anhänger und potenzielle Wähler vor den Kopf zu stossen; aber Wahlen
in einer Demokratie waren nie Veranstaltungen zur Entscheidung von
Wahrheitsansprüchen. In der Politik geht es nicht um Wahrheits-, sondern um
Machtfragen. Anders in der Wissenschaft. Für sie ist Wahrheitsfindung die
regulative Leitidee. Verzichtet sie darauf, weil alles Konstruktion oder
Ausdruck ungerechter Verhältnisse ist, gibt sie sich als Wissenschaft auf. Wird
das Konzept wissenschaftlicher Rationalität aus ideologischen oder moralischen
Gründen ausser Kraft gesetzt, ist dies viel bedenklicher als die dreisten
Flunkereien eines Kandidaten. Dass dieser, wenn er denn stürzt, nicht über
seine Lügen, sondern über eine Wahrheit, die ausgerechnet die Wahrheitsfreunde
nicht hören wollen, stolpern wird, wäre dann allerdings eine schöne Pointe
am Rande.
am Rande.
Konrad
Paul Liessmann ist Professor für Methoden der Vermittlung von Philosophie und
Ethik an der Universität Wien.
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