13. Oktober 2016

Das postfaktische Zeitalter

Wir leben also, so kann man es lesen, in einem postfaktischen Zeitalter. Ungeniert können Populisten Lügen verbreiten, ihre Anhänger wissen das und jubeln trotzdem oder vielleicht gerade deshalb. Dem Wahrheitsfreund graut, zumal er ja, so muss man den erschütterten Kommentaren zu «post-truth politics» entnehmen, in einer Zeit gross geworden ist, in der Wahrheit in der Politik noch eine entscheidende Kategorie war und sich die Wähler an den besseren und faktengetreuen Argumenten orientierten.
Feine Fakten, NZZ, 12.10. von Konrad Paul Liessmann


Natürlich stimmt diese in die Vergangenheit projizierte Idylle nicht. In der Politik wurde immer schon gelogen, und immer schon haben die Anhänger dieser Politik dies augenzwinkernd akklamiert. Die Lügen, mit denen Colin Powell, Tony Blair und George W. Bush vor aller Weltöffentlichkeit ihre Kriegsabenteuer schmackhaft machten, die bis heute Abertausende von Menschen das Leben kosten, hatten keine Konsequenzen; und hat man den legendären Satz von Jean-Claude Juncker, der sich gerne als moralische Instanz gibt, schon vergessen: «Wenn es ernst wird, muss man lügen»? Und als es darum ging, gute Stimmung für Flüchtlinge zu erzeugen, scheuten auch Qualitätsmedien nicht davor zurück, jenseits der Fakten von gut ausgebildeten Frauen und jungen Ärzten zu schwärmen, die nun ins Land kämen.

Aber abgesehen davon: Erfreut sich eine postfaktische Attitüde gerade in progressiven Kreisen nicht seit langem grosser Beliebtheit? Man erinnere sich an die Attraktivität des Konstruktivismus, der Wahrheit für die Erfindung eines Lügners hielt, oder an die Nonchalance, mit der in Genderdebatten Verweise auf biologische Fakten ignoriert und ins rechtskonservative Eck abgeschoben werden. Die neue Campus-Kultur, in der es von Mikroaggressionen und Trigger-Warnings wimmelt, lebt doch davon, dass Fakten nichts, die Gefühle und Befindlichkeiten der Betroffenen aber alles zählen. Und überhaupt: Gilt «Faktenwissen» nicht seit langem in der modernen Pädagogik und Didaktik als entbehrlich, ja als schädlich, da jugendliche Gehirne keinesfalls mit Wissen belastet werden dürfen, wenn es doch um Kompetenzen und Emotionen geht? Dass man nichts mehr wissen muss, weil die Digital Natives alles googeln können, war eine dieser verheerenden reformpädagogischen Ideen, die nun anfangen, sich bitter zu rächen.

Allerdings: Zwischen einer postfaktischen Politik und einer postfaktischen Wissenschaft und ihrer Didaktik gibt es gravierende Unterschiede. Es mag sein, dass es in Zeiten sozialer Netzwerke und ihrer Filterblasen für Politiker leichter ist zu lügen, ohne damit Anhänger und potenzielle Wähler vor den Kopf zu stossen; aber Wahlen in einer Demokratie waren nie Veranstaltungen zur Entscheidung von Wahrheitsansprüchen. In der Politik geht es nicht um Wahrheits-, sondern um Machtfragen. Anders in der Wissenschaft. Für sie ist Wahrheitsfindung die regulative Leitidee. Verzichtet sie darauf, weil alles Konstruktion oder Ausdruck ungerechter Verhältnisse ist, gibt sie sich als Wissenschaft auf. Wird das Konzept wissenschaftlicher Rationalität aus ideologischen oder moralischen Gründen ausser Kraft gesetzt, ist dies viel bedenklicher als die dreisten Flunkereien eines Kandidaten. Dass dieser, wenn er denn stürzt, nicht über seine Lügen, sondern über eine Wahrheit, die ausgerechnet die Wahrheitsfreunde nicht hören wollen, stolpern wird, wäre dann allerdings eine schöne Pointe 
am Rande.

Konrad Paul Liessmann ist Professor für Methoden der Vermittlung von Philosophie und Ethik an der Universität Wien.


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