17. August 2016

Realschüler vergessen

Der Bund drängt die Kantone, bereits in der Primarschule Französisch zu unterrichten. Dabei übersieht er, dass in vielen Realschulen kaum Französisch gelehrt wird. Auch garantiert ein früher Beginn keinen umfassenden Unterricht.
Disziplinierung des Thurgaus im Fremdsprachenunterricht ist gescheitert, Bild: Gaetan Bally
Vom Frühfranzösisch geblendet, St. Galler Tagblatt, 3.8. von Roger Braun
Das Frühfranzösisch ist daran, die Schweiz zu spalten. Seit der Kanton Thurgau entschieden hat, dass er in der Primarschule ab 2018 kein Französisch mehr unterrichten wird, gehen die Wogen hoch. Nachdem es die Konferenz der kantonalen Erziehungsdirektoren (EDK) nicht geschafft hat, den Thurgau zu disziplinieren, greift nun der Bund ein. Im Juli hat Innenminister Alain Berset drei Reformvarianten vorgelegt. Jede zwingt den Thurgau, das Französisch in der Primarschule wieder einzuführen – genauso wie die Kantone Uri und Appenzell Innerrhoden, die den Französischunterricht auf der Primarstufe gar nie kannten. Sowohl die EDK als auch Berset sehen in der Verschiebung des Französisch auf die Oberstufe eine rote Linie überschritten. Ist das gerechtfertigt? Ein Blick auf die Praxis in den Kantonen lässt daran zweifeln.

Uri als Schlusslicht
Unsere Zeitung hat die Stundentafel aller Deutschschweizer Kantone ausgewertet, um die unterschiedliche Bedeutung des Französischunterrichts aufzuzeigen. Was wenig überrascht: Je näher ein Kanton an der Romandie ist, desto mehr Französisch wird gelehrt. Gemessen an der Zahl der Wochenstunden schwingen die zweisprachigen Kantone Bern, Freiburg und Wallis sowie die Kantone in unmittelbarer Nähe zum französischen Sprachgebiet wie die beiden Basel oder Solothurn obenaus.

Am unteren Ende der Tabelle stehen Kantone der Zentralschweiz, der Aargau, Innerrhoden und St. Gallen. Ein Spezialfall ist Graubünden, wo ein Schüler seine obligatorische Schulzeit ohne eine einzige Stunde Französisch durchlaufen kann, der Italienischunterricht allerdings einen hohen Stellenwert hat. Der Kanton Uri kann dies nur beschränkt für sich in Anspruch nehmen. Zwar wird bereits in der Primarschule Italienisch als Wahlpflichtfach angeboten, doch obligatorisch ist es nicht, das Fach wird in der Oberstufe gar zum reinen Wahlfach.

Die Realschüler vergessen
Doch diese Zahlen erzählen nur einen Teil der Geschichte. Nämlich jene des besseren Teils der Oberstufe, der Sekundarschüler. Kaum Erwähnung findet die Realschule für schlechtere Schüler. Hier hat sich in den letzten Jahren Bemerkenswertes getan. Mit dem Aufkommen des Englischen hat sich das Französisch immer mehr zurückgezogen – ohne dass dies in der Öffentlichkeit diskutiert worden wäre. Beispiel St. Gallen: Für die Realschüler ist nach dem 7. Schuljahr bereits Schluss mit Französisch. Das heisst, Realschüler müssen mit insgesamt acht Wochenlektionen Französisch auskommen. Noch extremer der Kanton Aargau: Hier müssen einem Realschüler insgesamt vier Wochenstunden Französisch ausreichen, um die Sprache Voltaires zu erlernen. Auch in Appenzell-Innerrhoden ist Französisch bestenfalls Wahlfach für schwächere Schüler der Oberstufe. In weiteren Kantonen sinkt Französisch in der Realschule zum Wahlpflichtfach ab. In manchen Kantonen können sich die Schüler in begründeten Fällen mit Unterschrift der Eltern auch vom Französischunterricht dispensieren lassen.

Der gesetzliche Auftrag an die Kantone ist klar: Bis zum Ende der obligatorischen Schulzeit müssen Schüler über Kompetenzen in einer zweiten Landessprache und einer weiteren Fremdsprache verfügen. Gerade in der Realschule scheinen sich die Kantone von diesem Ziel verabschiedet zu haben.

Augen zu und durch bei der EDK
Christoph Eymann ist Präsident der kantonalen Erziehungsdirektoren. Er sagt: «Das ist ganz sicher nicht die Idee.» Das Ziel gelte für alle. «Genauso wie die Sekundarschüler sollten auch die Realschüler am Ende der obligatorischen Schulzeit die französische Sprache beherrschen, denn für viele Berufe ist die zweite Landessprache sehr wichtig.» Dass es damit viele Kantone nicht so genau nehmen, bedauert er. «Aber wir haben derzeit keine Handhabe dagegen. Die Ausgestaltung des Französischunterrichtes in der Realschule war kein Thema bei der Harmonisierung.» 2004 war es den Kantonen gelungen, sich zu einem Sprachenkompromiss durchzuringen. Demnach sollen in der Primarschule zwei Fremdsprachen gelehrt werden, wovon eine eine Landessprache sein muss. Wie viele Stunden unterrichtet werden – und inwiefern die Realschule und die Sekundarschule anders behandelt werden –, ist kein Thema in der Übereinkunft.

Prügelknabe Thurgau
Macht es Sinn, sich einseitig auf den Zeitpunkt des Spracherwerbs zu fixieren? Wäre es nicht besser, die Zahl der Wochenstunden – unter Berücksichtigung der Realschule – heranzuziehen, um die Qualität des Französischunterrichts zu beurteilen? Diese Frage ist von politischer Relevanz. Der Kanton Thurgau zum Beispiel fällt mit seinen 14 Wochenstunden Französisch nicht aus dem Rahmen – umso mehr als diese auch für Realschüler verbindlich sind.

Christoph Eymann räumt ein, dass ein differenzierter Ansatz mit Wochenstunden und unter Einbezug der Realschule sinnvoll wäre, doch er sagt auch: «Wir sind derzeit nicht in der Phase, neue Regeln zu definieren.» Eine neue Einigung mit verfeinerten Kriterien hält er für unrealistisch, «es ist schon genug schwierig, den beschlossenen Sprachenkompromiss durchzusetzen». Die EDK konzentriert sich demnach darauf, dass bereits in der Primarschule eine zweite Landessprache gelernt wird. Dieselbe Stossrichtung verfolgt der Bund. Letzten Monat hat der Bundesrat eine Gesetzesanpassung in die Vernehmlassung gegeben, die genau das vorsieht.

Auf den Umstand, dass heute in vielen Realschulen kaum Französisch gelehrt wird und die Zahl der Wochenstunden nur bedingt mit einem frühen Französischunterricht zusammenhängen, mochte der Bund nicht detailliert eingehen.


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