20. August 2016

Es braucht guten Frontalunterricht

Immer öfter orientieren einzelne Schulbehörden und Schulen die Eltern, dass sie die Schüler mit selbstgesteuertem Lernen zu einer grösseren Selbständigkeit führen und damit besser auf das lebenslange Lernen vorbereiten wollen. Gelingen kann dies ihrer Meinung nach nur, wenn die Lehrpersonen ihre Aufgabe neu verstehen: Aus «Belehrenden» sollen «Lernberater» oder «Lerncoaches» werden. Dies macht auch Veränderungen im Umfeld der Schule nötig. Die Schulhäuser sind mit mehr Gruppenräumen und Arbeitsecken auszugestalten, moderne Medien müssen bereitgestellt werden und auf das selbständige Lernen ausgerichtete Lehrmittel entwickelt werden. All dies führt vielerorts zu Kontroversen bei Eltern wie auch Lehrpersonen. Was ist davon zu halten?
Vielgestaltigkeit ist gefragt, NZZ, 19.8. von Rolf Dubs

Es braucht guten Frontalunterricht
Ein guter Frontalunterricht beruht auf einem das Verstehen fördernden Dialog zwischen der Lehrperson und den Lernenden, in welchem nicht primär Fakten gelehrt werden, sondern dialogisch Lernprozesse (z. B. Sachverhalte analysieren, Probleme lösen, neue Ideen finden, Wertvorstellungen beurteilen) erarbeitet und anwendbar gemacht werden sowie Wissensstrukturen (Vernetzung von Wissenselementen) aufgebaut werden. Ein so verstandener Frontalunterricht ist weiterhin bedeutsam, es darf darauf nicht dogmatisch verzichtet werden. Zwar genügt ein noch so guter Frontalunterricht für die Vorbereitung des selbständigen Lernens und als Grundlage für das lebenslange Lernen für sich allein nicht mehr, dass aber umgekehrt Formen des selbständigen Lernens für sich allein bessere Lernerfolge bringen als ein guter Frontalunterricht, ist eindeutig widerlegt. Selbständiges Lernen gelingt nur, wenn es zuvor systematisch angeleitet wird. Und dazu braucht es – vor allem angesichts der knappen Unterrichtszeiten – auch weiterhin einen guten Frontalunterricht, in welchem das fachbezogene Strukturwissen und die darauf ausgerichteten Strategien (Arbeitstechniken, Lern- und Denkstrategien, affektive und emotionale Strategien) im Dialog erarbeitet und in verschiedenen Situationen angewendet werden. Zu beachten ist dabei, dass es nur wenige fächerübergreifende Strategien gibt. Der Fachunterricht bleibt deshalb weiterhin eine unabdingbare Voraussetzung für ein später erfolgreiches selbständiges Lernen.
Die Kontroverse über «belehrenden Unterricht» contra «selbständiges Lernen» ist also sinnlos. Guter Unterricht beruht auf einer gezielten Kombination von beidem, indem jeweils die Grundlegung eines Lerngebietes (Wissensstrukturen und Strategien) im Interesse eines bleibenden Lernerfolges zunächst angeleitet im Frontalunterricht entwickelt werden sollte und erst im fortschreitenden Unterricht zum selbständigen Lernen übergegangen wird, also erst dann, wenn die Schülerinnen und Schüler über das Vorwissen und die nötigen Lernprozesse verfügen.
Wann in den einzelnen Lerngebieten vom Frontalunterricht zum selbständigen Lernen übergegangen werden soll, hängt vom Lernstand einer Klasse ab, der von der Lehrperson immer wieder zu beurteilen ist. Aus Untersuchungen sind für den Schulalltag zwei Entscheidungskriterien massgeblich: Verfügt erstens eine Klasse in einem bestimmten Lerngebiet über ein gutes strukturiertes Wissen und kann sie Strategien einsetzen, so soll der Wechsel vom Frontalunterricht zum selbständigen Lernen möglichst rasch erfolgen. Lernstarke Klassen profitieren nach einer kürzeren Phase des Frontalunterrichtes vom selbständigen Lernen mehr als lernschwache Klassen. Ob dies auch für den selbständigen computergestützten Unterricht zutrifft, ist immer noch nicht abschliessend geklärt. Zweitens spielt für den Entscheid des Überganges auch die soziale Herkunft der Schüler eine Rolle. Solche aus einem bildungsreichen Milieu finden sich im selbstgesteuerten Lernen rascher und besser zurecht als solche aus einem bildungsarmen Milieu.

Dogmatische Ansätze meiden
Das hier vertretene Konzept der Kombination von Belehrung und Lernberatung wird oft mit der Begründung verworfen, angesichts der abnehmenden Halbwertszeit des Wissens (in etwa vier Jahren ist die Hälfte des heutigen Wissens bedeutungslos geworden) und der elektronischen Informationssysteme werde dem Wissen in der Schule zu viel Bedeutung geschenkt. Entscheidend seien die grundlegenden Lernprozesse (Strategien). Deshalb sollen sich Lehrpläne und Unterricht auf allgemeingültige Strategien (oder bereichsübergreifende Kompetenzen) konzentrieren. Diese Auffassung ist aus zwei Gründen nicht richtig: Erstens gibt es bei der Entwicklung von Strategien kein Lernen ohne Wissen. Wer nichts weiss, kann weder Probleme lösen noch intellektuell kreative Ideen entwickeln. Und zweitens dienen die Dialoge im Frontalunterricht nicht mehr einer «Stoffhuberei» (Vortragen vieler Fakten), sondern es wird gezielt Wissen erarbeitet, das v. a. benötigt wird, um die Strategien anwenden zu können.

Die teilweise einseitige Überbetonung des selbständigen Lernens im Vergleich zum Frontalunterricht ist ein Beispiel für die üblichen Pendelschläge in der Pädagogik. Statt Einseitigkeiten sollte die Vielgestaltigkeit die Schule und ihren Unterricht charakterisieren, dogmatische Ansätze müssen vermieden werden. Mit ihnen allein lässt sich die Schule nicht grundlegend verbessern.

Rolf Dubs war von 1969 bis zu seiner Emeritierung im Jahr 2000 Professor für Wirtschaftspädagogik an der Universität St. Gallen.


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