Immer öfter orientieren
einzelne Schulbehörden und Schulen die Eltern, dass sie die Schüler mit
selbstgesteuertem Lernen zu einer grösseren Selbständigkeit führen und damit
besser auf das lebenslange Lernen vorbereiten wollen. Gelingen kann dies ihrer
Meinung nach nur, wenn die Lehrpersonen ihre Aufgabe neu verstehen: Aus
«Belehrenden» sollen «Lernberater» oder «Lerncoaches» werden. Dies macht auch
Veränderungen im Umfeld der Schule nötig. Die Schulhäuser sind mit mehr
Gruppenräumen und Arbeitsecken auszugestalten, moderne Medien müssen bereitgestellt
werden und auf das
selbständige Lernen ausgerichtete Lehrmittel entwickelt werden. All dies führt
vielerorts zu Kontroversen bei Eltern wie auch Lehrpersonen. Was ist davon zu
halten?
Vielgestaltigkeit ist gefragt, NZZ, 19.8. von Rolf Dubs
Es braucht guten
Frontalunterricht
Ein guter
Frontalunterricht beruht auf einem das Verstehen fördernden Dialog zwischen der
Lehrperson und den Lernenden, in welchem nicht primär Fakten gelehrt werden,
sondern dialogisch Lernprozesse (z. B. Sachverhalte analysieren, Probleme
lösen, neue Ideen finden, Wertvorstellungen beurteilen) erarbeitet und
anwendbar gemacht werden sowie Wissensstrukturen (Vernetzung von
Wissenselementen) aufgebaut werden. Ein so verstandener Frontalunterricht ist
weiterhin bedeutsam, es darf darauf nicht dogmatisch verzichtet werden. Zwar
genügt ein noch so guter Frontalunterricht für die Vorbereitung des
selbständigen Lernens und als Grundlage für das lebenslange Lernen für sich
allein nicht mehr, dass aber umgekehrt Formen des selbständigen Lernens für
sich allein bessere Lernerfolge bringen als ein guter Frontalunterricht, ist
eindeutig widerlegt. Selbständiges Lernen gelingt nur, wenn es zuvor
systematisch angeleitet wird. Und dazu braucht es – vor allem angesichts der
knappen Unterrichtszeiten – auch weiterhin einen guten Frontalunterricht, in
welchem das fachbezogene Strukturwissen und die darauf ausgerichteten
Strategien (Arbeitstechniken, Lern- und Denkstrategien, affektive und
emotionale Strategien) im Dialog erarbeitet und in verschiedenen Situationen
angewendet werden. Zu beachten ist dabei, dass es nur wenige
fächerübergreifende Strategien gibt. Der Fachunterricht bleibt deshalb
weiterhin eine unabdingbare Voraussetzung für ein später erfolgreiches
selbständiges Lernen.
Die Kontroverse über
«belehrenden Unterricht» contra «selbständiges Lernen» ist also sinnlos. Guter
Unterricht beruht auf einer gezielten Kombination von beidem, indem jeweils die
Grundlegung eines Lerngebietes (Wissensstrukturen und Strategien) im Interesse
eines bleibenden Lernerfolges zunächst angeleitet im Frontalunterricht
entwickelt werden sollte und erst im fortschreitenden Unterricht zum
selbständigen Lernen übergegangen wird, also erst dann, wenn die Schülerinnen
und Schüler über das Vorwissen und die nötigen Lernprozesse verfügen.
Wann in den einzelnen
Lerngebieten vom Frontalunterricht zum selbständigen Lernen übergegangen werden
soll, hängt vom Lernstand einer Klasse ab, der von der Lehrperson immer wieder
zu beurteilen ist. Aus Untersuchungen sind für den Schulalltag zwei
Entscheidungskriterien massgeblich: Verfügt erstens eine Klasse in einem
bestimmten Lerngebiet über ein gutes strukturiertes Wissen und kann sie
Strategien einsetzen, so soll der Wechsel vom Frontalunterricht zum
selbständigen Lernen möglichst rasch erfolgen. Lernstarke Klassen profitieren
nach einer kürzeren Phase des Frontalunterrichtes vom selbständigen Lernen mehr
als lernschwache Klassen. Ob dies auch für den selbständigen computergestützten
Unterricht zutrifft, ist immer noch nicht abschliessend geklärt. Zweitens
spielt für den Entscheid des Überganges auch die soziale Herkunft der Schüler
eine Rolle. Solche aus einem bildungsreichen Milieu finden sich im
selbstgesteuerten Lernen rascher und besser zurecht als solche aus einem
bildungsarmen Milieu.
Dogmatische Ansätze meiden
Das hier vertretene Konzept der Kombination von Belehrung und
Lernberatung wird oft mit der Begründung verworfen, angesichts der abnehmenden
Halbwertszeit des Wissens (in etwa vier Jahren ist die Hälfte des heutigen
Wissens bedeutungslos geworden) und der elektronischen Informationssysteme
werde dem Wissen in der Schule zu viel Bedeutung geschenkt. Entscheidend seien
die grundlegenden Lernprozesse (Strategien). Deshalb sollen sich Lehrpläne und
Unterricht auf allgemeingültige Strategien (oder bereichsübergreifende Kompetenzen)
konzentrieren. Diese Auffassung ist aus zwei Gründen nicht richtig: Erstens
gibt es bei der Entwicklung von Strategien kein Lernen ohne Wissen. Wer nichts
weiss, kann weder Probleme lösen noch intellektuell kreative Ideen entwickeln.
Und zweitens dienen die Dialoge im Frontalunterricht nicht mehr einer
«Stoffhuberei» (Vortragen vieler Fakten), sondern es wird gezielt Wissen
erarbeitet, das v. a. benötigt wird, um die Strategien anwenden zu können.
Die teilweise einseitige Überbetonung des selbständigen Lernens
im Vergleich zum Frontalunterricht ist ein Beispiel für die üblichen
Pendelschläge in der Pädagogik. Statt Einseitigkeiten sollte die
Vielgestaltigkeit die Schule und ihren Unterricht charakterisieren, dogmatische
Ansätze müssen vermieden werden. Mit ihnen allein lässt sich die Schule nicht
grundlegend verbessern.
Rolf Dubs war von 1969 bis zu
seiner Emeritierung im Jahr 2000 Professor für Wirtschaftspädagogik an der
Universität St. Gallen.
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